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5. Vermischte Identitäten

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„Ich finde, wir sollten den beiden Namen geben“, meinte Theo munter, während sie gemütlich über die Landstraße fuhren.

„Du meinst, dem Mädchen und dem alten Mann, dem Holzfäller.“

Theo lächelte.

„Alles braucht einen Namen. Den Schatten allerdings möchte ich nicht unbedingt personalisieren.“

„Ich halte ihn zwar durchaus für ein Wesen, ein furchtbares Wesen sogar, aber keinen Namen, der zu ihm passt, würde ich gern in den Mund nehmen.“

Theo sah Cornelia verwundert an.

„Das hört sich fast schon religiös an“, meinte er.

„Das bin ich nach wie vor nicht, aber in diesem Fall muss das Schreckliche nicht unbedingt einen Namen haben. Hast du dir schon etwas überlegt?“

„Wie wäre es mit Samantha und Holzmichel?“

Cornelia schüttelte ihren Kopf, und in ihrem Gesicht zeigte sich eine gewisse Verzweiflung.

„So ein Quatsch. Das sind die dämlichsten Namen, die dir einfallen konnten.“

Theo lachte.

„Weiß ich. Es war ja auch nur ein Versuch.“

„Ein ziemlich verunglückter. Trotzdem, der Vorschlag mit den Namen war nicht schlecht. Wie wäre es mit Eleonore und Gustav?“

„Die finde ich auch nicht besser.“

„Ich aber“, sagte Cornelia. „Eleonore passt zu einem Mädchen mit einem etwas antiquierten weißen Kleid, und Gustav passt zu einem genauso wenig zeitgemäßen Holzfäller.“

„Jetzt bin ich wieder dran“, meinte Theo.

„Schieß los“, forderte Cornelia ihn erwartungsvoll auf.

Es dauerte eine Weile, bis Theo etwas einfiel, dann schlug er die Namen Isabell und Ulrich vor. Mit denen war Cornelia aber auch nicht einverstanden.

So ging es noch einige Zeit hin und her. Manche Vorschläge waren ernster gemeint, andere weniger ernst. Man konnte fast meinen, Theo und Cornelia versuchten Namen für ihre eigenen Kinder, an die zu diesem Zeitpunkt noch keiner von den beiden ernsthaft dachte, zu finden. Es war bemerkenswert, in welcher gelösten Stimmung sie ihr Namensspiel vor einem eigentlich erschreckenden, ja, bedrohlichen Hintergrund betrieben. Und schließlich einigten sie sich auf Hannah und Johannes. Beide waren ein wenig altmodisch, passten aber nach Cornelias Meinung ganz gut zu deren Erscheinung, und irgendwie klangen sie wie die Namen von Vater und Tochter, fand sie. Allerdings musste Theo der Beschreibung von Cornelia glauben, denn gesehen hatte er weder die eine noch den anderen. Und die vagen Nebel, die ihm an ihrer Stelle aufgefallen waren, ließen keinerlei Rückschlüsse auf ihr wirkliches Aussehen zu.

Während sie sich die Namensvorschläge gegenseitig zuwarfen, wuchs in ihnen aber die Erkenntnis, dass sowohl das Mädchen, später also Hannah genannt, als auch der alte Mann, dem sie dann den Namen Johannes gaben, ihrer Erscheinung nach, wie sie Cornelia beschrieb, nicht recht in die heutige Zeit passten. Es war eher ein Gefühl als eine begründete Einsicht, aber Cornelia und Theo teilten es gleichermaßen.

„Man könnte meinen, dass irgendein Ereignis aus der Vergangenheit in unser Leben getreten ist“, meinte Theo poetisch. „Ein Ereignis voller Rätsel, die gelöst werden wollen.“

„Ein historisches Ereignis, meinst du. Eines, in dem ein Mädchen namens Hannah, ein Holzfäller namens Johannes und ein böser dunkler Schatten eine Rolle spielten. Und wir jetzt auch. Den Umständen nach ein Drama oder eine Tragödie mit guten und bösen Charakteren. Und zumindest wir sind die Guten.“

Cornelia hatte keine Vorstellung, in welche Tragödie sie tatsächlich geraten waren.

„Das ist doch klar“, meinte Theo – und zögerte. „Was soll das, nimmst du mich nicht ernst?“

Cornelia lächelte.

„Oh doch. Aber ich bin schon vor einiger Zeit zu dieser Erkenntnis gekommen. Ich wollte nur nicht darüber sprechen, weil ich fürchtete, du würdest dich darüber lustig machen“, erklärte sie.

„Bis gestern hätte ich es wohl noch getan, aber an ein Zusammentreffen von verschiedenen Zufällen dieser Art glaube ich inzwischen auch nicht mehr so recht, obwohl mir alles immer noch sehr fantastisch vorkommt.“

„Ich bin froh, dass du deine Skepsis allmählich überwindest, obwohl ich sie sogar verstehen kann“, sagte Cornelia. „Geister passten bisher nicht in unser Weltbild. Aber wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen, auch wenn es in diesem Fall besonders schwerfällt.“

„Sehr“, gab Theo zu. „Setze aber keine allzu großen Hoffnungen in meine Einsicht. Im Augenblick bin ich nur dazu bereit, eine solche Möglichkeit nicht mehr von vornherein von der Hand zu weisen, aber ich kann dir versprechen, dass ich mich in dieser – Geistergeschichte – über nichts mehr lustig machen werde.“

„Das ist schon mehr, als ich vor ein paar Tagen noch zu hoffen wagte.“

Dass Theo die Ereignisse, in die sie geraten waren, als Geistergeschichte bezeichnete, hatte keinen tieferen Sinn, obwohl ihm inzwischen dämmerte, dass sie es wohl doch nicht mit einer Reihe alltäglicher Vorkommnisse zu tun hatten. Bemerkenswert jedoch war die Tatsache, mit welchem Gleichmut sie die Aussicht in Betracht zogen, es möglicherweise mit echten Geistererscheinungen zu tun zu haben. Zumindest war Cornelia davon restlos überzeugt. Aber es war ihr immer noch ein Rätsel, warum gerade sie plötzlich Geister sehen konnte, Theo dagegen nicht. Nach allem mussten sie jederzeit damit rechnen, dass die Erscheinungen von Johannes und Hannah wieder in ihrer Nähe auftauchten. Und vielleicht kamen bald noch weitere Geister hinzu, wer wusste das schon? Über diese Aussicht jedoch war sie keineswegs erfreut.

Während Cornelia also darauf hoffte, den Grund dafür herauszufinden, was die Geister von ihnen wollten, hatte Theo seinen Vorschlag nur gemacht, um zu beweisen, dass es für die Vorfälle eine rationale Erklärung gab, denn so restlos, wie Cornelia inzwischen von der Existenz der Geister überzeugt war, so wenig waren seine Zweifel beseitigt. Er war gespannt, wer von ihnen am Ende Recht behalten würde.

Kurz vor sechs Uhr abends erreichten sie ihr Blockhaus. Es sah nicht anders aus als an dem Tag, als Cornelia es fluchtartig verlassen hatte, aber mit etwas anderem hatten sie auch nicht gerechnet. Und es hatte auch niemand ihren Garten in Ordnung gebracht.

„Willst du heute noch etwas unternehmen?“, fragte Cornelia.

Theo schüttelte den Kopf.

„Nein, ich glaube nicht. Wie weit ist es überhaupt bis zu dem Stein?“

„Etwa eine Stunde.“

„Ah, nein, das ist zu weit. Lass uns lieber den schönen Abend im Garten verbringen. Und vielleicht bekommen wir heute Nacht ja wieder Besuch.“

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“

„Warum denn nicht? Hast du Angst?“

„Angst? Vor Hannah und Johannes eigentlich nicht. Aber die Begleitumstände ihres Auftauchens sind mir immer noch nicht geheuer. Vor diesem Schatten habe ich aber Angst.“

„Das verstehe ich, nach allem, was du mir über ihn erzählt hast. Aber bisher ist doch niemals etwas anderes passiert, als dass dir ein Schauer über den Rücken gelaufen ist.“

„Wenn es nur ein Schauer gewesen wäre“, sagte Cornelia. „Und viel Erfahrung habe ich in solchen Dingen auch nicht. Vielleicht wird es noch schlimmer.“

„Ich hoffe nicht. Aber vielleicht schaffen Hannah und Johannes es beim nächsten Mal ja, uns eine verständliche Botschaft zu übermitteln. Wenn Johannes dabei ist, scheint er den Schatten doch fernzuhalten.“

„Bisher war es so, das stimmt. Ich würde aber nicht wetten, dass es immer so sein wird.“

„Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir auf weitere Begegnungen mit ihnen angewiesen sind, wenn wir etwas herausfinden wollen, oder?“

„Ich weiß nicht, vielleicht gibt es ja auch noch andere, weniger erschreckende Möglichkeiten“, meinte Cornelia. „Aber vor diesem Schatten habe ich wirklich Angst.“

Diese Angst konnte Theo ihr auch nicht nehmen. Und jetzt wurde offensichtlich, dass ihre, besonders Cornelias, Befangenheit zugenommen hatte, seit sie ihr Wochenendhaus in Weidlingen erreicht hatten.

Es war Anfang Juli und in der zweiten Wochenhälfte hatte sich das Wetter wieder so entwickelt, wie man es sich im Sommer wünscht. Dieser Freitagabend war sehr warm, und es würde lange hell bleiben. Theo und Cornelia hatten sich alles, was sie für einen gemütlichen Grillabend brauchten, von zu Hause mitgebracht, und so duftete bald nach ihrer Ankunft das Fleisch auf dem Bratrost.

Bis dahin hatten sie nur wenig Kontakt zu anderen Weidlingern gehabt, und der hatte noch nicht dafür ausgereicht, um engere Bekanntschaften zu schließen. Die beiden hätten nichts dagegen gehabt, aber die Möglichkeiten dafür waren ziemlich begrenzt. Ihr Grundstück mit dem Wochenendhaus lag ein wenig außerhalb des kleinen Ortes, und sie hatten keine unmittelbaren Nachbarn. Auch sonst bot das Dorf nur wenige Gelegenheiten, um anderen zu begegnen. Es gab weder ein Lebensmittelgeschäft noch ein Wirtshaus. Allerdings hatten weder Cornelia noch Theo einen besonderen Hang zu Kneipen, es sei denn, es gab einen gemütlichen Biergarten, in dem man laue Sommerabende genießen konnte.

Trotzdem fühlten sie sich keineswegs einsam in Weidlingen, und nicht zuletzt wegen der abgeschiedenen Lage hatten sie sich für dieses Blockhaus entschieden. Es war die einzige Liegenschaft dieser Art in dem Ort, und dass sie darauf aufmerksam wurden, war eher einem Zufall zu verdanken gewesen. Sie hatten zwar schon seit einer ganzen Weile vor, sich ein Wochenendhaus auf dem Land zuzulegen, aber zu jenem Zeitpunkt, als ihnen Weidlingen bekannt wurde, waren ihre Pläne noch nicht viel weiter gediehen, als bis zu dieser Absicht, und ihre Arbeit ließ ihnen damals nur wenig Zeit, sie in die Tat umzusetzen. Schließlich erfuhren sie durch Cornelias Bruder, der in Mellendorf wohnte, davon, dass sich einer seiner Arbeitskollegen von einem größeren Grundstück mit einem Blockhaus darauf trennen wollte. Es war das Grundstück in Weidlingen, und bis dahin hatten die beiden von diesem Nest in der Wedemark so gut wie nichts gehört. Nicht einmal in irgendeinem Zeitungsartikel, der ihnen bekannt war, war der Name Weidlingen aufgetaucht.

Als sie es im Herbst des vergangenen Jahres besichtigten, bestätigte sich der Hinweis des Arbeitskollegen von Cornelias Bruder, der an diesem Termin aus beruflichen Gründen nicht teilnehmen konnte, dass er schon längere Zeit nicht mehr dort gewesen war. Das Grundstück war in einem abenteuerlichen Zustand und die Blockhütte bedurfte dringend einer umfangreichen Renovierung. Trotzdem übte das Anwesen einen gewissen Charme aus, auf Cornelia mehr, auf Theo, der sich ein wenig auf handwerkliche Arbeiten verstand, weniger. Am Ende gewann Cornelias Begeisterung die Oberhand über Theos Vorbehalte. Auch die Tatsache der verhältnismäßig geringen Entfernung nach Hannover spielte schließlich eine nicht unbedeutende Rolle bei ihrer Entscheidung für die Immobilie.

Über den Preis, der dem Zustand des Anwesens durchaus entsprach, wurden sie sich mit dem Eigentümer schnell einig. Beide hegten die Vermutung, dass nicht allein die wenige Zeit, die er dort verbringen konnte, für den Verkauf ausschlaggebend war, sondern er noch andere Gründe hatte, das Grundstück loszuwerden. Aber das konnte Theo und Cornelia nicht nur egal, sondern sogar sehr recht sein.

Als dann die Tage kürzer wurden und das Wetter aufs Gemüt drückte, schlug die Zustimmung Cornelias zu dem Erwerb ins Gegenteil um, während Theo fand, dass doch nicht alles so schlecht war, wie er befürchtet hatte. Den Garten vernachlässigten auch sie zunächst aus verständlichen Gründen, denn in der wenigen Zeit, die ihnen ihre Berufe ließen, mussten sie zuerst die Blockhütte bewohnbar machen. Dabei schwand die Zuneigung Cornelias zu dem Anwesen in dem Maße, wie Theo es erwartet hatte. Aber bis zum Frühjahr, als sie die Renovierungsarbeiten abschließen konnten, fühlte sie sich dort endlich so wohl, wie sie es erhofft hatte.

Ihre Bereitschaft, sich auch dem Grundstück anzunehmen, blieb so lange unterentwickelt, wie sie sich von den Innenarbeiten noch nicht erholt hatten, und bis zum Sommer dieses Jahres war es nur so weit der Fall gewesen, dass sie ausreichend Platz für ihre Autos geschaffen und die Terrasse für die Gartenmöbel hergerichtet hatten. Es gab bis dahin auch keine Pläne, wie es in dieser Hinsicht weitergehen sollte, denn keiner von den beiden störte sich an dem »wildromantischen« Zustand des Gartens, wie sie es beschönigend nannten.

Theo ging einen engen, halb zugewachsenen Waldweg, einem Wildwechsel ähnlicher als einem richtigen Weg, entlang. Es war ein feuchtkalter Aprilmorgen und starke Windböen trieben immer wieder Schneeregenschauer über das Land. Er war früh von zu Hause aufgebrochen und die Morgendämmerung war noch nicht ganz vorüber. Über seine Schulter hatte er eine bereits ziemlich mitgenommene Wildledertasche geworfen, von der er wusste, dass sie ein kärgliches Mittagessen, bestehend aus zwei Stücken hartes Brot und einer dicken Scheibe Speck, sowie neben einer Flasche Wasser und einem Messer noch ein paar andere Dinge enthielt, die er bei seiner Arbeit benötigte. Darüber, wie armselig seine Mahlzeit war, verschwendete er keinen Gedanken, er war an nichts anderes gewöhnt, war es doch seine tägliche Ration, wenn er seinem Broterwerb nachging.

In seinen Händen trug er eine große Axt und eine Säge, die er für sein Vorhaben benötigte. Er kam nicht allein. In seiner Begleitung waren noch zwei andere Holzfäller, ähnlich bepackt wie er. Ihre Namen waren Hans Güldner und Jost Fellgerber. Sie waren eine Gruppe von Holzfällern, die sich als Tagelöhner ihr Brot verdienten. An diesem Tag sollten sie im Auftrag der Vogtei eine Schonung am Brelinger Berg durchforsten, die ein ganzes Stück von ihrem Dorf Wiedling entfernt war, deshalb hatten die Drei früher als sonst ihre Heime verlassen.

Theo schlug den Kragen seiner Jacke höher, als der Schneeregen wieder einmal zunahm. Er fröstelte. Seine Kleidung war schon klamm, und wenn es so weiterging, würde sie bis zum Vormittag durchnässt sein. Aber das störte ihn nicht. Er war das Arbeiten im Wald zu jeder Jahreszeit gewöhnt und so ungemütlich dieser Tag auch war, machte ihm das Wetter doch nichts aus. Er hatte schon schlimmere Tage erlebt, im Winter bei klirrender Kälte. Dabei hatte er sich schon einige Male Erfrierungen geholt. Bisher war er aber davon verschont geblieben, dass ihm Zehen oder Finger von einem Arzt abgenommen werden mussten. Was ihm an diesem Tag bei dem feuchtkalten Wetter dagegen mehr zu schaffen machte, das war sein Bein. Er hatte es sich als Kind gebrochen, und es war nie wieder richtig zusammengeheilt. Seither humpelte er. Schlimmer aber war die Wetterfühligkeit, unter der er seitdem litt. Und an diesem Tag waren die Schmerzen besonders stark. Er war froh, dass seine Frau ihm an diesem Morgen noch das rote Halstuch mitgegeben hatte. Es bot einen guten Schutz vor dem kalten Wind und verhinderte, dass ihm Regentropfen in den Nacken fielen. Theo lebte mit seiner Frau und seinen bis dahin drei Kindern in ärmlichen Verhältnissen. Sie besaßen immerhin ein kleines Haus mit wenigen Räumen, aber nur die Küche konnte mithilfe einer einfachen Kochstelle notdürftig beheizt werden. Trotzdem war es mehr, als viele andere zu dieser Zeit hatten.

Theo war auch keineswegs unglücklich. Seine Familie war zwar arm, brauchte aber keinen Hunger zu leiden, denn neben seiner Arbeit hielten sie ein paar Tiere: Geflügel, Ziegen und Schweine, außerdem besaßen sie einen kleinen Garten und der herbstliche Wald bot einige Möglichkeiten, den Brotschrank aufzufüllen. In guten Jahren, wenn er mehr Tiere aufziehen konnte, als sie selbst brauchten, konnte Theo auch schon einmal ein Schwein oder eine Ziege auf dem Markt in Brelingen verkaufen. Doch das letzte Jahr war nicht gut verlaufen, er hatte einige Tiere verloren und so hatten sie gerade genug für sich selbst.

An all diese Dinge dachte er an diesem Morgen jedoch nicht. Er befand sich in einer seltenen Hochstimmung. An diesem Tag sollte sein viertes Kind geboren werden. Vielleicht war es bereits auf der Welt, wenn er am Abend wieder nach Hause kam. Dass er aus diesem Grund jedoch bei seiner Frau blieb, war undenkbar. Keinem Mann in seiner Zeit wäre das eingefallen. Was hätte er dort auch tun sollen? Kinder zur Welt bringen war Sache von Weibern, und er wusste seine Frau in den guten Händen einer Hebamme und von drei Frauen aus der Nachbarschaft. Das hielt ihn aber nicht davon ab, von einer erwartungsvollen Freude erfüllt zu sein.

Im Laufe des Vormittags befiel ihn jedoch das dumpfe Gefühl, dass irgendetwas mit ihm nicht so war, wie es sein sollte. Die drei Holzfäller hatten wie üblich nicht viel gesprochen. Den weitaus größten Teil seiner Unterhaltung hatte er mit sich selbst geführt. Auch das war nichts Ungewöhnliches. Irgendwann aber war ihm aufgefallen, dass sie untereinander in einer niederdeutschen Mundart sprachen, die ihm merkwürdig fremd vorkam, und er gelangte immer mehr zu der Einsicht, dass es nicht die Sprache war, die er sonst verwendete. Das rief in ihm das verwirrende Gefühl hervor, sich in einer Art Traum zu befinden.

Obwohl Theo alles um sich herum klar erkannte, die klamme Kleidung auf seiner Haut spürte und auch den Schmerz seines Beines oder wenn er sich bei der Arbeit eine Verletzung zufügte, überkam ihn von Zeit zu Zeit das verstörende Gefühl, nicht dorthin zu gehören, wo er sich befand, seiner Umgebung auf seltsame Weise entrückt. Es war ein ungemein klarer Traum, und wenn er nicht darüber nachdachte, verließ ihn diese Verwirrung wieder, um bei der nächsten Gelegenheit zurückzukehren.

Er hieß Theo, daran gab es keinen Zweifel, eigentlich Theophemus, aber alle nannten ihn Theo, und er war Holzfäller. Aber es befremdete ihn, wenn die anderen beiden ihn mit Heinrich anredeten. In diesen Augenblicken überfielen ihn erneut nicht nur die unerklärliche Verwirrung und der Eindruck, in einen Tagtraum eingetaucht zu sein. Es überkam ihn auch die beunruhigende Gewissheit, tatsächlich Heinrich zu heißen. Aber warum schlich sich immer wieder dieser Theo in sein Denken? Wer war das überhaupt? Es war, als würde Heinrich aus zwei Identitäten bestehen, von denen einmal die eine, dann die andere die Oberhand gewann. Auch wenn er den Ausdruck noch nie gehört hatte, so wusste der Theo in ihm, dass es sich um die ersten Anzeichen einer Persönlichkeitsspaltung handelte. Aber wenn Theo nicht Heinrich war, warum gelang es ihm dann nicht, sich seiner wahren Existenz bewusst zu werden? Warum identifizierte sich Theo so vollständig mit dem anderen Dasein, dass er von seinem eigenen nichts in Erinnerung rufen konnte?

Heinrich dagegen fragte sich, ob sein beunruhigender Zustand der inneren Zerrissenheit etwas mit der Vorfreude auf die Geburt seines Kindes zu tun hatte, oder – hastig sprach er ein lautloses Gebet – ob sich ihm auf diese Weise der Teufel näherte.

Stimmte doch, was die Kirche behauptete, dass sich die Sinne verwirrten, wenn die Abgesandten der Hölle die Menschen zu verführen versuchten? Jetzt bekam er es mit der Angst zu tun und sprach in seiner beginnenden Verzweiflung noch ein Gebet. War am Ende sein Kind, das an diesem Tag geboren werden sollte, in Gefahr?

Dieser zunehmende und ungewohnte Seelenkampf fand in Theo-Heinrichs Innerem und vor aller Welt lautlos statt. Die beiden anderen Holzfäller bemerkten nur, dass ihr Gefährte bei der Mittagspause noch wortkarger war als sonst, und er die meiste Zeit finster in die Gegend starrte. Seinen breitkrempigen Filzhut hatte er tief ins Gesicht gezogen, um sich vor den inzwischen in Schneefall übergangenen Niederschlag zu schützen. In seinem Vollbart hatten sich Eiskristalle eingenistet.

Tatsächlich war sein morgendliches Hochgefühl verschwunden, seit er sorgenvoll die Veränderungen in seinem Denken und Fühlen festgestellt hatte. Heinrich war keineswegs ein eifriger Denker, und er konnte eine ganze Weile vor sich hinarbeiten, ohne sich durch Gedanken ablenken zu lassen, bis es seine Arbeit erforderte, irgendwelche neuen Überlegungen anzustellen. Aber für seine Verhältnisse hatte er an diesem Morgen erstaunlich viel nachgedacht. Dieser Umstand war ihm kaum bewusst geworden. Wäre er ihm deutlicher aufgefallen, dann wäre seiner Verwirrung noch größer gewesen.

Genauso wenig bemerkte er, wie in ihm eine geistige Rangelei zwischen Theo und Heinrich stattfand, bei der Theo versuchte, Heinrich loszuwerden. Das waren die Zeiten, in denen er das Gefühl hatte, neben sich zu stehen. Aber je länger dieser Kampf andauerte, desto mehr bekam Heinrich die Oberhand, und bis zum Abend war von Theo nichts mehr zu bemerken. Heinrich stellte erleichtert fest, dass auch seine Verwirrung verschwunden war. Daran, dass er am Morgen noch überzeugt gewesen war, Theo und niemand anderes zu sein, konnte er sich jetzt nicht mehr erinnern, genauso wenig an den Zustand, in dem Theo sein Dasein verwirrend fremdartig vorgekommen war, und er, wenn Heinrich stärker wurde, das Gefühl hatte, nicht dorthin zu gehören. Aber alle diese beunruhigenden Empfindungen waren jetzt vorüber.

Dass Heinrich jetzt wieder mehr mit Hans und Jost sprach und sich sein finsteres Schweigen in eine heitere Gemütsverfassung verwandelt hatte, schoben die beiden auf seine erwartungsvolle Spannung wegen der Geburt seines Kindes. Und sie würden ihm nicht allein die Freude überlassen. Natürlich würden sie Heinrich nach Hause begleiten, und wenn das Kind schon da sein sollte, musste Heinrich ihnen tüchtig einen ausgeben. Und diese Aussicht hob auch ihre Stimmung, allerdings nicht genug, um heitere Gesänge anzustimmen. Dafür hatten sie am späteren Abend vielleicht mehr Grund.

Die drei Holzfäller waren mit ihrem Tagwerk zufrieden. Der Stoß mit den aufgearbeiteten Baumstämmen und der Haufen mit den Ästen zeugten davon, dass sie nicht müßig gewesen waren. Wenn sie selbst auch kaum mehr als ein Lob dafür erhoffen konnten, dass sie mehr geleistet hatten, als von ihnen erwartet wurde, ihr Lohn würde deswegen nicht höher ausfallen, so konnten sie zumindest mit einem gewissen Wohlgefallen auf ihre Arbeit schauen.

Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als sie sich auf den Heimweg machten. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Heinrich bemerkte, dass er etwas verloren hatte. Es war eine Art Talisman, ein kleiner Beutel mit einer Brosche seiner Frau, den er ständig an seinem Gürtel trug, wenn er zur Arbeit ging. Zum Unwillen seiner beiden Kompagnons, die der Meinung waren, dass er den Beutel in der Helligkeit des nächsten Tages wohl eher wiederfinden würde, und sie ihm dann auch bei der Suche helfen wollten, kehrte er trotzdem noch einmal um, mit der Begründung, dass der Beutel mit der Brosche morgen gewiss unter dem Schnee lag und sie ihn bestimmt nicht wiederfinden würden. Er wollte ihn aber wiederhaben. Die beiden blieben, wo sie waren, um auf Heinrich zu warten. Und in dem kalten Wind, der durch die Bäume rauschte, und dem zunehmenden Schneefall wurde es ein sehr ungemütliches Warten.

Als Heinrich nach einer angemessenen Zeit noch nicht wieder zurückgekehrt war, verwandelte sich ihr Unmut in Ärger, und sie beschlossen, ihn zu suchen. Inzwischen war es schon ziemlich finster geworden, und zu ihrem Ärger gesellte sich die Feststellung, erst in der Dunkelheit wieder nach Hause zu kommen.

Von Heinrich gab es nirgends eine Spur. Sie hörten keine Zweige brechen, wo er hätte umherstapfen müssen, und auf ihre Rufe antwortete er nicht. Für einige Zeit stolperten sie durch den Wald, ohne ein Lebenszeichen von ihm entdecken. Zu allem Ärger über seinen Dickkopf kam jetzt die Sorge, dass ihm etwas zugestoßen war. Allerdings konnten sie sich kaum vorstellen, was das sein konnte. Wölfe, und nur die konnten einem Menschen gefährlich werden, waren in dieser Gegend sehr selten geworden. Wenn sie Heinrich aber nicht bald fanden, dann mussten sie zurück ins Dorf und mehr Männer zusammentrommeln, um ihn zu suchen. Heinrich würde erfrieren, wenn er über Nacht im Wald blieb.

Dann, sie hatten schließlich den Entschluss gefasst, doch endlich eine Suchmannschaft auf die Beine zu stellen, stolperte Hans Güldner über ein Hindernis am Boden und kam zu Fall. Schimpfend rappelte er sich wieder auf und gab dem Hindernis einen wütenden Tritt, um erstaunt festzustellen, dass er weich nachgab, wie ein Tierkadaver. Sie hatten kein Licht dabei, und so mussten sie den Gegenstand mit ihren Händen untersuchen. Sehr schnell und mit wachsendem Schrecken stellten sie fest, dass da ein Mensch vor ihnen lag, und die klebrige Flüssigkeit an ihren Händen fühlte sich an und roch wie Blut. Sie fanden schnell heraus, dass es sich um Heinrich handelte. Vielleicht lebte er noch, aber er war nicht bei Bewusstsein. Unter den gegebenen Umständen konnten sie kaum herausfinden, was ihm zugestoßen war. Sie hatten nichts gehört, was angesichts der Geräusche des heftigen Windes in den Baumkronen auch nur schwer möglich gewesen wäre.

Nach einem anstrengenden Marsch zurück nach Wiedling, auf dem sie Heinrich die ganze Strecke tragen mussten, kamen sie endlich bei ihm zu Hause an, brachten ihn dort in die Küche und legten ihn auf die Bank. In der ganzen Zeit war er anscheinend nicht mehr zu Bewusstsein gekommen, denn er hatte kein Lebenszeichen von sich gegeben. Und jetzt, im trüben Licht der Öllampen, stellten sie fest, dass er tot war. Woher er die Verletzung an seinem Kopf hatte, konnten sie sich nicht denken. Sie rührte auf keinen Fall von einem Sturz. Sie war ihm eher mit einem eisernen Hilfsmittel beigebracht worden, und wahrscheinlich war er schon tot gewesen, als sie ihn fanden. Der Gedanke, dass Heinrich nur ein kleines Stück von ihnen entfernt umgebracht worden war, erfüllte sie mit Entsetzen, aber so musste es gewesen sein. Hans deckte ihn mit einem Laken zu, das ihm von einer der Frauen, die bei der Geburt halfen, gegeben wurde. Das geschah, als die Wehen bei Heinrichs Frau einsetzten.

Der Holzfäller verließ das Haus, um den Pastor und den Dorfschulzen zu benachrichtigen, wie es in einem solchen Fall üblich war. Der Dorfschulze würde nach der Polizei schicken. Ein Arzt wurde jetzt nicht mehr benötigt. Aber bis er da gewesen wäre, er hätte aus dem entfernten Brelingen kommen müssen, wäre auf jeden Fall viel Zeit vergangen und seine Ankunft vielleicht ohnehin zu spät erfolgt.

Zu ihrem Glück hatte die Ehefrau Heinrichs von all dem nichts mitbekommen. Sie lag in einem Raum nebenan und war sehr mit sich selbst beschäftigt, während die Hebamme und die drei anderen Frauen Vorbereitungen für die Geburt ihres Kindes trafen. Dass zwischendurch eine der Hilfsfrauen mit einem Laken das Geburtszimmer verließ, blieb ihr verborgen, und trotz der Trauer, die in der Küche herrschte, verhielten sich die Anwesenden andächtig still, damit Heinrichs Frau in ihrem Zustand ja nichts davon erfuhr. Sie würde es früh genug tun, und ihr seelischer Schmerz würde größer sein als der körperliche durch die Wehen. Selbst die drei Kinder Heinrichs, denen die Tragödie nicht vorenthalten werden konnte, blieben stumm in ihrer Trübsal und ihrer Verzweiflung.

Heinrichs Frau brachte ein Mädchen zur Welt. Es war gesund und kräftig und außergewöhnlich hübsch für ein Neugeborenes. Hätte Heinrich es noch erleben können, wäre er stolz und glücklich gewesen. Sie wurde Walburga genannt.

So brachte ein tragisches Schicksal an ein und demselben Tag großes Leid und große Freude in die Familie. Doch Walburga durfte kaum mehr als zwölf Jahre im irdischen Leben bleiben.

Der Beutel mit der Brosche von Heinrichs Frau wurde tatsächlich gefunden, aber an einem Ort und zu einer Zeit, mit denen keiner mehr rechnete.

Als Theo die Augen aufschlug, wusste er nicht, wo er war. Er wusste zwar, dass er Theo hieß, natürlich hieß er Theo, Theophemus Elend, aber ein Teil von ihm besaß die Identität eines Holzfällers namens Heinrich, und den hatte soeben ein furchtbares Schicksal ereilt. Der überlebende Theo fühlte sich in seinem Wesen zerrissen, denn sein zweites Ich war in einer schaurigen Nacht durch einen Mord ums Leben gekommen, an dessen Einzelheiten sich Theo nicht mehr erinnern konnte. Nur undeutlich war ihm gegenwärtig, dass seine Frau in der gleichen Nacht ein Kind bekam. Aber das gewahrte er wie eine verblasste Erinnerung aus ferner Vergangenheit.

Theo verharrte in diesem Augenblick in einer Gemütsverfassung, die all seine Sinne lähmte. Er hörte weder das leise Schnarchen von Cornelia noch fiel ihm die vollkommene Dunkelheit auf, die ihn umgab. Es war zwar Dreiviertelmond, aber der war schon wieder unter den Horizont getaucht, und die Gardinen waren dicht genug, um das Licht der Sterne nicht in das Zimmer zu lassen. Theo lag da und war erfüllt von einer Entrückung aus seinem bisherigen Dasein, die er später weder beschreiben noch begreifen konnte. Er konnte sich nicht einmal einreden, dass so der Zustand zwischen Leben und Tod sein musste – das Gefühl, im einen nicht mehr zu sein, und im anderen noch nicht. Dabei nahmen die beiden Wesen, die er für eine kurze Zeit gewesen war, eben diese Zustände ein: Der eine lebte noch, der andere war gestorben. Doch der überlebende Teil wurde durch den verstorbenen angezogen, und Theo spürte, wie er sich gegen diese Kraft anstemmen musste.

Dann gelang es ihm, diesen lähmenden Zustand zu überwinden und in die Gegenwart zurückzufinden. Sein gegenwärtiges Wesen setzte sich durch und warf die zweite, fremde Identität ab. Es erkannte, dass er nur Theo hieß, Theo war und wohin er gehörte. Und jetzt, als er sich auf seine wahre Existenz besonnen hatte, traf ihn das Furchtbare dessen, was er gerade erlebt hatte, wie ein Schlag. Er richtete sich abrupt auf und schaltete das Licht an.

„Was ist denn?“, beschwerte sich Cornelia im Halbschlaf.

„Heinrich ist tot. Er wurde ermordet.“

„Mitten in der Nacht? Hatte das nicht bis morgen Zeit?“ Cornelia drehte sich um. Schneller als gewöhnlich um diese Nachtzeit wurde auch sie wach. „Wer ist Heinrich? Und warum wurde er ermordet?“

Es dauerte eine Weile, bis Cornelia auf den Gedanken kamen, Theos Traum mit dem umgebrachten Holzfäller aus dem achtzehnten Jahrhundert in Verbindung zu bringen.

„Ich war Heinrich“, erklärte Theo. Er war immer noch tief bewegt von den Ereignissen. „Über den Mord kann ich nicht viel sagen. Da waren zwei Männer, es war schon dämmerig. Dann bekam ich einen Schlag auf den Kopf. Schwärze. Plötzlich konnte ich den Schnee sehen. Wie winzige Sterne tanzten die Flocken um mich herum.“

Cornelia richtete sich auf.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte sie und legte einen Arm auf seine Schulter.

„Nein, überhaupt nicht. Das war ein Traum! Ein furchtbarer Traum.“

„Oh, wie schrecklich“, fand Cornelia, nachdem er ihr alles erzählt hatte. „Ich kann verstehen, dass dich das mitgenommen hat.“

„Mehr als das“, sagte Theo. „Es war alles so echt, als hätte ich es wirklich erlebt. Es kam mir so vor, als existierten in mir zwei Persönlichkeiten, ich und dieser Heinrich. Ich bin froh, dass ich am Ende übergeblieben bin.“

Cornelia gab Theo einen Kuss.

„Ich auch. Aber meinst du nicht, dass du ein wenig übertreibst mit deiner Anteilnahme an meinen furchtbaren Erlebnissen?“

Es war das erste Mal, dass Cornelia eine ironische Bemerkung darüber machte.

„Wie könnte ich dich damit allein lassen? Das tue ich alles aus Liebe, glaub´ mir. Dafür bin ich bereit, auch große Opfer zu bringen. Sagte ich nicht schon, ich werde dein Held sein?“ Dann lachte Theo. „Ich hoffe, du kannst jetzt trotzdem weiterschlafen.“

„Mit einem Helden an meiner Seite bestimmt – es sei denn, ich träume jetzt von Heinrichs Frau.“

„Das wäre tragisch.“

„Mehr als das, wenn mein Traum genauso lebensecht wird.“

Nun, das war nicht der Fall. Den kurzen Rest der Nacht wurde die Ruhe von keinem der beiden mehr gestört, weder durch einen verstörenden Traum noch durch ein anderes Ereignis.

„Woher kommt denn das Blut auf deinem Kopfkissen?“, fragte Cornelia am nächsten Morgen erschrocken, als Theo sich im Bett umdrehte.

Sie war sicher, dass es in der Nacht noch nicht da gewesen war. Der Fleck war handtellergroß, und als Theo ihn berührte, stellte er fest, dass es schon leicht angetrocknet war. Aber das Blut schien echt zu sein.

„Keine Ahnung“, meinte er und betastete seinen Kopf.

Zwar fühlte er eine klebrige Stelle in seinem Haar am Hinterkopf, aber eine Wunde entdeckte er nicht. Er hatte auch keine Schmerzen.

„Seltsam“, sagte er leise und betrachtete seine Hand, an der Spuren von dem Blut klebten.

Unter diesen Umständen wollte Theo nicht mehr im Bett bleiben. Er stand auf und ging ins Bad. Er hatte tatsächlich Blut im Haar, aber als er es ausgewaschen hatte, gab es keine Wunde. Er hatte keine Ahnung, woher das Blut kam.

Inzwischen zog Cornelia das Kissen ab. Sie stellte fest, dass das Blut sogar durch den Bezug in die Füllung eingedrungen war. Das war ärgerlich, denn sie hatten keine Ersatzkissen in Weidlingen. Notgedrungen mussten sie es später wiederbeziehen, wenn das Blut trocken war und bei nächster Gelegenheit ein neues mitbringen.

„Man könnte fast glauben, unser Blockhaus ist ein Geisterblockhaus“, sagte Theo, als er aus dem Bad zurückkam. „Bei all den seltsamen Dingen, die hier passieren. Wenn wir das im letzten Jahr geahnt hätten.“

„Hör bloß auf damit“, erwiderte Cornelia halb im Scherz und halb mit Grausen. „Ich komme nie wieder hierher, wenn du das noch einmal behauptest.“

„Es war doch ein Witz“, erklärte er, als hätte sie ihn nicht verstanden.

„Aber ein verdammt schlechter“, stellte Cornelia humorlos fest.

Sie zog sich an und ging ins Bad und dann in die kleine Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Kurz darauf kam Theo hinterher.

Er hatte seine Bemerkung mit dem Geisterhaus weniger spaßig gemeint, als es sich anhörte. Dieses Mal war er selbst von den Ereignissen betroffen gewesen. Der Traum konnte nur ein Traum gewesen sein, obwohl er in seiner Art äußerst lebensnah wirkte und ihm auch jetzt noch so gegenwärtig war wie in der Nacht, als er aufwachte. Die Sache mit dem Blut war Theo aber alles andere als geheuer, da der Fleck an genau der Stelle auf dem Kopfkissen aufgetaucht war, an der es auch der Fall gewesen wäre, wenn Heinrich dort nach dem Überfall gelegen hätte. Und beides zusammen gab Theo mehr zu denken, als ihm recht war. Cornelia, die bei ihrem letzten Besuch in ihrem Wochenendhaus nach den unerklärlichen Erscheinungen beinahe fluchtartig davongefahren war, schien so ähnlich zu denken, denn Theo spürte, dass sie seine Worte tatsächlich nicht besonders lustig fand. Er ahnte nicht, dass sie das Blut auf seinem Kissen noch mehr erschreckt hatte, als sie zeigte.

Beim Frühstück waren beide bemüht, über andere Dinge zu sprechen. Keiner von beiden erwähnte die unheimlichen Ereignisse auch nur mit einem Wort. Es kam aber auch nicht der Eindruck auf, als ob die beiden nach allem besonders bedrückt waren. Jeder von ihnen war (mit einigem Erfolg) bestrebt, dem anderen nicht zu zeigen, wie nachdenklich ihn die Ereignisse stimmten. Aber zum einen konnten sie vorerst nur wenig tun, um die Rätsel zu lösen, zum anderen wollte sie sich nicht gegenseitig durch laute Grübeleien die Stimmung vermiesen.

Dazu gab es an diesem Morgen auch keinen Grund, wenn man von den Ereignissen in der Nacht absah, denn das sommerliche Wetter setzte sich fort. Schon in der Frühe war es angenehm warm draußen und die Vögel führten ein Heidenspektakel auf. Als die beiden sich dann nach dem Frühstück auf den Weg machten, war es schon sehr warm und die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel.

Obwohl Theo vorgeschlagen hatte, sich noch einmal den Gedenkstein für den ermordeten Holzfäller anzusehen, versprach er sich nicht sehr viel davon. Er hatte es nur getan, weil er keine bessere Idee gehabt hatte, Cornelia aber zeigen wollte, dass er ihre beunruhigenden Erlebnisse ernstnahm, und inzwischen tat er es tatsächlich. Er hätte aber nicht zu sagen vermocht, welche Erkenntnisse er dort erwartete. Seine Hoffnung war, dass Cornelia vielleicht noch einmal etwas sah, was ihnen weiterhalf, und dass sie mit ihm in ihrer Nähe nicht wieder so schreckhaft darauf reagieren würde. Aber wegen dieser Hoffnung regte sich in ihm auch unterschwellig ein schlechtes Gewissen. Es kam ihm fast so vor, als benutzte er Cornelia als Köder, um die seltsamen Erscheinungen, von denen sie gesprochen hatte, aus der Reserve zu locken.

Bis zu diesem Morgen hatte Cornelia ihre widerstrebende Gefühle, noch einmal zu dem Gedenkstein zurückzukehren, kaum gespürt, aber als sie das Haus verließen, machten sie sich unangenehm bemerkbar. Auf ihrem Weg wuchs ihr Unbehagen.

Das Geheimnis des Gedenksteins

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