Читать книгу Reise nach Rûngnár - Hans Nordländer - Страница 3

1. In einem fremden Land

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Ein wenig ratlos blickte sich der junge Mann um. Er wusste nicht, wie er an diesen Ort gelangt war. Er wusste eigentlich überhaupt nichts mehr von dem, was war, bevor er dorthin kam. Das Einzige, woran er sich noch erinnerte, war sein Name: Nils Holm. Aber wenn er versuchte, sich bestimmte Dinge ins Gedächtnis zu rufen, dann war es für ihn mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, und es gelang ihm nicht, ein Gesamtbild seiner Vergangenheit herzustellen. Seine Gedanken flossen wie ein zäher Brei, und das beunruhigte ihn.

Nils war sicher, dass er nicht mit Absicht an diesen Ort gekommen war und er ahnte, dass er auch gar nicht dorthin gehörte. Er hatte keine Angst, aber er war erfüllt von einer nicht weniger beunruhigenden Verwirrung.

Auch seine Umgebung war ungewohnt. Vieles kam ihm zwar irgendwie vertraut vor, aber manches war sonderbar, obwohl er nicht sofort hätte sagen können, was es war. Das Sonderbare betraf nicht nur die Stimmung an dem Ort, sondern auch seine sichtbare Erscheinung.

Nils stand auf einer Lichtung in einem Wald. Daran war zunächst nichts Außergewöhnliches, außer eben die Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, wie er dorthin gekommen war und warum er dort stand. Aber die Pflanzen kamen ihm fremd vor. Während er sich umsah, trat plötzlich die schwache Erinnerung in sein Bewusstsein, dass er eigentlich in einer Stadt lebte. Weder mit Pflanzen noch mit Tieren glaubte er sich jemals beschäftigt zu haben, deshalb versuchte er auch gar nicht erst, über die Namen der Bäume nachzudenken. Immerhin war er aber überzeugt, dass sie anders aussahen als die, die er kannte. Sie waren grün mit Blättern oder Nadeln, besaßen einen ungewöhnlich dünnen Stamm und eine Krone, aber die Blätter einiger der Bäume hatten eine merkwürdig fingerartige Gestalt und die Nadeln der anderen waren außergewöhnlich lang.

Die Lichtung war nicht sehr groß, vielleicht dreißig Meter im Durchmesser. Der Boden war bedeckt von Moos und nur selten wagte sich ein Grashalm empor. Der Wald war so hoch, dass nur wenig Helligkeit den Boden erreichte, und das vermittelte der ganzen Umgebung eine düstere Erscheinung. Die Bäume standen so dicht, dass er nicht weit in den Wald hineinschauen konnte, was wohl auch der Grund dafür war, dass es kein Unterholz gab.

Nils´ Blick folgte dem schmalen Pfad vor ihm, der gerade über die Lichtung führte und zwei Öffnungen im Saum des Waldes miteinander verband, die sich fast gegenüberlagen. Er drehte sich um. Dort muss ich hergekommen sein, dachte er, aber warum kann ich mich nicht mehr daran erinnern? Er horchte kurz in sich hinein. Nein, Furcht über seine Lage empfand er nicht, nur Verwirrung und Befremden. Fast kam er sich vor wie in einem Traum, einem sehr klaren Traum.

Auf dem Boden des Pfades waren keine Spuren zu entdecken, weder von Menschen noch von Tieren, und so blieb die Frage unbeantwortet, wer ihn angelegt hatte. Über Nils wölbte sich ein klarer, wolkenloser Himmel. Und doch war er grau, unnatürlich grau, und ihm fehlte die warme Ausstrahlung eines Sommertages, wie Nils es erwartet hätte. Trotz der warmen Jahreszeit wirkte der Himmel eher frostig.

Und dann erkannte er den Grund. Es gab keine Sonne. Nils schätzte, dass es um die Mittagszeit war und die Sonne hätte über ihm am Himmel stehen müssen. Aber sie war nicht da. Nils empfand die unnatürliche Kälte jetzt deutlicher. Sie war nicht unerträglich, aber unangenehm. Und sie passte nicht an diesen Ort, denn schließlich blühten auf der Lichtung Blumen und nur wenige Schritte entfernt wuchs eine Handvoll erstaunlich großer Pilze. Rote Kappen mit weißen Sprossen, also mussten es Fliegenpilze sein. Die kannte er aus einem Buch, fiel ihm ein, und auch, dass man sie nicht essen sollte. Aber wo, verflixt noch einmal, war die Sonne? Er konnte keine Spur von ihr entdecken. Nirgends durchbrachen wärmende Strahlen die Baumkronen. Trotzdem war es hell, fast so hell wie an einem gewöhnlichen, klaren Sommertag. Das Licht war das Licht des Mittags und nicht des Abends oder des Morgens und kein Tau benetzte die Pflanzen.

Es war ungewöhnlich still, beinahe schmerzhaft still. Nils hörte keine Geräusche und kein Wind fuhr rauschend oder flüsternd durch die Baumwipfel. Die Bäume standen wie erstarrt. Nirgends flogen Insekten und keine Schmetterlinge tanzten über die Lichtung. Nicht ein einziger Vogel war zu sehen oder zu hören. Diese Welt schien einen unerklärlichen Widerspruch in sich zu bergen. Einerseits erkannte Nils, dass Leben um ihn herum war, zumindest pflanzliches Leben, andererseits wirkte seine Umgebung wie eingefroren, beinahe wie tot. Wo, um alles in der Welt, befand er sich?

Hier konnte er diese Frage nicht beantworten. Nils entschloss sich achselzuckend, in den Wald vor ihm hineinzugehen, wie düster und bedrohlich er ihm auch vorkam. Er schloss seine Jacke und machte sich auf den Weg.

Nils wählte den Waldeingang vor sich, weil er sicher war, dass er aus dem Pfad hinter sich auf die Lichtung getreten war, auch wenn ihn sein Erinnerungsvermögen im Stich ließ. Er vermutete es einfach aus der Tatsache, dass er in seinem Rücken lag.

Im Wald kam es ihm dann noch kälter vor, und wie zur Bestätigung dauerte es nicht lange, bis er seinen ersten beschlagenen Atem sah. Nils bewegte sich langsam und immer wieder blickte er sich um. Er wusste nicht, was er erwartete, und er entdeckte nichts, was ihm seine Lage erklären konnte. Offensichtlich gab es auch keine weiteren Lebewesen in seiner Nähe. Und obwohl er ständig mit einer Überraschung rechnete, blieb sie ihm zunächst erspart.

Solange er auf der Lichtung gestanden hatte, waren keine Geräusche zu hören gewesen. Jetzt vernahm er wenigstens seine leisen Schritte auf dem weichen Waldboden und ab und zu das Knacken heruntergefallener Zweige unter seinen Schuhen. Sein Gehör und seine Sehfähigkeit waren jedenfalls nicht beeinträchtigt.

Für eine Weile änderte sich kaum etwas. Der Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und war selten weiter als vielleicht fünfzig Meter zu übersehen. Der Waldboden war eben. Weder nach vorn noch nach hinten oder zu den Seiten stieg er an oder fiel ab. Nils blickte auf sein linkes Handgelenk, um die Uhrzeit festzustellen, aber er hatte keine Uhr um. Das trug umso mehr zu seiner Verwirrung bei, denn er verließ seine Wohnung niemals ohne seine Uhr. Dieses Wissen war ein weiterer Teil seiner äußerst lückenhaften Erinnerung. Er ging mit erstaunlichem Gleichmut darüber hinweg. Überhaupt empfand er kein besonderes Unbehagen darüber, in dieser fremden Umgebung zu sein, die sich ihm so unerwartet geöffnet hatte. Für einen kurzen Augenblick kam Nils der Gedanke, dass er sich wirklich in einem Traum befand. Und wenn es so war, dann war er so klar und deutlich, wie er es niemals davor erlebt zu haben glaubte. Nichts erschien ihm verzerrt und surreal, wie es sonst oft der Fall war. Wenn er seine Lage auch nicht verstand, so erfüllte ihn immer mehr ein Gefühl von Neugierde gegenüber dem, was ihn erwartete.

Ein leises Knacken und ein raschelndes Geräusch schreckten Nils aus seinen zähen Gedanken auf. Ein Eichhörnchen. Es sprang zwischen den Bäumen umher und schien Nils noch nicht bemerkt zu haben – bis es fast vor seinen Füßen stand. Es blickte zu ihm auf, verharrte kurz in seinem Schrecken und flüchtete dann den nächsten Baumstamm hinauf. Nils beobachtete es lächelnd, bis er es nicht mehr sehen konnte. Das erste Lebewesen in dieser Welt, das sich bewegt, dachte er. Jetzt bestand wieder Hoffnung, auch noch auf andere zu treffen, und vielleicht gab es welche darunter, die ihm einige Fragen beantworten konnten.

Nils ging weiter. Allmählich veränderte sich der Wald. Die Bäume wurden kleiner und stämmiger. Es traten immer öfter Nadelbäume auf und dazwischen Büsche und Sträucher. Doch trotz dieser Veränderung blieb der Wald merkwürdig tot und das Eichhörnchen für einige Zeit das einzige Tier, das ihm begegnete. Es kam ihm fast genauso fremd und unpassend darin vor wie er sich selbst.

Der Wandel der Flora war nicht der Einzige, der ihm auffiel. Der Pfad schien jetzt in ein Tal hineinzulaufen, denn zu beiden Seiten stieg der Wald an. Die Flanken wurden steiler und Nils hatte den Eindruck, als ob der Pfad sich leicht nach unten senkte. Die Gegend wurde also bergiger. Nach wie vor war aber nicht erkennbar, wohin er führte, denn sein kurvenreicher Verlauf änderte sich nicht.

Dann endlich kam für Nils die erste wirkliche Abwechslung. Der Pfad überwand einen kleinen Fluss. Er kam von rechts lebhaft den Hang herab, kreuzte den Weg durch einen recht tiefen Einschnitt und verlief dann noch einige Meter auf seiner linken Seite, bevor er in einer Felsspalte verschwand. Der Flusslauf war zu breit, als dass er ihn überspringen konnte, und zu tief, um sich leicht aus ihm retten zu können, wenn er hineinfiel. An einer anderen Stelle hätte Nils das Gewässer vielleicht durchwaten können, obwohl das Wasser sehr kalt war, wie auch die Luft. Hier jedoch war das nicht möglich.

Glücklicherweise gab es aber eine hölzerne Brücke in einem einigermaßen vertrauenswürdigen Zustand, obwohl sie nicht neu war und keine Geländer hatte. Der Pfad war anscheinend von größerer Bedeutung, als seine Breite vermuten ließ. Und das wiederum gab Nils die Hoffnung, bald auf Menschen zu stoßen. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die Brücke – und sie hielt. Mit wenigen Schritten hatte er sie überquert. Das ließ der Zustand des Bauwerks auch erwarten, aber Nils hatte allgemein eine gewisse Ehrfurcht vor Brücken und Übergängen aller Art, unter denen mehr oder weniger tiefe Unterführungen verliefen, in die man hineinfallen konnte. Und die Abwesenheit von Handläufen verstärkte dieses Gefühl. Nils erfüllte eine deutliche Erleichterung, als er auf der anderen Seite angekommen war.

Er sah sich noch einmal um. Wenn er jedoch gehofft hatte, irgendwelche Bewohner dieser Gegend zu entdecken, wurde er abermals enttäuscht. Weder hinter ihm noch vor ihm ließ sich irgendwer blicken. Und trotzdem mussten in der Nähe Menschen leben, war Nils sicher. Dann ging er weiter und als wollte es seine Hoffnung bestätigen, fielen ihm in seinen Augenwinkeln zwei Schatten im Wald auf, die Ähnlichkeit mit Menschen hatten. Sie bewegten sich mit ihm, doch als er in ihre Richtung blickte, waren sie plötzlich verschwunden. Das ging erstaunlich schnell und Nils hatte weder knackende Äste noch andere Geräusche gehört, die auf jemanden hindeuteten, der sich durch das Unterholz bewegte.

Hm, dachte er und schüttelte den Kopf, wohl nur eine Einbildung. Dann ging er weiter.

Seine Erwartung, endlich auf eine menschliche Ansiedlung zu stoßen, blieb weiterhin unerfüllt. Für lange Zeit war die Brücke der einzige Beweis für das Wirken von Menschen. Es gab zunächst keine anderen Bauwerke und er fand nicht einmal Spuren, dass der Wald in irgendeiner Weise genutzt wurde.

Die Bäume standen inzwischen wieder dichter und der Pfad führte noch ein Stück in das Tal hinein und schließlich wieder hinaus. Die meiste Zeit war er so zugewachsen, dass er Nils keine Sicht auf die weitere Umgebung erlaubte. Nur ein einziges Mal war ihm ein kurzer Blick auf einen schneebedeckten Gebirgszug vergönnt. Der erschien ihm jedoch zu weit entfernt, als dass er die Wand des Tales sein konnte, durch das er sich bewegte. Und er fand es umso eigenartiger, weil es bei ihm zu Hause keine Berge gab.

Nils hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ohne Uhr und ohne Sonnenstand war er in dieser Hinsicht hilflos. Aber seit er die Lichtung verlassen hatte, schien sich die Tageshelligkeit nicht verändert zu haben. Es war merkwürdig, aber wenn er in den Himmel hinaufschaute, dann hatte er den Eindruck, als würde er durch einen makellosen, milchig grauen Kristall blicken. Es gab für Nils aber keinen Zweifel, dass er schon einige Stunden unterwegs war und allmählich bekam er Hunger. Es gab jedoch nirgends etwas, das wie Nahrung aussah, kein Obst und keine anderen Früchte. Er hatte an einigen Bäumen zwar das eine oder andere gesehen, das wie eine Frucht aussah, aber sein Hunger war noch nicht groß genug gewesen, um es unüberlegt zu pflücken und zu versuchen. Nils wusste nicht viel von diesen Dingen, also hatte er auch keine Ahnung, ob das wirklich Obst war, ob es reif war und ob es überhaupt essbar war. Deshalb hatte er die Hände davon gelassen.

In seiner Jackentasche fand er schließlich einen etwas älteren Schokoladenriegel. Der half ihm für einige Zeit weiter. Seinen Durst löschte er mit dem Wasser aus den Bächen, die von Zeit zu Zeit neben dem Weg auftauchten. Es schmeckte frisch und rein und schien ihm bedenkenlos trinkbar.

Nachdem er aus dem Tal herausgewandert war, begegnete ihm nach langer Zeit wieder ein Tier. Es war ein Reh. Die Gestalt war Nils vertraut und trotzdem war es das merkwürdigste Reh, das er je gesehen hatte. Es trat ein kurzes Stück vor ihm aus dem Wald und verhielt für einen Augenblick. Mit Verwunderung stellte Nils fest, dass sein Fell von hellblauer Farbe war. So etwas gab es nicht. Ein hellblaues Reh passte nicht in Nils´ Welt. Trotzdem stand es dort. Nachdem es ihn genauso erstaunt angesehen hatte wie er das Reh, ging es langsam weiter und verschwand zwischen den Bäumen. Nils hatte nicht den Eindruck, als hätte er es verängstigt. Als er die Stelle erreichte, fand er die Abdrücke der Hufe. Nils hatte keine Ahnung davon, aber da es das einzige Tier war, das seinen Weg gekreuzt hatte und die Fährte frisch war, musste es von dem Reh stammen. Also hatte er es sich nicht eingebildet.

Was soll das alles, fragte sich Nils wieder einmal. Das ist nicht meine Welt. Was tue ich hier und wie, verdammt noch mal, bin ich hierhergekommen? Doch niemand war da, der ihm diese Fragen beantworten konnte.

Plötzlich hörte er ein ungewöhnliches Geräusch. Es war so merkwürdig und wollte gar nicht so richtig in diese Gegend passen, dass Nils erschrak. Es begann leise und rauschend und wurde schnell lauter. Nils sprang in die Büsche und versteckte sich. Aus dem Rauschen wurde ein Rollen und Rumpeln, unterbrochen von einem gelegentlichen Quietschen, dazu dumpfes Hufgetrampel auf weichem Untergrund. Dann eine Stimme. Sie rief irgendeinen Befehl, jedenfalls war sie in einem solchen Ton ausgestoßen worden. Sie klang menschlich, aber verstanden hatte Nils sie nicht. Gleich darauf folgte zweimal das harte Knallen einer Peitsche. Die Geräusche wurden wieder leiser und verschwanden schließlich ganz.

Eine Kutsche, schloss Nils. Es muss eine Kutsche gewesen sein. Er hatte zwar nichts sehen können, denn sie war nicht den schmalen Pfad entlanggekommen, aber so stellte er sich den Lärm vor, wenn eine Pferdekutsche in einiger Entfernung und verdeckt von einem Hügel an einem vorbeifuhr, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, jemals in seinem Leben eine Kutsche gesehen zu haben.

Nils verließ sein Versteck. Der Pfad führte noch ein kurzes Stück bergan, und wenn er sich nicht irrte, musste er gleich hinter der Kuppel auf eine Straße treffen. Die letzten Schritte lief er.

Tatsächlich. Sie war breit, aber nicht befestigt. Und kurz bevor sie hinter der nächsten Kurve verschwand, sah er in einer Staubwolke noch die Rückseite der Kutsche. Die Straße sah nicht so aus, als wurde sie häufig von Pferdegespannen oder Reitern benutzt, denn nur die Abdrücke der gerade vorbeigefahrenen Kutsche waren frisch. Es gab andere, von Fuhrwerken und Reitern, gelegentlich auch Fußabdrücke, aber sie alle waren älter und schon ziemlich verwischt.

Nils blickte sich um. Er konnte weit und breit keine anderen Reisenden auf der Straße entdecken. Er überlegte, was er tun sollte. Er konnte warten, bis wieder jemand vorbei kam. So, wie die Straße aussah, konnte es allerdings einige Zeit dauern, denn offensichtlich gab es nur wenig Verkehr. Trotzdem hielt Nils es für erfolgversprechender auf seiner Suche nach Menschen, als wenn er dem Pfad weiter folgte, denn auch jenseits der Straße sah die Gegend einsam und unbewohnt aus. So traf Nils seine Entscheidung – und ging weiter.

Er war es nicht gewohnt, auf eine innere Stimme zu hören, wahrscheinlich hätte er rundweg abgestritten, überhaupt eine zu besitzen, aber jetzt meldete sich etwas in ihm so lautstark und warnte ihn davor, längere Zeit an dieser Stelle zu bleiben, dass ihm kein Grund einfiel, weshalb er die Warnung nicht beachten sollte. Dazu kam ein unterschwelliges Gefühl, beobachtet zu werden. Plötzlich erinnerte sich Nils wieder an die beiden Schatten, die ihm bei der Brücke aufgefallen waren. Vielleicht waren sie doch keine Einbildung gewesen. Wenn sich diejenigen, die Ursache dieser Erscheinung waren, aber nicht zeigen wollten, dann war vielleicht Vorsicht angebracht. Nils sah sich noch einmal um. Wieder stellte er fest, dass er allein zu sein schien. Er überquerte in eiligen Schritten die Straße und verschwand im gegenüberliegenden Wald.

Die innere Stimme hatte Nils nicht ohne Grund gewarnt, auch wenn es zu spät war, denn kurz nachdem er in den Wald eingedrungen war, traten zwei menschenähnliche Gestalten aus ihrem Versteck. Sie hatten sich geschickt im Unterholz des hinter Nils liegenden Waldes verborgen und gewartet, bis sie ihm unentdeckt folgen konnten.

Nils wurde nicht erst beobachtet, seit er glaubte, zwei Schemen im Wald gesehen zu haben. Seine Sinne hatten ihn tatsächlich nicht getäuscht. Es waren zwei Krieger, die versuchten, ihm unauffällig auf den Fersen zu bleiben. Nun, auf den Fersen waren sie ihm nach wie vor, aber es war nicht ganz so unauffällig geschehen, wie sie es beabsichtigt hatten.

Nils war von den beiden Wächtern durch einen dummen Zufall schon auf der Lichtung bemerkt worden, weil sie sich gerade in deren Nähe aufgehalten hatten. So war er ihnen genau zu dem Zeitpunkt ins Auge gefallen, als er durch einen engen, schimmernden Riss in der Luft in ihre Welt kam. Dieser Riss erhob sich bis etwa zweieinhalb Meter über den Boden. Er war entstanden, kurz bevor Nils auftauchte, und gleich danach wieder verschwunden. Die Wächter kannten diese Erscheinung und es war sogar eine ihrer Aufgaben, sie zu entdecken. Es handelte sich um ein Tor zwischen ihrer und der Welt der Menschen. Allerdings war es denkbar schwer, solche Tore zu entdecken, denn sie entstanden weder an den gleichen Orten noch zu den gleichen Zeiten, und sie blieben nur so lange erhalten, wie die Menschen brauchten, um herüberzukommen. Daher war es dieses Mal, wie eigentlich immer, wenn es gelang, wirklich ein Zufall. Und für Nils war es ein höchst unglücklicher Zufall obendrein.

Die Wächter hatten den Befehl, Menschen, die in ihrer Welt auftauchten, zu beobachten, ohne mit ihnen Verbindung aufzunehmen. Aber es kamen nicht nur Menschen. Die Welt, in die Nils gekommen war, lag zwischen der Erde und einer ganzen Reihe anderer Welten und manchmal kamen dort Wesen an, die für Unruhe sorgten. Nils hatte jedoch Glück im Unglück, weil er als Mensch nicht zu den gefährlichsten Eindringlingen gehörte. Für jene galt der Befehl, sie sofort zu töten.

Aber Nils war für die Wächter, die dem Volk von Rûngor angehörten, am falschen Ort aufgetaucht, nämlich im sogenannten »Reservat«, eine geräumte Zone, die nicht mehr betreten werden durfte, wobei das den meisten Bewohnern Rûngnárs aus bestimmten Gründen auch gar nicht mehr möglich war. Natürlich wusste Nils das nicht, doch das konnten die Rûngori-Wächter nicht ahnen und daher war er ihnen verdächtig. So entschieden sie sich dafür, diesen Menschen zunächst noch eine Weile zu beobachten, um herauszufinden, was er vorhatte, bevor sie ihn gefangennehmen würden. Aber selbst, wenn Nils von der verbotenen Zone gewusst hätte, wäre ihm keine andere Wahl geblieben, als genau dort nach Rûngnár zu gelangen.

Nils´ Befürchtung, der Weg jenseits der Straße würde genauso langweilig werden wie der bis dahin, war unbegründet. Es dauerte nur noch eine kurze Zeit, dann erreichte er den Saum des Waldes. Von dort führte der Waldrand zu beiden Seiten in einem weiten Bogen von dem Pfad weg. So weit er sehen konnte, breitete sich eine ausgedehnte Steppe vor ihm aus, in der Ferne durch schroffe Berge begrenzt. Auf ihren Gipfeln glitzerten Eis und Schnee, obwohl sie von keiner Sonne beschienen wurden. Ausschnitte dieser Berge hatte er schon für kurze Augenblicke auf seiner Wanderung durch den Wald erspäht. Er sah hinter sich. Tatsächlich, der Wald zog sich einen Hang herab.

Nils stand am Rand einer kesselartigen Ebene. Er hatte sie an einer Stelle betreten, an der das umgebende Gebirge am flachsten war, als wäre es hier vor langer Zeit abgetragen worden. Nun bestätigte sich seine Beobachtung gegen alle Wahrscheinlichkeit. Er hatte keine Sonne sehen können, weil weit und breit keine da war. Der Bereich des Himmels, den er übersehen konnte, ließ kein Versteck für die Sonne zu, denn er umfasste jetzt das ganze Gesichtsfeld. Das war doch unmöglich. Woher kam dann das Licht?

Nils betrachtete die weite Ebene. Jetzt endlich, jetzt konnte er wieder Hoffnung schöpfen, bald auf Menschen zu treffen, denn der Pfad führte weiter, und wie es aussah, geradewegs auf eine Siedlung zu, denn vor sich sah er in einiger Entfernung eine Ansammlung von Häusern. Er schätzte, dass er sie in einer halben Stunde erreichen konnte. Von dort, wo er stand, war zwar niemand zu sehen, aber wo es ein Dorf gab, da mussten auch Menschen sein. Nils blickte sich um. Von seinen – eingebildeten? – Verfolgern war nichts zu sehen. Er beschloss, die Möglichkeit, verfolgt zu werden, zu ignorieren, schließlich konnte er ja nicht ständig im Schutz des Waldes bleiben, wenn er etwas über seine Umgebung herausfinden wollte. Er straffte sich und marschierte los.

Doch schon, während er sich dem Dorf näherte, beschlich ihn das Gefühl, dass dort ebenfalls etwas nicht stimmte. Eigentlich hätte es Weiden geben müssen, auf denen Vieh graste, und auch bestellte Felder, selbst dann, wenn noch keine Menschen zu sehen waren. Doch es gab nicht einmal Weidezäune oder kultivierte Hecken und es herrschte die gleiche eigentümliche Stimmung wie auf der Lichtung. Wie dort kam ihm auch jetzt die Gegend wie erstarrt vor und tot. Wenn Nils die Kutsche, das widersinnig hellblaue Reh und das Eichhörnchen nicht gesehen hätte, dann wäre er jetzt endgültig davon überzeugt gewesen, sich in einer leblosen Welt zu befinden, von allen Menschen und Tieren entblößt. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er das Dorf erreichte. Es gab kaum einen Zweifel, dass es verlassen war. Nirgends konnte er Einwohner oder herumlaufende Tiere entdecken. Es herrschte buchstäblich Totenstille. Es gab keine Vogellaute, ja nicht einmal Wind, der das Laub der Bäume zum Rauschen gebracht hätte.

Als Nils das Dorf betrat, spürte er zum ersten Mal Angst. Hier musste etwas Fürchterliches geschehen sein. Ihm kam der Verdacht, dass eine todbringende Krankheit das Land heimgesucht und alles Leben ausgelöscht hatte. Nils wagte plötzlich kaum noch zu atmen. Dann kam er sich albern vor, denn falls sein Verdacht zutraf, dann hatte sich das Unglück vor langer Zeit zugetragen, denn nirgends fand er Leichen. Und hätte er die Skelette längst vergangener Menschen oder Tiere angetroffen, dann wäre die Krankheit wohl keine Gefahr mehr gewesen, vermutete er. Da es also keine Hinweise darauf gab, war eine tödliche Seuche eher unwahrscheinlich, die Angelegenheit aber umso rätselhafter, denn dann hatte die Bevölkerung das Dorf aus anderen Gründen verlassen.

Es gab aber auch keine Anzeichen für einen vorangegangenen Krieg. Die Gebäude zeigten keine Zerstörungen, die nicht mit dem Zahn der Zeit zu erklären gewesen wären. Sehr schöne Häuser, wenn sie gepflegt wären, fand Nils. Ihm kam die undeutliche Erinnerung, dass die Häuser in seiner Kindheit diesen hier sehr ähnlich waren. Es waren überwiegend Fachwerkbauten mit roten Backsteinen zwischen den Holzrahmen. Sie waren durchweg strohgedeckt und offensichtlich alle ursprünglich landwirtschaftlich genutzt worden. Das Dachstroh war an wenigen Stellen verrottet, einige Fensterläden hingen schräg in ihren Angeln oder waren ganz herausgefallen. Einige Fensterscheiben waren zerbrochen, die Gärten bis zur Unkenntlichkeit verunkrautet und der größte Teil der Zäune morsch und umgefallen. Zwei umgewehte Bäume lagen in den Gärten – also gab es hier doch von Zeit zu Zeit Wind, und manchmal sogar ziemlich heftigen. Aber Nils fand nirgendwo Brandspuren. So sah ein Dorf aus, das vor langer Zeit aufgegeben und verlassen wurde.

Plötzlich kam Nils das merkwürdige, schief hängende Schild am Ortseingang wieder in Erinnerung. Er hatte die Zeichen darauf nicht als Schrift gedeutet und war deshalb achtlos an ihm vorübergegangen. Es war handgemalt mit roter Farbe. Sicherlich hatte es eine Bedeutung, nur eben nicht für ihn. Jetzt war er sicher, dass es eine Warnung war, aber wovor? Und für wen?

Während Nils durch die Straße und über die Grundstücke ging, in der Hoffnung herauszufinden, was dort geschehen war, erreichten die beiden Rûngori-Wächter das Dorf.

Bisher hatte Nils sich gescheut, in die Häuser einzudringen. Das war auch unter diesen Umständen noch Einbruch, fand er. Andererseits war ihm noch kein Mensch begegnet und so, wie es in dem Dorf aussah, bestanden auch kaum noch Aussichten darauf. Dann gab es auch keine Eigentümer mehr, die etwas dagegen haben konnten, wenn er die Häuser durchsuchte.

Nachdem er sich seiner Meinung nach lange genug in den Vorgärten herumgetrieben hatte, kam er zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich eher in den Häusern eine Antwort auf das Schicksal der Dorfbewohner fand als draußen. Außerdem begann sich sein Hunger wieder zu regen und Nils rechnete damit, dass es trotz der Abwesenheit einer Sonne zur Nacht hin dunkel wurde und er irgendwann schlafen musste, das aber auch, falls es nicht dunkel wurde. Es war naheliegend, dass er sowohl etwas zu essen als auch einen Schlafplatz in einem der Häuser fand. Sein Entschluss zum Einbruch wurde durch die Erkenntnis gefestigt, dass es nachts wahrscheinlich empfindlich kalt werden würde, wo doch schon der Tag unangenehm kühl war. In der Hoffnung auf einige Antworten, etwas zu essen und einen annehmbaren Schlafplatz, machte er sich also daran, die Häuser zu durchsuchen. Nils wunderte sich über sich selbst, mit welcher Gelassenheit er hinnahm, zum Abend hin nicht wieder bei sich zu Hause zu sein, wo immer das war.

Das Dorf war nicht sehr groß. Es gab etwa zwanzig Höfe mit ihren Wohnhäusern, Ställen, Werkstätten und Speichern. Trotzdem würde es lange dauern, sich überall gründlich umzusehen.

Ein leises Quietschen ließ Nils zusammenfahren, als er das erste Haus betrat. Er atmete auf, als eine Maus durch den Spalt in der Tür ins Freie flüchtete. Sicherlich war sie über den plötzlichen Besucher genauso erschrocken wie Nils über die Maus. Immerhin bin ich nicht völlig allein hier, dachte er fast etwas beruhigt. Dabei war es durchaus bemerkenswert, dass er in diesem Augenblick sogar eine gewöhnliche Maus als willkommene Gesellschaft betrachtete. Unter anderen Umständen hätte er sie im günstigsten Fall (für die Maus) kaum beachtet. Jetzt war er aber nicht nur über ihre Anwesenheit erleichtert, sondern mehr noch darüber, dass diese Maus wie eine richtige Maus aussah. Sie war schon wieder verschwunden, bevor er mit seinen Gedanken zum Ende kam.

Die Dielen knarrten bedenklich unter seinen Füßen, als er langsam durch den Flur ging. Aus dem Blickwinkel reiner Vernunft hätte er nicht besonders vorsichtig sein müssen. Es war ziemlich unwahrscheinlich, hier auf einen Menschen zu stoßen, nachdem sich das Dorf als vollkommen verwaist erwiesen hatte. Er hätte sich sogar darüber gefreut, denn schließlich hatte er die ganze Zeit darauf gehofft. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er nicht allein und eine gewisse Achtsamkeit angebracht war. Und das betraf nicht die Anwesenheit einer Maus. Je länger er sich in dieser einsamen Gegend befand, desto unheimlicher wurde sie ihm.

Zunächst fand er aber weiterhin keine Anzeichen für die Gegenwart anderer Menschen, weder lebende, noch musste er die unangenehme Entdeckung eines Toten machen. Es roch zwar ein wenig muffig in dem Haus, aber keinesfalls nach den verwesenden Überresten eines Körpers. Aber das wäre nach der langen Zeit, die das Dorf verlassen sein musste, unwahrscheinlich gewesen. Da wäre die Entdeckung eines Skelettes wahrscheinlicher gewesen, aber auch die blieb ihm erspart.

Schon bald machte sich Enttäuschung in Nils breit. Nachdem er das dritte Haus durchsucht hatte, ohne Nahrungsmittel, Anzeichen für die Gründe der Aufgabe des Dorfes oder einen brauchbaren Schlafplatz zu finden, mehrten sich seine Zweifel, ob es Sinn hatte, noch lange so weiterzumachen. Das Einzige, was er feststellte, war die Sorgfalt, mit der die Leute ihre Häuser leergeräumt hatten. Damit war wenigstens klar, dass sie nicht überstürzt flüchten mussten. Eigentlich, dachte er, wäre es für mich besser gewesen, wenn sie in aller Eile getürmt wären.

Welche Möglichkeiten hatte Nils? Er konnte weiterwandern oder weitersuchen. Er entschied sich dafür, zu bleiben, wenigstens bis zum nächsten Morgen, wenn es überhaupt eine Nacht gab, auf die ein Morgen folgte. Vielleicht brauchte er nur noch ein wenig Geduld, bis er etwas Wichtiges fand. Trotz seiner ungewöhnlichen und – vielleicht – bedrohlichen Lage, musste Nils lächeln. Aber es war eher ein Lächeln aus aufkeimender Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit als eins aus Freude oder Erleichterung.

So wie es aussah, waren wirklich alle Einwohner geordnet davongegangen, denn in keinem der Wohnhäuser hatten sie etwas Brauchbares zurückgelassen. Fast alle bisher untersuchten Räume hatte Nils leer vorgefunden. In einem Raum gab es einen angebrochenen Schemel, in einem anderen eine schäbige Kommode, die keiner mehr gebrauchen konnte, aber alles andere hatten die Bewohner mitgenommen. Dabei bedauerte Nils weniger, dass er noch kein Schlaflager gefunden hatte, als vielmehr, dass es nirgends etwas zu essen gab. Viel hatte er nach der langen Zeit des Leerstandes des Dorfes nicht erwarten können, aber doch zumindest ein paar Konserven oder etwas Trockennahrung. Auf die Idee, in einem Gemüsegarten nach etwas Essbarem zu suchen, kam er nicht.

Dann endlich wurde Nils fündig, sogar mehr noch, als er zuletzt zu hoffen gewagt hatte. Er fand ein altes Sofa. Es stand schräg, weil ein Bein abgebrochen war, aber da konnte er etwas unterlegen. Das Sofa fühlte sich recht bequem an. Und, wie es der Zufall wollte, lag sogar eine Decke darauf. Er schlug sie auf. Ja, das geht, dachte er, sie ist heil und groß genug. Den Staub schüttelte er mit wenigen Schlägen heraus. Und immerhin, weder die Decke noch das Sofa verbreiteten einen unerträglichen Geruch. Nils untersuchte die Fenster und stellte befriedigt fest, dass er die Läden vor diesem Raum noch alle schließen konnte. Wenn es also nicht dunkel werden sollte, dann konnte er mit den Fensterläden ein wenig nachhelfen.

Doch noch war es hell und das wollte Nils ausnutzen. Er ging noch einmal nach draußen und zu den Nebengebäuden. Schließlich hatte er immer noch nichts zu essen. War es ein wenig dunkler geworden? Nils blickte zum Himmel – und zuckte mit den Schultern. Es war wohl nur Einbildung. Er ging weiter.

Nils betrat eine Werkstatt. Und hier entdeckte er das erste Mal eine gewisse Unordnung. Es gab zwar kein Werkzeug mehr, aber es lag allerlei Zeug herum. Er war kein Schlosser, trotzdem fiel ihm sofort auf, dass nirgendwo Schrauben und Muttern herumlagen, dafür umso mehr Nieten der unterschiedlichsten Größen. Auch die verbundenen Werkstoffe, die er fand, waren alle genietet. Vielleicht, dachte Nils, waren Schrauben bei den Leuten, die hier lebten, unbekannt.

Nils drehte sich um und stieß sich seinen Kopf an etwas, das von der Decke herabhing. Er erschrak vor einem großen Schatten, dann atmete er erleichtert auf, als der sich weder bedrohlich bewegte noch unheimliche Atemgeräusche von sich gab. Im schummerigen Licht der Werkstatt konnte er die Ursache nicht sofort erkennen, aber immerhin hatte er das Glück, dass sein Kopf die flache Seite eines Brettes getroffen hatte. Es pendelte noch leicht hin und her und gehörte zu einem Blasebalg, der unter der Decke befestigt war und den »ungeheuerlichen« Schatten verursachte. Und tatsächlich endete das Luftrohr vor einer Esse von beachtlicher Größe. Also wurde die Werkstatt auch als Schmiede genutzt. Dann allerdings musste das Dorf schon vor sehr langer Zeit verlassen worden sein, schloss Nils. Ihm fiel niemand ein, der heute noch eine so altmodische Schmiede betrieb, was in seinem Zustand aber nicht viel bedeutete.

Nils trat mit einem Fuß gegen einen kleinen Gegenstand, der im Licht des Fensters schwach funkelte. Eine Klinge? Tatsächlich. Mit seinem Schuh hatte er sie unter dem Werktisch hervorgetreten. Er hob sie auf. Es war nicht nur eine Klinge, sondern ein ganzes Taschenmesser. Und es war unbeschädigt. Das schwarze Holz des Griffes zeigte kaum Abnutzungserscheinungen und auch die Klinge selbst, sie war etwa zehn Zentimeter lang, war fast neu. Das Metall war blank, und wenn er es in seinen Schatten hielt, schien es von innen heraus schwach zu glühen. Dann hatte es doch nichts mit dem Licht von draußen zu tun. Es fühlte sich kalt an. Staunend betrachtete er die Klinge. Merkwürdiges Metall, dachte er. Er konnte nicht feststellen, wie hart sie war, aber auf jeden Fall war sie sehr scharf. Vermutlich war das Messer unter den Tisch gefallen und der Besitzer hatte es vergessen. Er klappte es zusammen. Beim ersten Versuch ging es noch schwer, aber nachdem Nils die Klinge mehrmals bewegt hatte, wurde es leichter. Er steckte das Messer ein. Wer weiß, welche guten Dienste es ihm noch leisten konnte. Nils sah sich noch einmal um und verließ die Werkstatt. Auf der anderen Seite des Hofes stand ein Speicher. Vielleicht gab es dort etwas Essbares.

Auch in diesem Gebäude war es düster. Die Fenster ließen nur wenig Licht hinein. Im zweiten Raum stand hinter der Tür ein Schrank. Als Nils ihn öffnete, sprang ihn wieder eine Maus an, fiel zu Boden und flüchtete sich in die Dunkelheit. Vor Schreck machte Nils zwei Schritte zurück und stieß mit dem Rücken an einen Holzpfosten. Kopfschüttelnd trat er wieder vor. Mäuse gibt es wahrhaftig noch genug, fand er. Auf einer Ablage im Schrank entdeckte Nils ein kleines Bündel, eingewickelt in ein Tuch. Es waren Kerzen. Na, immerhin, dachte er. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er bisher keine Möglichkeit gehabt hätte, in der Dunkelheit Licht zu machen.

Es waren nicht viele, insgesamt zählte er acht, aber sie waren ohne Frage nützlich. Doch wie konnte er sie....? Nils fand, was er suchte. An der Rückwand des Faches lag auch eine Schachtel Streichhölzer. Sogleich sank seine Hoffnung aber wieder. Wie sollten die Streichhölzer nach so langer Zeit noch brennen? Er versuchte es und – oh, Wunder – gleich beim Ersten klappte es, zuerst zögerlich, aber dann lange genug, um eine der Kerzen zu entzünden. Ein schwaches, gelbes Licht erhellte den Raum. Nils stieß einen kurzen Freudenschrei aus und dachte, wie wenig doch manchmal ausreichte, um für kurze Zeit glücklich zu sein. Dort, wo er herkam, hätte er diese Dinge kaum eines Blickes gewürdigt, ahnte er. Er steckte auch die Kerzen und die Streichhölzer ein und ging mit dem Licht in der Hand weiter.

Diese Entdeckungen sollten für diesen Tag aber die Letzten sein. Es gab nichts Essbares und so würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als sich hungrig schlafen zu legen. Wehmütig dachte er an das Stück Schokolade.

Auf dem Weg zurück zu dem Haus mit dem Sofa machte Nils eine erstaunliche Beobachtung. Der Himmel verfinsterte sich und das ging so schnell, dass er erschrocken stehen blieb und nach oben blickte. Es war nicht so, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet, aber es geschah innerhalb so kurzer Zeit, dass er das Haus kaum noch in der Dämmerung hätte erreichen können.

Gebannt starrte er in den Himmel. Nils besaß schon immer eine beachtliche Vorstellungskraft und er wäre nicht überrascht gewesen, obwohl es ihn sicher in Angst und Schrecken versetzt hätte, wenn sich in diesem Augenblick drohend der Schatten eines Ungeheuers auf ihn herabgesenkt und alles um ihn herum in Finsternis gehüllt hätte. So schlimm kam es dann doch nicht. Aber wenn es so weiterging, würde es bald pechschwarze Nacht werden, denn seine Augen konnten sich kaum so schnell an die Dunkelheit gewöhnen, wie sie über ihn hereinbrach. Doch dann fiel ihm ein sanftes Glühen am Himmel auf. Es wurde keineswegs so dunkel, wie er befürchtet hatte, obwohl keine Sterne am Himmel sichtbar wurden. Ihre Abwesenheit wunderte Nils aber kaum mehr. Warum sollte es in einem Himmel, der keine Sonne besaß, Sterne geben? Er war sich schnell im Klaren darüber, dass diese Schlussfolgerung Blödsinn war.

Nils stand noch eine ganze Zeit im Freien und beobachtete, wie sich der Nachthimmel entwickelte. Das milde Glimmen erfasste schließlich den gesamten Himmel und tauchte die Umgebung in ein Zwielicht, das mehr als erwartet erkennen ließ. Nils spürte bis auf die Haut, dass es sich innerhalb der kurzen Zeit, seit dem Einbruch der Nacht, ziemlich stark abgekühlt hatte. Trotz der Finsternis konnte er seinen beschlagenen Atem jetzt deutlicher sehen als am Tag. Und auch das war ungewöhnlich. Es war nach wie vor unnatürlich still um Nils und bisher hatte sich noch kein Nachttier sehen oder hören lassen. Vielleicht trug auch dieser Umstand dazu bei, dass Nils plötzlich anfing, zu zittern. Als sich um ihn herum nichts mehr veränderte, ging er in »sein« Haus.

Er schloss alle Türen hinter sich und die Fensterläden des Raumes und hoffte so, die Kälte ein wenig draußen halten zu können. Es gab keinen Kamin oder Ofen, was ihm das Bedauern darüber ersparte, kein Feuerholz gesammelt zu haben. Er entzündete eine Kerze, stellte sie auf den Fußboden vor das Sofa und setzte sich. Jetzt endlich, als er nicht mehr von den äußeren Dingen abgelenkt war, hatte er Zeit, über seine Lage nachzudenken. Er war zwar nicht verzweifelt, jedenfalls noch nicht, aber verwirrt, ratlos und unglücklich. Diese Gefühle traten jetzt in der Ruhe seines Zimmers noch stärker zutage.

Am Nachmittag war er froh gewesen, dieses Zimmer und das Sofa mit der Decke zu finden, doch als er sich nun die Zeit nahm, sich gründlicher umzuschauen, fand er, dass es das trostloseste Zimmer war, in dem er je geschlafen hatte.

Nils legte sich hin und zog die Decke bis zum Hals. Und er bemerkte plötzlich, wie sehr sie doch stank. Es konnte gut sein, dass sie sonst einigen Mäusen als Nachtlager diente. Aber was sollte er tun? Trübsinnig starrte er an die Zimmerdecke. Er wünschte sich so sehr wie den ganzen Tag noch nicht, endlich zu erfahren, was mit ihm geschehen war. Nils wusste, dass er nicht in diese sonderbare Gegend gehörte, aber ihm war nicht klar, woher er kam und wie er wieder heimfand. Wenn er sich sehr anstrengte, kamen ihm Bruchstücke seiner Erinnerung in den Sinn. Er schrieb. Das war seine häufigste Beschäftigung und er hatte keinen anderen Beruf. Er lebte in einer Stadt und dort gab es eine Menge Autos. Plötzlich kam ihm dieser Teil seiner Erinnerung so belanglos vor. Es war doch zum Verzweifeln.

Bevor Nils tiefer in sein trübes Grübeln versank, tat die Müdigkeit, die er bisher kaum gespürt hatte, ihr gnädiges Werk. Er schaffte es gerade noch, die Kerze auszupusten und sein letzter Gedanke, bevor er einschlief, war, dass die Decke ihn wenigstens wärmte.

Die beiden Rûngori-Wächter hatten sich nach Einbruch der Nacht dicht an das Haus, in dem Nils schlief, herangeschlichen. Aus dem, was sie beobachtet hatten, schlossen sie, dass der Mensch allein und auf der Suche nach einer Unterkunft war. Er machte aber eher einen hilflosen als einen gefährlichen Eindruck auf sie. Das jedoch konnte täuschen, denn schließlich hatten die beiden Wächter noch nicht herausgefunden, was der Wechsel des Menschen in ihre Welt zu bedeuten hatte.

Nicht lange, nachdem das bleiche Licht hinter den beiden Fenstern erloschen war und die Wächter sicher waren, dass der Mensch schlief, verließ einer der beiden seinen Wachposten und lief in den Wald hinein.

Noch vor Tagesanbruch kehrte er mit fünf weiteren Kriegern zurück. Er hatte seinem Anführer Bericht erstattet und der hatte entschieden, dass eine weitere Verfolgung nicht viel Neues ergeben würde. Es war jetzt an der Zeit, den Eindringling selbst kennenzulernen. Die Wachen erhielten den Befehl, ihn gefangenzunehmen und in die Burg zu bringen.

Reise nach Rûngnár

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