Читать книгу Reise nach Rûngnár - Hans Nordländer - Страница 5

3. Flucht und Rettung

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So, wie Nils sich fühlte, konnte er nicht lange geschlafen haben. Er konnte sich an keinen Traum erinnern, und er schlief gewöhnlich nie ohne Träume. Selbst in dem Dorf in der vorletzten Nacht war er einige Male nach seltsamen Träumen aufgewacht. Er fühlte sich kaum ausgeruht, und dass seine Knochen schmerzten, erstaunte ihn nicht. Dazu musste er nicht stundenlang auf dem harten Boden gelegen haben. Dafür hätte ihm schon die Länge eines Mittagsschlafes gereicht.

Nils wälzte sich leise stöhnend auf den Rücken. Zuerst wusste er überhaupt nicht, wo er sich befand. Das Einzige, woran er sich erinnerte, waren seine wirren Gedanken, die ihn vor dem Einschlafen heimgesucht hatten. Also konnte dieser Zeitpunkt noch nicht lange her sein. Ihn umgab immer noch eine vollkommene Dunkelheit. Nur langsam kehrten seine Sinne wieder in eine gewisse Ordnung zurück. Er saß immer noch in dem Kerker, stellte Nils mit Unwillen fest. Dann gelangte ein seltsamer Lärm an seine Ohren. Und der kam nicht aus dem Verlies. Nils wandte sein Gesicht zur Tür. Er erschrak – aber nur, bis ihm die Ursache wieder einfiel. Die beiden hellgrünen Punkte, die dicht neben der Tür schwebten, waren die Augen von Narvidur. Er stand an der Tür und horchte nach draußen.

„Was ist das für ein Lärm?“, fragte Nils.

Er richtete sich auf und kratzte sich an den Rippen.

„Hör genau hin“, erwiderte Narvidur. „Bald ist es so weit.“

Nils horchte.

„Das ist – da wird gekämpft“, entfuhr es ihm. „Also hattest du Recht. Aber du hast behauptet, wir sind hier sicher.“

Furcht nahm von ihm Besitz. Narvidur hatte am Abend zuvor zwar gesagt, dass es Krieg geben würde – etwas Krieg, wie er meinte, aber Nils kam aus einer Welt, in der er nie Krieg kennengelernt hatte, nicht einmal ein wenig, und nun war er unversehens in einen hineingeraten.

„Keine Angst, solange wir hier in dem Verlies sitzen, sind wir sicher“, bemühte sich der Rûngori abermals, Nils zu beruhigen, um ihn im nächsten Augenblick wieder in Schrecken zu versetzen. „Hast du schon einmal gekämpft?“

[Manche Fragen musste Narvidur so stellen, als wäre ihm Nils tatsächlich fremd, denn er hatte schnell bemerkt, dass der junge Mann seiner Erinnerung beraubt war. Er durfte ihm nicht sagen, was einst geschehen war. Und so konnte er ihm auch nicht erklären, was seine Ankunft in Rûngnár bedeutete. Das musste auf später verschoben werden. Vorläufig blieb es Narvidur aber ein Rätsel, wie es dazu kommen konnte, dass Nils gefangenengenommen wurde. Das war bestimmt kein Teil ihres Planes gewesen.]

„Wie, gekämpft?“, erwiderte Nils verständnislos. Er grübelte und schüttelte den Kopf. „Nur mit meinem Bruder oder auch mit einem meiner Mitschüler, wenn ich mich recht erinnere.“

„Nein, nein“, meinte Narvidur. „Wirklich richtig, mit einem echten Schwert aus Stahl?“

„Natürlich nicht. Wann denn? Und ich will es auch nicht.“

Narvidur schwieg und horchte wieder in den Gang. Dort tobte ein blutiger Kampf. Wie er angekündigt hatte, war die Stadt von einem feindlichen Heer angegriffen worden. Nils war dann auch durch den Kampflärm wach geworden. Die Bergkrieger griffen die Steppenkrieger an.

Narvidur war über die Ereignisse nicht überrascht, er hatte sogar damit gerechnet. Diese Entwicklung hatte er in seinen Plänen berücksichtigt, obwohl ihm der genaue Zeitpunkt des Angriffes nicht bekannt war. Womit er jedoch nicht gerechnet hatte, war die Begegnung mit Nils. Er wusste zwar, dass dieser Mensch erwartet wurde, aber dass er ihm ausgerechnet an diesem Ort begegnete, war nicht vorgesehen. Auch war es nicht Narvidurs Aufgabe gewesen, Nils in Empfang zu nehmen. Jetzt kam zusätzlich zu seinem eigenen Vorhaben noch die Sorge, Nils heil aus der Burg herauszubringen. Das machte die ganze Sache nicht einfacher.

„Was geht da draußen eigentlich vor?“, fragte Nils leise. „Warum herrscht Krieg?“

Er war aufgestanden und hatte sich neben Narvidur gestellt. So, wie es sich anhörte, wurde auf dem Gang recht heftig gefochten. Er erinnerte sich schwach an seinen Weg in den Kerker. Es gab nur wenige Wachen und andere Gefangene hatte er überhaupt nicht gesehen. Jetzt schien es dort von Kämpfern nur so zu wimmeln.

„Sie befreien ihre Brüder“, sagte Narvidur.

„Welche Brüder und wer sind »sie«?“

„Bergkrieger“, erklärte Narvidur. „Wir beide sind nicht die einzigen Gefangenen hier unten. Die Bergkrieger, die die Stadt angegriffen haben, holen ihre Waffenbrüder aus den Verliesen. Die Steppenkrieger haben eine ganze Menge von ihnen gefangen.“

„Bergkrieger? Steppenkrieger? Sind das verfeindete Völker?“, fragte Nils.

„Es ist schlimmer“, meinte Narvidur. „Es sind Stämme eines Volkes. Sie gehören alle zu den Rûngori. Aber auch, wenn hier gekämpft wird, ein richtiger Krieg ist es nicht, eher eine Schlacht.“

„Aber sie überfallen die Stadt und töten ihre Einwohner“, wandte Nils ein.

„Ich fürchte, das bleibt nicht aus. Es werden einige ihr Leben lassen. Sie werden ihre gefangenen Stammesgenossen befreien, versuchen, den Fürsten hinzurichten und vielleicht ein wenig plündern. Aber dann werden sich die Bergkrieger wieder zurückziehen. Es wird nicht lange dauern, dann geschieht das Gleiche in umgekehrte Richtung. So geht das hier schon ziemlich lange. Doch nun leise, ich glaube, der Lärm draußen lässt nach. Es ist besser, wenn sie uns nicht hören.“

Was sollte das nun wieder? Warum wollte Narvidur nicht, dass sie gehört wurden? Er wollte doch auch befreit werden. Wäre Nils allein gewesen, dann hätte er alles daran gesetzt, auch freizukommen. Andererseits – es war Krieg für Nils, was immer der Rûngori davon halten mochte. Und auf dem Flur wurde gekämpft. Vielleicht hatte Narvidur doch etwas Angst. Aber konnten seine Freunde, die Bergkrieger, ihn nicht beschützen? Nils war überzeugt davon, dass Narvidur ebenfalls zu den Bergkriegern gehörte, warum sonst hatten die Steppenkrieger ihn eingekerkert. Aber immerhin, dachte Nils, rückt meine Hinrichtung wieder in einige Ferne. Seine Gedanken wurden durch leise Worte Narvidurs unterbrochen.

„Wir werden warten, bis auf dem Flur wieder alles ruhig ist, um sicher zu sein, dass sich dort keine Krieger mehr aufhalten.“

Nils war entsetzt, aber er zwang sich, ebenso leise zu sprechen wie sein Mithäftling.

„Was? Wieso? Willst du nicht gerettet werden? Außerdem sehen sie doch sicher auch nach, ob hier Bergkrieger drin sind. Also werden sie uns doch so oder so entdecken.“

„Ich glaube nicht“, sagte Narvidur. „Sei unbesorgt, wir werden schon nicht hier bleiben. Aber wir gehen auch nicht mit ihnen. Und, du wirst sehen, diese Tür wird die Einzige sein, die sie nicht öffnen werden.“

Nils schüttelte den Kopf. Er fragte sich, ob alle Rûngori einen Sparren locker hatten. Das änderte jedoch nichts daran, dass Narvidur schließlich Recht behielt. Nils lauschte. Der Kampflärm war vorbei. Die Verteidiger waren wohl getötet oder geflohen. Er hörte einige Türen aufschlagen und Ausrufe der Freude. Dann wurden auch die Stimmen leiser und verstummten ganz.

Nils begriff nicht, warum ihre Tür nicht geöffnet worden war. Es hatte noch nicht einmal jemand daran gerüttelt. Nils war sich nicht sicher, ob er den Worten Narvidurs trauen sollte. Aber vielleicht war es jetzt für sie sowieso zu spät und sie mussten elendig in ihrem Kerker zugrunde gehen. Nils spürte den Drang, gegen die Tür zu trommeln und um Hilfe zu schreien, aber die Anwesenheit Narvidurs hielt ihn davon ab. Unter diesen Umständen wäre ihm eine schnelle Hinrichtung sogar lieber gewesen. Doch dann geschah das Unglaubliche.

„Wir können jetzt gehen, glaube ich“, meinte Narvidur. „Unsere Anwesenheit hier unten hat ihren Zweck erfüllt. Ich schlage vor, dass du dich draußen immer in meiner Nähe aufhältst, bis wir die Stadt verlassen haben. Es werden noch einige Kriegerscharen in der Burg herumlaufen.“

Der Rûngori hatte in einer Art und Weise gesprochen, als wäre der Ausbruch aus einem verriegelten Verlies etwas Alltägliches. Bevor sich Nils nochmals fragen konnte, ob Narvidur einen Sparren locker hatte, hörte er ein leises Klicken, ein Schleifen und schließlich ein verhaltenes Quietschen. Dann fiel Licht durch einen größer werdenden Spalt in ihre Kerkerzelle. Nils konnte es kaum fassen.

„Achte darauf, wo du hintrittst“, riet ihm Narvidur. „Blut ist rutschig.“

Nils schluckte angewidert. Der Rûngori schob die Tür auf und trat auf den Flur. Er war verlassen, zumindest von allen lebenden Kriegern und Nils war froh, keine Verwundeten entdecken zu müssen. Doch das, was er sah – und roch, war schlimm genug. Ihm wurde übel.

Bis auf ihren Kerkerraum waren tatsächlich alle anderen geöffnet worden, die Türen standen noch offen. Nils hatte keine Vorstellung, wie der Rûngori das angestellt hatte. Es grenzte für ihn schon an Zauberei. Narvidur hob zwei Schwerter auf und reichte Nils dasjenige, an dem am wenigsten Blut klebte.

„Wozu? Was soll ich damit?“, fragte er.

„Nimm es“, forderte ihn Narvidur auf. „Hoffe, es nicht zu brauchen, aber nimm es.“

Nils tat, was Narvidur von ihm verlangte, aber er tat es nur widerwillig. Sein Widerwille regte sich noch mehr, als er sah, welches Bild der Gang bot. Er hatte, soweit er sich erinnerte, noch nie so viele Leichen gesehen. Wenn er sich recht besann, hatte er noch nie eine gesehen. Und von diesen hier waren einige ziemlich schlimm zugerichtet. Nils´ Übelkeit nahm zu und er musste sich beherrschen, um sich nicht übergeben zu müssen.

„Komm“, sagte Narvidur bestimmt, als er feststellte, wie Nils zögerte weiterzugehen. „Ich weiß, es ist kein schöner Anblick, aber du wirst dich daran gewöhnen.“

Niemals, dachte Nils trotzig.

Narvidur ging voran und Nils folgte ihm. Die folgende Zeit kam ihm wie ein abscheulicher Albtraum vor. Es war mehr ein Stolpern, während er sich zwischen den Toten seinen Weg suchte. Dann blieb Nils plötzlich mit einem Fuß hängen und strauchelte. Er versuchte, sich mit seiner freien Hand abzustützen, griff in eine Blutlache, rutschte aus und fand sich ausgestreckt auf dem Boden wieder. Scheppernd schlitterte sein Schwert davon. Wenn jetzt nichts geschah, was ihn ablenkte, dann würde er sich übergeben müssen, denn neben ihm lag der enthauptete Leichnam eines Kriegers. Nils schloss die Augen und würgte. Es geschah nichts.

„Ich hatte doch gesagt, sei vorsichtig“, hörte er die tadelnde Stimme Narvidurs.

Nils spürte, wie ihn starke Arme wieder aufrichteten. Der Rûngori verfügte über eine erstaunliche Kraft. Dann sammelte er das Schwert auf und drückte es Nils wieder in die Hand.

„Pass von nun an besser auf“, sagte er, „und wirf deine Waffe nicht weg, bevor du sicher bist, sie nicht mehr zu benötigen. Nun komm und etwas schneller.“ Es kam dem Rûngori überhaupt nicht in den Sinn, darauf Rücksicht zu nehmen, dass Nils sich nicht recht wohlfühlte. Das ärgerte Nils. „Oder gefällt es dir hier so gut, dass du bleiben willst?“

Nils erschrak. Die letzten Worte hatte Narvidur nicht laut gesprochen. Sie waren in Nils´ Kopf entstanden, aber es war die Stimme Narvidurs. Nils wischte sich kalten Schweiß von der Stirn und unterdrückte seine Übelkeit. Er fasste sein Schwert fester, was mit dem noch nicht getrockneten Blut an seiner Hand nicht einfach war, und ging hinter Narvidur her, der bereits im nächsten Flur verschwunden war. Nils beeilte sich, ihn wieder einzuholen.

Sie brauchten keine Fackeln. Die Flure waren zwar nicht sehr hell, aber ausreichend ausgeleuchtet, auch wenn hier und da eine Fackel auf dem Boden lag oder erloschen war. Der Kampf hatte heftig getobt und Nils war dankbar, dass Narvidur mit dem Ausbruch gewartet hatte, bis er beendet war. Nils schauderte, als er daran dachte, was alles hätte passieren können, wenn sie sich ihren Weg durch die Kämpfer hätten bahnen müssen. Und er war ziemlich sicher, dass zumindest er es nicht einmal bis dorthin geschafft hätte, wo sie mittlerweile waren.

Der Keller war größer, als Nils ihn in verschwommener Erinnerung hatte. Als er zu seiner Gefängniszelle geführt wurde, erfüllten ihn allerdings andere Dinge, als das Verlangen, sich alles genau anzuschauen. Dann kam die erste Treppe nach oben in Sicht. Dort unten, wo sich Narvidur und Nils jetzt befanden, war es vollkommen still und nur ihre leisen Schritte waren zu hören – und Nils´ Herzschlag, wie er glaubte. So wurden sie durch die hastigen Schritten rechtzeitig gewarnt, die ihnen vernehmlich von oben entgegenkamen.

„Schnell! Dort in die Zelle!“, raunte Narvidur Nils zu und schob ihn auf die offene Tür zu. Bevor der Fremde die unterste Stufe erreichte, standen beide in der Dunkelheit des Kerkers und beobachteten den Flur. Mit schnellen Schritten lief ein Krieger, mit Schwert und Speer bewaffnet, in die Richtung, aus der sie kamen. Er verschwand hinter der nächsten Biegung des Ganges.

„Ein Steppenkrieger“, erklärte Narvidur leise. „Er wird wahrscheinlich gleich zurückkehren. Lass uns hier noch einen Augenblick warten.“

„Kommt er unseretwegen?“, fragte Nils. „Aber – deine Augen!“

„Was ist damit?“

„Sie leuchten nicht.“

„Meinst du nicht, es wäre unpassend, wenn sie es täten, während wir uns im Dunkeln zu verbergen versuchen? Ich gebe aber zu, dass meine Sehkraft darunter leidet. Aber zu deiner Frage. Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“

Es dauerte tatsächlich nicht lange. Nach wenigen Augenblicken hörten sie seine Schritte wieder. Der Mann hastete an ihrer Zelle vorbei und die Treppe hoch. Dass die vorher offenstehende Tür jetzt fast geschlossen war, schien er nicht zu bemerken.

„Gut, ich glaube, jetzt können wir wieder los“, meinte Narvidur. „Von nun an halte dein Schwert besonders gut fest und sei bereit, es zu benutzen. Dort oben werden sich noch mehr Krieger herumtreiben und es ist nicht damit zu rechnen, dass sie uns sehr wohlgesonnen sind.“

Nils schluckte unbehaglich. Ihm war jetzt nicht mehr übel, aber er hatte Angst, und wenn Narvidur darauf geachtet hätte, dann wäre ihm sein etwas bleicher Gesichtsausdruck aufgefallen. Aber er achtete nicht darauf, und es war unwahrscheinlich, dass Nils´ Befinden seine Absicht beeinflusst hätte. Nils folgte Narvidur dicht auf und was blieb ihm auch anderes übrig. Nicht zum letzten Mal fragte er sich, in was für eine irrsinnige Geschichte er geraten war.

Narvidur sammelte zwei erloschene Fackeln vom Boden auf.

„Wofür –?“, begann Nils.

„Später. Los jetzt.“

Schon bald hörten sie, dass die Kämpfe im oberen Teil der Burg noch nicht beendet waren. Zwar spärlich, aber doch deutlich drang Waffenlärm an ihre Ohren. Sie mussten drei Treppen emporsteigen und an der oberen Schwelle der Letzten blickte Narvidur vorsichtig um die Maueröffnung herum. Nils drückte sich hinter ihm eng an die Wand. Prüfend beobachtete er den Flur hinter ihnen, aber er blieb leer.

„Komm!“, flüsterte Narvidur und unterstrich den Befehl mit einer Handgeste.

Der Raum, in den sie dann kamen, er glich mehr einer Halle mit tragenden Säulen in der Mitte, war verlassen. Auch hier war gekämpft worden, aber weniger heftig als unten im Keller. Neben einer Säule fanden sie die Leichen von zwei erschlagenen Kriegern und hier und dort Blutlachen. Schnell durchquerten die beiden »Ausbrecher« den Raum.

Es schloss sich ein Flur an. Und wieder lagen ein paar Tote herum. Nils hoffte schon, auch diesen Teil der Burg heil hinter sich bringen zu können, als vor ihnen ein Kämpfer der Steppenkrieger aus einem kleinen Nebenraum heraussprang. Er sagte nichts, sondern griff sofort an.

Nils hatte Glück, dass Narvidur vor ihm ging und den Angriff abfing, denn obwohl er bewaffnet war, hätte er kaum gewusst, was er mit dem Schwert anfangen sollte. Nils trat ohne zu überlegen ein paar Schritte zurück. Vielleicht kam ihm unbewusst der Gedanke, den Rûngori eher zu behindern, als ihm wirklich helfen zu können. Wahrscheinlicher aber war, dass er einfach nur Angst hatte.

Doch das Schicksal nahm keine Rücksicht auf Nils. Dieses war der erste Tag seiner Bewährung in der fremden Welt und so hielt er auch für ihn einen Gegner bereit. Nils erkannte in seinen Augenwinkeln, dass sich ihnen von hinten ein weiterer Kämpfer näherte und er nicht so aussah, als käme er in Frieden. Es war eine Lage, in der Nils nur überleben konnte, wenn sein Verstand aussetzte. Und das tat er in diesem Augenblick.

Ohne zu überlegen, ahmte er nach, was er vorher bei Narvidur gesehen hatte. Er hob sein Schwert und es gelang ihm irgendwie, den ersten Angriff des Gegners abzuwehren. Es war für ihn ein glücklicher Umstand, dass der Steppenkrieger nur mit einem Schwert und nicht mit einem Speer angriff. Denn dann wäre Nils vermutlich nicht nahe genug herangekommen, um dem Angriff wirksam zu widerstehen.

Nils parierte noch ein oder zwei weitere Attacken und brachte es sogar fertig, einen zaghaften Gegenangriff zu führen, doch dann schlug sein Gegner ihm das Schwert aus der Hand. Nils stieß einen Schrei aus, nicht vor Schmerz, er war nicht verwundet worden, aber vor Schreck. Er dachte immer noch nicht, sondern wartete nur wie gelähmt auf sein Ende.

Eine kräftige Hand riss ihn aus der Gefahr. Narvidur war zur Stelle. Der Rûngori-Krieger zögerte kurz, griff dann aber unvermittelt wieder an. Doch dieses Mal stand ihm ein erfahrener und furchtloser Kämpfer gegenüber und er kam nicht einmal zu einem gezielten Treffer, ehe ein kraftvoller Stich in seinen Hals seiner Kampfeswut ein Ende setzte. Ein hässliches Gurgeln beendete sein Dasein.

Narvidur sah sich um. Der Flur war leer. Am Boden saß Nils. Er zitterte und starrte vor sich hin. Er spürte kaum, wie Narvidur ihm eine Hand auf die Schulter legte.

„Es ist vorbei, jedenfalls für dieses Mal. Steh auf, wir sind noch nicht in Sicherheit.“

Nils löste sich aus seiner Starre und begann zu schluchzen.

„Ich – er – noch nie“, stammelte er, aber seine Worte ergaben keinen Sinn. „Ich will nicht mehr.“

Narvidur rollte mit den Augen. Sollten wir uns geirrt haben, dachte er. Er brachte Nils das Schwert zurück und hielt es ihm hin.

„Ich glaube dir und verstehe dich auch, trotzdem müssen wir hier heraus, oder nicht? Nimm also das Schwert. Ich fürchte, das kann ich dir nicht ersparen. Und wisch dir die Tränen aus den Augen, sonst siehst du nichts.“

Nils leistete keinen Widerstand. Er stand auf, schluchzte und schniefte, aber er griff nach dem Heft. Narvidur sah in lächelnd an und schlug ihm aufmunternd gegen die Schulter.

„So ist es gut. Wir haben es bald geschafft. Dann sind wir in Sicherheit.“

Nils nickte, schniefte und wankte langsam hinter dem Rûngori her. Mit seinem Ärmel wischte er sich durch sein Gesicht. In diesem Augenblick wiederholte sich das Gefühl, das er empfand, als ihm seine Hinrichtung angedroht wurde.

Narvidurs Worte sollten Nils Mut machen, aber der Rûngori wusste, dass es so schnell doch nicht gehen würde. Er hatte nicht die Absicht, die Burg auf geradem Weg zu verlassen. Zuerst musste er noch eine Kleinigkeit erledigen, derentwegen er sich überhaupt hatte einkerkern lassen. Das war der wesentliche Teil seines Planes. Und noch etwas wurde jetzt klar, ob es ein Zufall war oder nicht. Ohne seine Gefangennahme hätte er Nils nicht retten können. Wahrscheinlich hätten er und seine Freunde niemals erfahren, wo er abgeblieben war. Narvidur fragte sich erneut, was geschehen war, dass sich niemand um ihn gekümmert hatte, als er in ihre Welt kam. In seinem hilflosen Zustand hätten sie ihn niemals allein lassen dürfen. Narvidur musste sich zwingen, sich über seine Freunde so lange nicht zu ärgern, bis er die Hintergründe kannte.

Vor ihnen war wieder Waffenlärm zu hören. Narvidur drängte Nils in eine Nische. Dort warteten sie, bis der Zweikampf beendet war und sich die Schritte des Siegers entfernten.

„Hier entlang“, sagte Narvidur und zog Nils am Ärmel, als dieser weiter in den nächsten Flur wollte. Narvidur war anderer Absicht.

„Da ist doch nichts“, wunderte sich Nils, als sie schließlich vor einer glatten Wand standen. Er begann sich allmählich von dem Schrecken seines ersten Kampfes zu erholen.

„Warte es ab“, erwiderte Narvidur nur.

Den ganzen Raum umlief in Kopfhöhe ein mit allerlei Mustern verzierter Sims. Eines davon stellte eine Nachtigall auf dem Zweig einer Tanne dar. Der Rûngori berührte den Vogel an seinem Schnabel und gleich darauf entstand vor ihnen eine Öffnung in der Wand, etwa einen halben Meter über dem Fußboden, und gerade groß genug, um einen Erwachsenen hindurchzulassen.

„Schnell! Hinein!“, forderte Narvidur den verdutzten Nils auf.

Der überlegte nicht lange. Narvidur folgte ihm und die Geheimtür schloss sich hinter ihnen wieder. Sie waren von einer undurchdringlichen Dunkelheit umgeben, nur die Augen Narvidurs leuchteten.

„Uff“, sagte er erleichtert und geradezu menschlich und lehnte sich an die Wand. Nils hörte ihn atmen. „Ich glaube, ich werde zu alt für solche Abenteuer.“

„Es ist nicht dein erstes, nehme ich an“, sagte Nils. „Und auch nicht dein erstes in dieser Burg, oder?“

Narvidur lachte kurz auf.

„Nein. Nicht mein erstes in dieser Burg und es ist nicht einmal mein aufregendstes überhaupt. Trotzdem bin ich froh, dass wir vorerst in Sicherheit sind.“

Nils hörte, wie Narvidur in seiner Kleidung wühlte und schließlich ein erleichtertes „Endlich“ von sich gab. Dann flammte ein kleines Licht auf und der Rûngori entzündete die erste Fackel. Er kam ihr versehentlich ein wenig zu nah und plötzlich züngelte eine kleine, bläuliche Flamme seinen Bart hinauf.

„Vorsicht! Dein Bart brennt!“, warnte ihn Nils.

„Oh, Scheiße!“, schimpfte Narvidur und strich die Flammen hastig mit einer Hand aus. „Es ist doch ziemlich eng hier.“

Nils musste trotz ihrer angespannten Lage lächeln und meinte:

„Du kennst dich ja wirklich gut in meiner Sprache aus.“

Was der Rûngori zur Antwort grummelte, konnte Nils nicht verstehen, aber er nahm die Fackel entgegen, die Narvidur ihm reichte.

„Hier, aber sei vorsichtig“, sagte er.

„Ich habe keinen Bart.“

„Aha, es scheint dir wieder besser zu gehen. Sehr schön.“

Nils glaubte, aus Narvidurs Stimme herauszuhören, dass er anscheinend ein wenig gekränkt war. Vermutlich hatte er das Feuerfangen seines Bartes als Demütigung empfunden.

Während Narvidur die zweite Fackel entzündete, hatte Nils das erste Mal die Ruhe, ihn sich genauer anzusehen. Er stellte fest, dass der Rûngori fast genau den Erwartungen entsprach, die er bei ihrer ersten Begegnung in der Dunkelheit ihres Verlieses gehegt hatte. Narvidur trug zwar kurzes Haar, aber sein Bart – jetzt ein wenig angesengt – war tatsächlich ziemlich lang. Sein Gesicht war hager und faltig und die graue Färbung machte es älter als er wahrscheinlich war. Aber viel mehr war in der Enge des Geheimganges von ihm auch jetzt noch nicht zu erkennen.

Der Gang war tatsächlich sehr schmal und sie mussten fast auf ihren Knien rutschen. Dabei hatten beide ihre Schwierigkeiten. Narvidur war zwar hager, aber sehr groß und Nils, der einen Kopf kleiner als der Rûngori war, konnte nicht als unterernährt bezeichnet werden. Es dauerte auch nicht lange, bis er anfing, vernehmlich zu schnaufen.

Der Tunnel zog sich endlos hin. Er vollführte zahllose Biegungen, stieß aber nie auf andere Gänge und Nils konnte auch lange Zeit keine weiteren Türen entdecken. Trotzdem war er sicher, dass er mehrere Räume miteinander verband und nicht nur in einem Geschoss, denn zweimal mussten sie auf Leitern in die Tiefe steigen und dreimal aufwärts. Daraus schloss Nils, dass sie sich zum Schluss in der Etage über jener befanden, in der sie sich in diesen Gang geflüchtet hatten. Narvidur hielt plötzlich an.

„Hier ist es“, meinte er und tastete die Wand ab.

Nils konnte den flachen Rahmen erkennen, der die Tür innerhalb des Ganges markierte. Beide atmeten sie heftig, denn das nicht enden wollende Kriechen war sehr anstrengend gewesen. Es war erstaunlich warm und die Fackeln verbrauchten nicht nur Luft, sondern füllten den Gang auch mit ihrem Rauch. Nils war froh, dass er keine Platzangst kannte.

Narvidur legte sein linkes Ohr an die Steinplatte, lauschte und nickte.

„Gut, er scheint leer zu sein“, murmelte er.

Die Tür schwenkte wie die andere nach innen. Wie der Rûngori es fertigbrachte, sie zu öffnen, konnte Nils nicht sehen, da er hinter ihm wartete. Erstaunlich flink entschwand Narvidur aus dem Gang in den Raum dahinter, und Nils zögerte nicht, ihm – weniger flink – zu folgen. Narvidur hatte schon wieder sein Schwert in der Hand, als Nils sich aufrichtete.

Es war ein sehr nobel ausgestattetes Zimmer, in dem sie herauskamen. Es lag genau auf einer Ecke der Burg und besaß in zwei nebeneinanderliegenden Wänden je drei Fenster, die verglichen mit den anderen Räumen, die Nils kennengelernt hatte, recht viel Licht herein ließen.

„Wo sind wir hier?“, fragte Nils.

„Im Lieblingszimmer des Fürsten Dyrgorn.“

„Was soll das denn für ein Zimmer sein?“

„Ein würdiges Zimmer, um zu sterben“, meinte Narvidur fast gleichmütig.

Er war um einen schweren Schreibtisch herumgegangen und hatte den toten Fürsten auf dem Boden gefunden.

„Dann ist es wahr, was du gesagt hast. Sie kamen, um den Fürsten zu töten?“

Mittlerweile hatte Nils so viele Tote in der Burg gesehen, dass ihn der Anblick der Leiche des Fürsten nicht mehr erschrecken konnte. Und sein Mitleid hielt sich aus verständlichen Gründen in Grenzen.

„Ja, auch, dieses Mal.“

„Dann geht es nicht jedes Mal um ihren Kopf.“

„Natürlich nicht, so viele Anwärter auf das Fürstenamt gibt es auch nicht. Dieses Mal gab es besondere Gründe.“

„Welche -.“

„Das ist jetzt gleichgültig“, schnitt Narvidur Nils das Wort ab. Für längere Gespräche hatten sie wirklich keine Zeit. „Aber sobald sie ihren neuen Fürsten gewählt haben, werden die Steppenkrieger Gulhättan angreifen.“

„Gulhättan?“

„Die Hauptstadt der Bergkrieger“, erklärte Narvidur. „Sie liegt jenseits des Reservates in den Schneefuchsbergen.“

„Genau, das wollte ich dich schon gestern fragen, kam aber nicht dazu“, meinte Nils. „Was hat es mit dem Reservat auf sich?“

„Später, das ist eine lange Geschichte. Jetzt geh zur Tür und warne mich, wenn jemand kommt.“

Nils tat, was Narvidur verlangte. Die Tür stand noch einen Spalt breit offen. Nils blickte hinaus in den Flur. Er war leer. Dort lagen noch nicht einmal weitere Tote herum. Möglichst leise ließ er sie ins Schloss fallen und schob den Riegel vor. Jedenfalls konnte jetzt niemand mehr unbemerkt versuchen, in das Zimmer einzudringen.

Nils warf einen Blick aus dem nächsten Fenster. Zog sich aber gleich wieder zurück. Er schüttelte den Kopf. Nein, es war zu hoch. Für einen kurzen Augenblick hatte er gehofft, dass sie durch das Fenster aus der Burg verschwinden konnten, aber sie befanden sich wenigstens im dritten Stockwerk. Draußen wimmelte es von Kriegern. So weit er sehen konnte, wurde nicht mehr gekämpft, und wenn Narvidur Recht hatte, dann mussten es Bergkrieger sein. Nils atmete auf. Dann konnte ihnen nichts mehr passieren. Er hielt Narvidur immer noch für einen Angehörigen dieses Stammes, obwohl er nicht begriff, warum Narvidur sich nicht nur von ihnen nicht befreien lassen wollte, sondern es anscheinend auch vermied, ihnen zu begegnen.

„Was suchst du hier eigentlich?“, wollte Nils wissen.

Narvidur hatte sein Schwert auf den Schreibtisch gelegt und damit begonnen, Schubladen und Regale zu durchsuchen. Dabei arbeitete er zwar schnell, aber auch auffallend vorsichtig, als fürchtete er, etwas kaputt zu machen. Er riss keine Schublade heraus und verstreute ihren Inhalt auf dem Fußboden. Narvidur war so vertieft in seine Arbeit, dass er Nils´ Frage überhörte. Nils hoffte, dass der Rûngori bald finden würde, was er suchte, denn vielleicht kamen doch noch einmal Steppenkrieger, oder auch Bergkrieger, zu ihnen herauf. Nils schätzte die Gefahr, Letzteren über den Weg zu laufen, sogar als größer ein, denn soweit er sich erinnerte, war es auch bei den Menschen üblich, getötete Herrscher als Zeichen des Sieges öffentlich darzustellen. Je länger sie in diesem Zimmer blieben, desto mehr wuchs diese Gefahr. Vielleicht, darauf ließ Narvidurs Verhalten schließen, überschätzte Nils ja auch die Freundlichkeit der Bergkrieger. Außerdem war ihm die Burg unheimlich.

Die Minuten zogen sich hin und Nils wurde immer unruhiger. Gerade als er Narvidur noch einmal fragen wollte, worum es ging, um ihm vielleicht helfen zu können, fand dieser anscheinend, was er suchte.

„Ah, endlich“, sagte er und hielt eine kleine, braune Schatulle in der Hand. Er öffnete sie vorsichtig und nahm ein kleines Glasfläschchen mit einer goldenen Flüssigkeit heraus. Er hielt es ins Licht und betrachtete es beinahe ehrfürchtig. Dann schien er sich wieder daran zu erinnern, dass sie noch nicht in Sicherheit waren. Schnell steckte er das Flakon wieder in das Etui und verstaute es in seinem Gewand.

„Gut, damit wäre mein Auftrag erfüllt“, erklärte er. „Du wirst noch erfahren, um was es sich handelt. Jetzt müssen wir zusehen, dass wir hier herauskommen.“

Damit sprach Narvidur Nils aus der Seele. Nils öffnete vorsichtig die Tür. Offensichtlich bestand noch keine Gefahr. Der Flur war nach wie vor leer. Nils ließ Narvidur vor, denn der Rûngori kannte sich offenbar in der Burg gut aus.

Nils´ Vermutung schien sich zu bestätigen. Der Rûngori traute den Bergkriegern wohl genauso wenig wie den Steppenkriegern, denn er bewegte sich mit erstaunlicher Vorsicht und nutzte jede Deckung, die er finden konnte. Er beobachtete jeden Raum und jeden Flur, bevor er ihn betrat.

In der Burg war es inzwischen erstaunlich ruhig geworden. Die Rûngori, denen sie begegneten, lagen entweder im Sterben oder waren bereits tot. Von den Verwundeten ging keine Gefahr mehr aus. Nur die hoffnungslosen Fälle waren zurückgelassen worden. Selbst wenn Nils und Narvidur die Zeit und die Mittel gehabt hätten, wäre ihnen nicht mehr zu helfen gewesen. Außerdem verstand Nils nichts von der Versorgung Verletzter. Zudem wurde ihm schon wieder übel, als er das Elend sah. Ihm grauste bei dem Gedanken, dass sie noch durch die Straßen der Stadt mussten.

So weit waren sie aber noch lange nicht. Völlig unerwartet standen ihnen zwei Bergkrieger gegenüber. Sie waren auf der Suche nach versprengten Steppenkriegern, die sich noch in der Burg herumtreiben mochten. Nils erkannte die Gefahr erst, als sie ihre Schwerter hoben – und ihre Schilde. Damit waren sie stärkere Gegner als die ersten beiden.

„Ehein Tasherir!“, rief der eine und sie stürmten los.

Nils hatte die Worte kaum gehört, geschweige denn verstanden, und er hatte auch keine Zeit, auf Narvidur zu achten. Zwar hatte auch Nils sein Schwert erhoben, mehr unbewusst als überlegt, trotzdem sah er sich von dem einen Angreifer schon über den Haufen gerannt. Erst im letzten Augenblick gelang es ihm, hinter einer Säule in Deckung zu springen. Sein Gegner war schnell und seine Augen leuchteten bedrohlich.

Es entstand ein seltsames, und wenn es nicht so ernst gewesen wäre, erheiterndes Schauspiel. Beide umkreisten sie langsam und sich abschätzend die Säule. Nils versuchte, seinen Gegner nicht an sich herankommen zu lassen, und der Rûngori versuchte, freies Kampffeld zu bekommen. Mehrmals schlug er zu, traf aber jedes Mal auf Stein, dass einzelne Funken flogen. Er war naturgemäß ein erfahrenerer Kämpfer als Nils und plötzlich änderte er seine Richtung. Unerwartet stand er genau vor Nils.

Doch der hatte dazugelernt. Dieses Mal parierte er die Schläge des Angreifers besser. Daran, dass er abermals rein instinktiv handelte, konnte es nicht liegen, denn so war es auch schon bei seinem ersten Zusammentreffen mit einem Krieger gewesen. Umso überraschter war Nils, als sein Gegner Schwert und Schild sinken ließ und röchelnd zu Boden sank. Wie Nils es auch immer angestellt hatte, er hatte ihm einen tödlichen Schlag versetzt. Nils war fassungslos. Steif und mit immer noch erhobenem Schwert betrachtete er, was er angerichtet hatte. Ehe sein Verstand wieder einsetzte, war sein Gegner tot. Es war das erste Mal in seiner Erinnerung, dass er jemanden getötet hatte.

Dann nahmen Nils´ Empfindungen überhand: Stolz und Siegeseuphorie, plötzliche und verspätete Todesangst, die Erkenntnis, getötet zu haben, Gewissensbisse, Reue und schließlich ein aufkeimender Schmerz im Arm.

„Zittern darfst du“, sagte eine vertraute Stimme neben ihm. „Aber fang nicht wieder an zu weinen. Er würde auch nicht weinen, wenn du an seiner Stelle am Boden liegen würdest. Und komm nicht mit dem Unsinn, man hätte ja vorher darüber reden können. Das hätte man nicht und du wärst nicht der Erste aus deiner Welt mit einem so blödsinnigen Vorschlag. Hier gab es nichts zu reden, nur zu handeln. Und, alle Achtung, du hast dich im Sinne des Wortes besser geschlagen, als ich zu hoffen wagte. Oh, du bist verletzt. Dorthin, ich werde dich verbinden.“

Für Narvidurs sonstige Gewohnheit war das förmlich ein Redeschwall, aber er bezweckte damit, Nils aus seinem Entsetzen zu reißen. Und er hatte Erfolg. Nils brach nicht wieder zusammen. Narvidur führte ihn in einen kleinen Raum und setzte ihn auf einen Stuhl. Kaum hatte er begonnen, die Wunde an Nils Oberarm freizulegen, fiel Nils dann doch in Ohnmacht.

„Ein schöner Krieger“, murmelte Narvidur kopfschüttelnd.

Nils´ Zustand erleichterte dem Rûngori die Behandlung. Falls er ihm Schmerzen verursachte, würde er sie jetzt wenigstens nicht spüren.

Die beiden Bergkrieger hatten Narvidur als das erkannt, was er war. Der Ausruf bedeutete »Ein Zauberer«. Das war auch der Grund, warum sie so kurzentschlossen angegriffen hatten, denn die Zauberer, es gab mehrere davon, waren nicht sehr beliebt, und wenn sich einer von ihnen in der Burg aufhielt, dann musste er mit den Steppenkriegern im Bunde stehen. Nils ahnte natürlich nichts davon und für Narvidur war es noch nicht an der Zeit, ihn einzuweihen. Deshalb kam ihm Nils´ Zusammenbruch ganz gelegen. Es war unwahrscheinlich, dass Nils sich nach diesem grausamen Erlebnis, wenigstens für ihn, noch über den Ausruf des Kriegers Gedanken machte, wenn er wieder zu sich kam.

Narvidur hatte auch mit diesem besser gerüsteten Krieger keine Schwierigkeiten gehabt, und so konnte er noch den Ausgang des Kampfes von Nils beobachten. Auch wenn Nils es anders gesehen hätte, so erkannte Narvidur, dass der Junge bemerkenswert viel kämpferisches Können bewiesen hatte, und das schon bei seinem zweiten ernsthaften Gefecht. Jetzt wandelte sich seine anfängliche Enttäuschung in eine verhaltene Zuversicht.

Narvidur wusste, wo Nils diese Fähigkeiten erworben hatte. Sie mussten nur wiedererweckt werden. Vielleicht war es doch gut, dass Nils´ Weg ihn zuerst und unter diesen Umständen in die Burg geführt hatte. Der Nutzen konnte größer sein, als Narvidur geahnt hatte.

Nils´ Ohnmacht war nur von kurzer Dauer. Nachdem Narvidur seinen Arm verbunden hatte, begann er sich schon wieder zu regen. Er schlug die Augen auf und blickte ein wenig verwirrt um sich. Narvidur reichte ihm einen Becher mit Wasser. Dann erinnerte sich Nils.

„Ist es eine schwere Wunde?“, fragte er. „Ich spüre nur wenig Schmerz.“

„Halb so schlimm“, beruhigte ihn Narvidur. „Wie fühlst du dich? Kannst du gehen? Wir dürfen nicht lange hierbleiben. Ich wundere mich, dass durch unseren Kampf niemand aufmerksam wurde.“

„Warum haben sie uns überhaupt angegriffen“, wunderte sich Nils. „Ich dachte, als Bergkrieger sind sie Menschen eher geneigt, und dass du zu ihnen gehörst.“

„Keinesfalls. Mich mögen sie genauso wenig leiden wie die Steppenkrieger. Aber den Grund erkläre ich dir später. Und du warst in der falschen Begleitung. Nur so viel, ich gehöre einem anderen Volk an.“

Nils erhob sich und Narvidur half ihm dabei. Zuerst stand er ein wenig schwankend, aber das änderte sich schnell. Der Rûngori reichte ihm – wieder einmal – sein Schwert. Nils rechter Arm mit seiner »Schwerthand« war zum Glück nicht verletzt worden.

„Ich kann es dir nicht ersparen“, bedauerte Narvidur halbherzig. „Wir sind noch nicht draußen.“

Nils nickte. Das sah schon fast kaltblütig aus, zumindest einigermaßen entschlossen. Nils hatte begonnen, eine für ihn unerwartete und unbewusste, von Narvidur jedoch erhoffte Wandlung durchzumachen, und Narvidur wusste, sie stand erst an ihrem Anfang. Allmählich konnte er zufrieden mit ihrer Entscheidung sein. Das war nicht immer so gewesen.

Sie verließen die Burg nicht durch einen der gewöhnlichen Ausgänge, wie Nils angenommen und Narvidur es eigentlich vorgehabt hatte. Aber die Ereignisse zwangen ihnen einen eher unüblichen Weg auf, und dabei halfen ihnen Narvidurs genaue Kenntnisse über die Burg.

Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie einen weiteren Angriff abwehren mussten. Es war jedoch nur ein einzelner Bergkrieger und Narvidur hatte leichtes Spiel mit ihm. Da sie sich aber nicht mehr weit entfernt von der großen Eingangshalle befanden, mussten sie damit rechnen, dass es ganz in der Nähe weitere Bergkrieger gab, die den Kampf gehört hatten. So schnell sie konnten, liefen sie den Flur wieder zurück, bis dahin, wo er abknickte. Hier befand sich eine Tür. Narvidur überzeugte sich, dass der Raum dahinter leer war. Als beide drinnen waren, versuchte er, die Tür zu schließen, aber sie klemmte. So musste sie einen Spalt breit offen bleiben.

„Dort! Zum Regal!“, sagte Narvidur.

Es füllte die ganze gegenüberliegende Wand aus und reichte bis an die Decke. Das Regal war angefüllt mit Büchern und Nils fragte sich, wie Narvidur in ihrer Lage die Nerven haben konnte, sich die Bücher so genau anzuschauen. Langsam ging der Rûngori an ihnen vorbei. Nils blickte voller Unbehagen zur Tür, aber wider Erwarten wurden sie noch nicht verfolgt, nicht einmal Schatten waren auf dem Flur zu erkennen.

Nils drehte sich gerade im rechten Augenblick um, um zu sehen, wie ein Teil des Regals zur Seite schwenkte. Das war es also. Narvidur hatte eine weitere Geheimtür gesucht. Dahinter lag eine Wendeltreppe, die nach oben und unten führte.

„Nach unten!“, befahl Narvidur, als Nils eingetreten war.

Er schloss die Tür von innen und folgte ihm. Der Aufgang mit der Wendeltreppe musste in der Außenmauer der Burg liegen, denn es gab einige Aussparungen in der Wand, die etwas Licht hineinließen.

„Die Herrscher hier müssen sehr ängstlich gewesen sein“, fand Nils.

Er bekam aber keine Antwort von Narvidur.

„Wie weit ist es noch?“, fragte Nils, als die Stufen kein Ende nehmen wollten.

„Gleich sind wir da.“

Und tatsächlich dauerte es nur noch wenige Augenblicke. Narvidur blieb stehen. Die Treppe führte noch weiter.

„Bis wohin geht sie?“, fragte Nils.

„Bis in den Kerker.“

„Wenn das so ist – äh – dann sollten wir sie hier verlassen.“

Narvidur lächelte.

„Das“, sagte er feierlich, „ist auch meine Absicht. Ich bin aber nicht sicher, ob es hier wirklich besser ist.“

Vorsichtig öffnete der Rûngori eine weitere Geheimtür, vor der sie standen. [Wie man sieht, verfügte die Burg über eine ganze Reihe geheimer Tunnel, Treppen und Türen. Und das passte zu den ursprünglichen Erbauern, zu denen Dyrgorn jedoch nicht mehr gehörte, es aber auch schon nicht vor seinem Tod getan hatte.]

Narvidur steckte kurz seinen Kopf hinaus, zog ihn schnell wieder zurück und schloss die Tür. Er legte einen Zeigefinger auf die Lippen. Es war die Aufforderung zu schweigen, wie sie auch bei den Rûngori gebräuchlich war. Nils horchte. Zuerst leise, dann lauter und wieder verschwindend, hörte er die Schritte und die Stimmen von Männern. Als sie fort waren, erklärte Narvidur:

„Bergkrieger. Vermutlich durchsuchen sie die Burg nach versprengten Steppenkriegern. Es wird einige Suchtrupps geben. Aber gleich haben wir es geschafft.“

„Das hast du schon ein paar Mal versprochen“, erinnerte ihn Nils.

„Ich weiß.“

Jetzt war der Flur frei. Unangefochten erreichten sie die Burgküche. Nils´ Augen begannen zu leuchten (nicht hellgrün, aber vor Freude). Auf dem Zubereitungstisch lagen ein Braten und zwei Rauchwürste, und alles unberührt. Es sah ganz so aus, als waren die Köche mitten in ihrer Arbeit von dem Überfall überrascht worden und geflohen. Allerdings erschien es unwahrscheinlich, dass bereits Bergkrieger in der Küche gewesen waren, denn das hätte das Essen kaum unversehrt überstanden. So erlebte Nils seinen ersten angenehmen Augenblick in dieser Burg. Narvidur verriegelte die Tür hinter ihnen.

„Nimm ruhig“, sagte er. „Du wirst hungrig sein. Vielleicht lassen sie uns wenigstens in Ruhe essen.“

Narvidur riss sich ebenfalls ein Stück Fleisch ab. Nils steckte die beiden Würste in seine Jacke.

„Für später.“

Die Eroberer kamen schneller auf ihre Spur, als sie befürchtet hatten. Plötzlich bewegte sich der Türgriff und als sich die Tür nicht öffnen ließ, klopften die Krieger unüberhörbar dagegen und forderten sie laut auf, sie zu entriegeln. Es verwundert nicht, dass Nils und Narvidur nicht geneigt waren, ihrem Wunsch nachzukommen. Nach einer kurzen Ruhe, in der die Bergkrieger schweres Werkzeug besorgten, begannen die Krieger, die Tür einzuschlagen.

Davon hörten die beiden Flüchtigen schon nichts mehr. Narvidur hatte einen geschickten Plan in die Tat umgesetzt.

In einer Ecke der Küche befand sich ein Brunnen, aus dem Wasser geschöpft werden konnte. Es war vielleicht ein etwas ungewöhnlicher Ort für eine solche Einrichtung, aber zweifellos ein zweckmäßiger. Und dieser Brunnen war groß genug, um Menschen und Rûngori aufzunehmen.

„Dort hinein!“, befahl Narvidur nach den ersten Klopfgeräuschen.

„In den Brunnen?“

„Los jetzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Widerwillig und ein wenig unbeholfen tat Nils, was Narvidur von ihm verlangt hatte. Er schob den zweiteiligen Deckel zu Seite und ließ sich an dem Seil, an dem der Schöpfeimer hing, hinab. Währenddessen warf Narvidur ein paar Töpfe und Teller laut und vernehmlich durcheinander, öffnete ein Küchenfenster und folgte Nils dann. Ehe er im Brunnenschacht verschwand, schob er die beiden Deckelhälften wieder ordentlich darüber zusammen. Dann ließ auch er sich hinab.

Nils fürchtete, dass Narvidur in dieser Falle ausharren wollte, bis die Bergkrieger wieder aus der Küche verschwunden waren und fand diesen Plan nicht sehr überlegt. Er hoffte inbrünstig, dass sie nicht auf den Gedanken kamen, den Brunnen genauer zu untersuchen. Aber er stellte fest, dass es in der Tiefe nicht so dunkel war, wie er erwartet hatte. Von irgendwoher kam Licht.

„Au!“, hörte Narvidur plötzlich, der sich noch ein kleines Stück über Nils befand.

„Leise, verdammt!“, fluchte er verhalten. „Was ist?“

„Ich habe mir mit meinem Schwert ins Bein gestochen.“

„Tölpel. Ist es schlimm?“

„Ich glaube nicht. Der Schreck war größer als der Schmerz.“

„Gut. Hier wäre ein schlechter Ort, eine weitere Wunde zu versorgen.“

Narvidur hatte Nils keine Schwerttasche gegeben und so hatte er die Waffe in seinen Gürtel geschoben, bevor er in den Brunnen eingestiegen war. Als er dann schließlich den Grund erreichte und mit den Beinen einknickte, stach sie zu. Allerdings hatte sie kaum sein Hosenbein beschädigt.

„Ein unterirdischer Fluss“, stellte Nils fest. „Das ist genial.“

„Was hast du gedacht? Dass ich mich in einem dunklen Loch verstecken wollte? Dann wäre ich mit dir nicht in die Küche geflohen. Also los, weiter. In die Richtung. Aber sei am Ende vorsichtig. Auch dort können Krieger sein. Stürz nicht gleich ins Freie.“

Nils watete los. Es dauerte nicht lange, bis er die Quelle des Lichtes sehen konnte. Hinter einer langgezogenen Krümmung des Flussbettes kam der Ausgang des Tunnels in Sicht, nicht mehr weit entfernt. Das Wasser ging Nils bis zur Hüfte und war ziemlich kalt. Aber das war ihm allemal lieber, als kämpfen zu müssen.

Als die Bergkrieger endlich die Küchentür einstießen, waren Narvidur und Nils schon nahe des Ausgangs des unterirdischen Flusses. Den Kriegern war sofort klar, dass diejenigen, die sich in der Burgküche versteckt gehalten hatten, durch das offenstehende Fenster geflohen waren. In ihrer Eile hatten sie noch einiges von dem Geschirr umgestoßen, das war draußen auf dem Flur zu hören gewesen. Sofort lief einer los, um die Wachen auf dem Hof zu alarmieren. Die anderen schauten sich hungrig um, aber außer einem abgenagten Bratenknochen und etwas rohes Gemüse fanden sie nichts auf die Schnelle Essbares mehr. Miesmutig verließen sie die Küche.

„Mist, wie ich es mir dachte“, sagte Narvidur. „Dann müssen wir bis zur Dunkelheit warten. Aber lange wird das nicht mehr dauern.“

Der Weg bis zum Ende des Tunnels war ihnen leichtgefallen. Die Strömung unterstützte ihre Schritte und der felsige Untergrund gab ihnen festen Halt. Unglücklicherweise verlief der Fluss, nachdem er seinen unterirdischen Lauf verlassen hatte, etwa fünfzig Meter durch eine Wiese, bevor er in einem dichten Wald verschwand. Und, noch unglücklicher, auf dieser Wiese lagerte das Heer der Bergkrieger. Fast ständig befand sich wenigstens einer von ihnen am Ufer und da das Wasser flach und klar war, hatten Narvidur und Nils nicht einmal tauchend eine Aussicht, unentdeckt den Wald zu erreichen.

Waren sie erst einmal dort, dann befanden sie sich in Sicherheit. Narvidur kannte einige Schleichwege abseits der Straße, die die Bergkrieger nur durch einen Zufall finden konnten. Und selbst, wenn das bereits geschehen war, hatten sie sicher keine Wachen dafür abgestellt, wusste Narvidur, denn die Pfade waren kaum mehr als Wildwechsel und ein regelmäßiger Gebrauch war ihnen nicht anzusehen.

Also mussten die beiden auf die Dunkelheit warten. Dem Rûngori schien das nichts auszumachen, aber Nils fing bald an zu frieren.

Der Fluss lief nicht immer durch dieses Flussbett. Vor dem Bau der Burg war er umgelenkt und die Festung dann darüber errichtet worden. Er diente nicht nur der Wasserversorgung. Nils hatte den zweiten Schacht, ein kurzes Stück mit der Strömung, wohl gesehen, hielt ihn aber für einen weiteren Trinkwasserbrunnen. In Wirklichkeit diente er aber der Beseitigung von Abfällen. Er endete in einem Nachbarraum der Küche. Nils und Narvidur hatten Glück. Aufgrund der besonderen Umstände in der Burg wurden an diesem Tag keine Abfälle auf diesem Weg entsorgt. Trotzdem hatte Nils ein ungutes Gefühl, nachdem Narvidur ihm von den Aufgaben des Flusses erzählt hatte, und immer wieder blickte er in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nils erfüllte der beunruhigende Gedanke, dass vielleicht die eine oder andere Leiche eines Burgbewohners auf diese Weise hinausbefördert werden würde. Aber dieser Anblick blieb ihnen erspart. Solange sie an der Mündung des Flusses warteten, kam kein Toter vorbeigetrieben.

Das Heer der Bergkrieger zog an diesem Tag nicht mehr ab. Sie hatten die Stadt und die Festung zwar erobert, aber sie waren noch nicht fertig mit der Plünderung. Es gab keine Steppenkrieger mehr und auch keine ihrer Familien. Die, die nicht umgekommen waren, hatten sich außerhalb der Stadt in Sicherheit gebracht. Und das war die Mehrzahl, denn die Flucht begann bereits, als sich die Nachricht herumsprach, dass sich ein Heer der Bergkrieger näherte. Die Steppenkrieger konnten sie nicht verhindern. Anscheinend hatten die Einwohner der Stadt nur wenig Vertrauen in die Verteidigungsfähigkeit ihrer eigenen Krieger, und der Ausgang der Kämpfe bewies, wie Recht sie damit hatten. Es war ein altbekanntes, wenn auch sehr blutiges Spiel, denn die gegenseitigen Überfälle waren schon lange Teil der Geschichte des Fehenlandes, in dem das Rûngori-Volk lebte.

Nils wunderte sich, dass die Krieger auf der Wiese nicht in die Stadt gingen. Dort gab es sicher bessere und bequemere Unterkünfte als ihre Zelte, aber offensichtlich schienen sie diese Art der Behausung vorzuziehen. Da Nils und Narvidur aber Stillschweigen bis zum Abend vereinbart hatten, konnte er den Rûngori nicht fragen. Und auch das wunderte Nils, denn es war unwahrscheinlich, dass jemand ihr Flüstern gehört hätte, neben all den anderen Geräuschen, denn in dem Kriegslager herrschte ein beachtlicher Lärm. Besonders, seit die Rûngori angefangen hatten, mit erbeutetem Wein ihren Sieg zu feiern, wurde die Stimmung zusehends ausgelassener. Nils konnte nicht ahnen, dass der Schweigebefehl eine Prüfung seiner Disziplin war. Andererseits setzte sich der Schall in dem Tunnel erstaunlich deutlich fort, und vielleicht wären ihre beiden Stimmen tatsächlich in der Burgküche zu hören gewesen.

In der Dämmerung wurden die Feldfeuer entzündet. Glücklicherweise befand sich keines unmittelbar am Ufer des Flusses. Dann endlich hatte das Warten ein Ende. Die Nacht war voll hereingebrochen und es zeigten sich nur wenige Sterne am Himmel. Falls es in diesem Teil der Welt der Rûngori einen Mond gab, und Nils hatte gewisse Zweifel daran, dann war er nirgends zu sehen.

„Kannst du tauchen?“, fragte Narvidur leise.

„Nein!“, erwiderte Nils, und versuchte, seiner Stimme trotz eines unüberhörbaren Zitterns einen entschlossenen Klang zu verleihen. Jetzt lag es nicht an seiner Angst, sondern an der Kälte. Nicht nur das Wasser war lausig kalt, sondern auch die Luft in dem Tunnel war ziemlich erfrischend. „Findest du nicht, dass du mir einiges zumutest? Wie weit?“

„Bis zum Waldrand. Vielleicht ein wenig weiter. Dann sind wir sicher.“

Die andere Frage ließ Narvidur unbeantwortet.

„Also gut. Bis dahin wird es wohl reichen“, gab Nils schließlich nach. „Ich bleibe hinter dir, damit ich nicht zu weit treibe.“

„Je tiefer wir in den Wald kommen, desto besser“, meinte Narvidur. „Halte dich flach über dem Grund. Die Strömung wird es uns erleichtern. Und du wirst erstaunt sein, wie viel du sehen kannst. Außerdem werden wir so wieder sauber. Dann los.“

Nach ein paar kräftigen Atemzügen ließen sie sich unter die Wasseroberfläche gleiten. Für einige Sekunden hatte Nils vor Kälte das Gefühl, als müsse er unbedingt einatmen. Dann verschwand es langsam wieder. Nils setzte sich in Bewegung. Narvidurs Worte bewahrheiteten sich. Deutlich war seine Gestalt vor Nils zu erkennen und auch das Licht, dass an der Luft so dürftig erschien, ließ die Wasseroberfläche über ihnen silbrig schimmern. Sie waren buchstäblich in eine völlig neue Welt eingetaucht. Ein schwaches Rauschen und Gluckern umgab sie.

Keiner von beiden brauchte Schwimmbewegungen machen. Nur gelegentlich mussten sie sich vom Ufer abstoßen. Die Strömung trug sie mit gemächlicher Geschwindigkeit dahin. Das sparte Atemluft und möglicherweise wäre sie Nils sonst auch bald ausgegangen.

Seit sie den überbauten Teil des Flusslaufes verlassen hatten, war der Untergrund sandig. Das steinerne Flussbett unter der Burg war künstlich angelegt worden. Zweimal trieben sie durch kleine Beete von Wasserpflanzen und einmal glaubte Nils den dunklen Schatten eines Fisches neben sich zu erkennen. Er bewegte sich nicht und Nils glitt an ihm vorbei, ohne dass er die Flucht ergriff.

Schließlich spürte Nils den zunehmenden Mangel an Atemluft und kurz bevor er ihn zum Auftauchen zwang, wurde es schwarz um ihn. Vor Schreck vergaß er für kurze Zeit die Atemnot, bis er gegen Narvidur stieß, der mitten im Flussbett stand. Der hatte schon damit gerechnet und sich so hingestellt, dass Nils ihn nicht umwerfen konnte. Narvidur packte Nils am Kragen und zog ihn aus dem Wasser. Nils prustete und schnappte nach Luft.

„Leise!“, fuhr der Rûngori ihn flüsternd an. „Wir sind immer noch in Hörweite zum Lager.“

Nils versuchte, etwas leiser zu schnaufen.

„War es so schlimm?“, fragte Narvidur. „Immerhin, du hast die Sache gut gemacht. Wenn sie uns jetzt nicht hören, sind wir in Sicherheit. Sehen können sie uns hier nicht mehr.“

„Wirklich?“, fragte Nils außer Atem.

„Wenn ich es dir sage.“

„Ich glaube, das war das aufregendste Abenteuer, das ich je erlebt habe.“

„Das bisschen Tauchen?“, wunderte sich Narvidur.

„Quatsch. Die Burg und das alles.“

„Wir sind noch nicht am Ziel.“

„Was heißt das denn?“, fragte Nils, und er hörte sich nicht mehr ganz so erleichtert an. „Wohin geht es denn jetzt noch?“

„Deine Frage erstaunt mich. Willst du bis an dein Lebensende hier im Wasser stehenbleiben?“

„Ach so, nein, natürlich nicht. Ich dachte, du wolltest mich wieder in Todesgefahr bringen. Aber hier bleiben, nein, das will ich auch nicht. Eigentlich möchte ich ganz gern wieder nach Hause.“

„Alles zu seiner Zeit. Lebensfreude – Todesangst, Fremde – Heimat, Unbekanntes – Bekanntes, Freunde – Feinde, Freude – Trauer, Zorn – Liebe, trockene Kleidung – nasse Kleidung. Alles zu seiner Zeit.“

„Was soll das denn schon wieder?“, fragte Nils. Falls es tiefgründig gemeint war, fand er es ziemlich misslungen.

„Es ist, mit wenigen Worten, der Kern unseres Daseins, vielleicht ein wenig Durcheinander und wohl auch ziemlich vereinfacht. Eine kleine philosophische Abhandlung auf die Schnelle. Das kannst du vielleicht einmal aufschreiben. Du schreibst doch, nicht wahr?“

Nils sah Narvidur verständnislos an.

„Ich? Weiß ich doch nicht. Vielleicht, ja, aber wie kommst du jetzt darauf?“

„Na ja, das ist jetzt auch gleichgültig. Jedenfalls hast du mir Unrecht getan. Du tust gerade so, als hätte ich dich in Gefahr gebracht. Ohne mich säßest du, wenn du weniger Glück gehabt hättest, immer noch in dem Kerkerraum und würdest auf deine Hinrichtung warten, die vielleicht niemals kommen würde. Nun lass uns weitergehen. Mir wird kalt.“

Das empfand Nils schon eine ganze Weile und er war froh, dass sie jetzt endlich das Wasser verlassen konnten.

Es stimmte wohl, dass Narvidur keine Schuld daran hatte, dass er in dem Kerker gelandet war, aber ohne ihn wäre Nils auch nicht in die Auseinandersetzungen geraten. Wahrscheinlich hätten ihn die Bergkrieger trotzdem aus dem Kerker befreit, schließlich wussten sie ja nicht, wer da drinnen saß. Andererseits, das musste Nils einräumen, war alles andere als klar, was sie dann mit ihm gemacht hätten.

Auf dem Ufer blieb Narvidur stehen und sah sich um. Erst jetzt fiel Nils auf, dass die Augen des Rûngori erloschen waren. War die Gegend vielleicht doch nicht so sicher, wie er behauptet hatte, und er wollte nicht auffallen? Dann verstand Nils aber nicht, warum er bereit war, so lange im Wasser zu plaudern. Dafür gab es wahrhaftig angenehmere Orte. Wie dem auch war, Nils hoffte, dass sich wenigstens feindliche Krieger auf diese Weise verraten würden. Und – der Zustand der Augen eines Rûngori erschien Nils ein Zeichen für die Sicherheit seiner Umgebung zu sein, und das war gut zu wissen. Doch jetzt war es noch besser zu wissen, dass sie noch nicht in Sicherheit waren.

„Hier entlang“, sagte Narvidur und marschierte los.

Narvidur hatte behauptet, dass sie noch nicht am Ziel waren. Damit hatte er Recht. Während Nils jedoch glaubte, es handelte sich um das Ziel für diesen Tag, meinte der Rûngori es ganz anders. Das Ziel, von dem er gesprochen hatte, lag noch in weiter Ferne, und würde nicht ohne weitere Gefahren zu erreichen sein. Nils hätte es gewusst, wenn er im Vollbesitz seiner Erinnerung gewesen wäre.

Der Pfad war wirklich nicht sehr breit, also wie man es von einem Fluchtweg erwarten konnte. Immer wieder schlugen Nils Zweige ins Gesicht. Glücklicherweise ging Narvidur nicht sehr schnell. Vielleicht war es aus Vorsicht, vielleicht nahm er auch auf ihn Rücksicht. Auf jeden Fall musste der Rûngori jetzt genauso schlecht sehen können wie Nils, wenn es stimmte, was er in der Kerkerzelle gesagt hatte. Vielleicht sah er aber mit erloschenen Augen immer noch besser als Nils. Das ist doch sinnloses Zeug, dachte er, achte lieber auf den Weg.

Ein Mond war immer noch nicht aufgegangen und so mussten sie sich mit dem Licht der Sterne begnügen. Ein Blick auf den Pfad war zwecklos. Dort war alles schwarz und kein Unterschied zum Waldboden. Aber Nils behalf sich damit, dem hellgrauen Band zwischen den Baumkronen zu folgen, durch das einige Sterne funkelten. Erstaunlich, dass die Bäume den Weg nicht überdachen, wo er doch so schmal ist, fand Nils.

Der Pfad verlief überhaupt nicht gerade. Er schlängelte sich in beachtlich vielen Kurven durch den Wald. Nur selten erkannte Nils den Schatten eines Baumes, wenn der Stamm, nur wenig heller als die Umgebung, genau am Wegrand stand. Dafür waren die Wipfel deutlich in Bewegung und leiser Wind rauschte durch sie hindurch. Je mehr seine Kleider dabei trockneten, desto deutlicher empfand er die milde Luft im Wald und desto besser fühlte er sich, obwohl ihm immer noch kalt war.

Sie waren nicht allein. Gelegentlich hörten sie ein Knacken und Rascheln oder gar ein hastiges Rauschen nahe am Wegrand. Nils konnte sich kaum vorstellen, was für Tiere es waren und hoffte, dass es wirklich nur Tiere waren, Tiere, die auch so aussahen, wie gewöhnliche, richtige Tiere, aber es waren auf jeden Fall mehr als im Reservat.

Und wieder zog sich ein Weg endlos hin. Das wurde ein Teil seines Schicksals, der Nils begleitete, so lange er in dieser Welt war.

Reise nach Rûngnár

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