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6. Charlotte

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Woran sie erkannten, dass es Tag war, war Nils wieder einmal schleierhaft, denn die Wohnung von Elvis und Janis hatte natürlich keine Fenster. Als sie sich schlafen legten, hatte sich das Licht in ihrem Raum, passend zu den ganzen Umständen, wie von Geisterhand verdunkelt und als er seine Augen am Morgen wieder aufschlug, war es so hell wie am Abend zuvor. Obwohl Nils mehrmals in der Nacht aufgewacht war, war es jedes Mal ziemlich finster um ihn herum gewesen. Irgendwann nach seiner letzten Wachphase musste die Helligkeit wieder zugenommen haben. Janis kam herein und rief sie zum Frühstück. Aus der Küche hörte er leise Musik von Neil Young.

Nils hatte gut geschlafen. Eigentlich war es die erholsamste Nacht, seit er in Rûngnár war. Er hatte zwar geträumt, aber dieses Mal waren die Träume weniger verwirrend und entspannender gewesen, und so war er ziemlich ausgeruht aufgewacht.

Das Frühstück hielt, was das Abendessen versprochen hatte. Es gab Toast, Butter, Käse, Wurst, Marmelade, Obstsaft, Kaffee und Milch. Es fehlte an nichts, aber Nils wollte nicht darüber nachdenken, wie Janis´ geisterhaften Hände es zuwege gebracht hatten. Möglicherweise hatte sie sich nicht einmal sehr viel Mühe machen müssen. Auf jeden Fall, dachte Nils, hat sie ein phantastisches Frühstück gezaubert.

Dann kam Elvis herein, und zu Nils´ Beruhigung kam er durch die Tür und nicht durch die Wand. Er teilte ihnen mit, dass alles für ihren Aufbruch vorbereitet war. Nils blickte ihn mit gemischten Gefühlen an, was ihm wohl nicht entging, denn lachend erklärte er:

„Also Bruder, mach dir keine Sorgen. Dieses Mal werde ich dich nicht so bald in einen lichternen Fahrstuhl verwandeln. Es gibt einen Tunnel. Er ist schön eng und lang und du wirst dir vielleicht bald wünschen, doch für einen kurzen Augenblick eine Leuchte zu sein.“

Das glaubte Nils nicht. Tunnel vertrug er besser als feste Erde und er atmete auf. Elvis hatte jedoch nicht erklärt, wie sie den Tunnel verlassen würden.

Der Abschied vollzog sich völlig unspektakulär. Nach einem kurzen »Passt auf euch auf« verschwand Janis in irgendeinem Nebenraum. Nils und die drei Rûngori folgten Elvis. Durch einen kurzen Gang erreichten sie eine kleine, nackte Kammer. Hinter einer etwas verfallenen Holztür, die Elvis nur mit Mühe öffnen konnte, begann der Stollen ins Reservat.

Aus einer kleinen Nische in der Höhlenwand nahm Elvis drei Fackeln und gab eine davon Torfrida und eine weitere Narvidur. Er selbst behielt die dritte.

„Ey, Bruder, siehst du den Stollen etwa beleuchtet?“, fragte er Nils, als er dessen fragenden Blick bemerkte. Nils schüttelte den Kopf. „Er wird nicht oft benutzt, daher wäre die Verwendung von Erdkräften Verschwendung, oder etwa nicht?“ Nils nickte.

Elvis ging voran. Dann folgten Tophal, Narvidur und Nils. Torfrida bildete den Abschluss. Bevor Nils den Tunnel betrat, rüttelte er ein wenig an der Holztür. Tatsächlich war sie ziemlich schwergängig und schleifte teilweise auf dem unbefestigten Boden. Wieso, fragte sich Nils, kann ein Geist eine massive Tür bewegen? Er hatte weder Janis noch Elvis berührt, sonst hätte er gewusst, dass er nicht durch sie hindurchfassen konnte. Dieser Umstand war begründet in der derzeitigen Erscheinung der beiden Erdgeister, und Narvidur hätte es Nils erklären können. Aber Nils erschien es weder der geeignete Ort, noch der richtige Zeitpunkt zu sein, danach zu fragen, denn er ahnte, dass die Antwort in weiteren Fragen münden würde.

Der Tunnel ließ sie fast vollkommen im Dunkeln. Wenn Nils an den Schultern der Rûngori vorbeiblickte, dann konnte er nur so weit sehen, wie das Licht der Fackeln streute.

„Wie weit geht der Stollen?“, wollte Nils wissen.

„Wir werden ihm bis ans Ende folgen“, erklärte Narvidur. „Bis zur Grenze des Reservates und ein Stück weiter.“

„Das ist ziemlich weit, wenn ich mich recht erinnere.“

„Stimmt. Etwa zehn Kilometer nach deiner Entfernungsmessung. Es wird zweieinhalb Stunden dauern.“

Das allerdings war noch viel weiter, als Nils befürchtet hatte.

Der Tunnel war so schmal, dass sie hintereinandergehen mussten. Immerhin besaß er eine Höhe, die selbst Narvidur, als den größten der drei Rûngori, ersparte, seinen Kopf einziehen zu müssen. Wer ihn gegraben hatte, erfuhr Nils nicht, und zunächst auch nicht, wie tief er unter der Erde lag. Es war dort unten nicht sehr warm und die Luft roch feucht, muffig und verbraucht. Immer wieder wehte Nils ein Schwall Fackelrauch ins Gesicht und mehr als einmal musste er husten. Er ließ sich ein paar Schritte zurückfallen. Viel besser wurde es dadurch aber auch nicht. Torfrida schien nichts dagegen zu haben, denn sie tat nichts, um Nils dazu zu bewegen, wieder enger aufzuschließen. Er drehte sich zu ihr um und blickte in ihre grün leuchtenden Augen. Das Licht ihrer Fackel verursachte unruhige Schatten in ihrem Gesicht.

„Ja?“ fragte sie.

Nils zögerte.

„Ach nichts.“

Dann wandte er sich wieder nach vorn und ging weiter.

„Doch“, sagte er plötzlich und drehte sich noch einmal um. Er versuchte so leise zu sprechen, dass Elvis ihn nicht verstehen konnte. So hoffte er wenigstens. „Wegen Elvis und Janis. Ihr sagtet, es sind Erdgeister und ich muss es glauben. Aber warum leben sie dann in Höhlen, also in Hohlräumen. Wenn ich an Geister denke, dann stelle ich mir körperlose Wesen vor, zwar mit einer Gestalt, aber ohne Substanz. Wozu also eine eingerichtete Wohnung?“

„Weil´s schockt, Alter!“, rief Elvis von vorn. Nils zuckte zusammen. Scheinbar war es nicht leicht, etwas vor ihm zu verheimlichen, wenn er zugegen war. „Hast du wirklich gedacht, wir leben im Gebirge, in Felsen oder feuchter, modriger Erde. Was glaubst du? Das ist uncool ohne Ende. Dort kann sich doch niemand nach seinem Geschmack einrichten, nicht einmal Erdgeister. Und alle von uns haben ihre Wohnungen.“

„So wie ihr?“

„Natürlich nicht. Die meisten sind schrecklich spießig eingerichtet. Aber das ist schließlich ihre Sache.“

„Gibt es denn viele Erdgeister?“, fragte Nils jetzt lauter. Wenn Elvis ihn sowieso verstand, dann konnte er sich auch geradewegs mit ihm unterhalten. „Und wenn die Rûngori die Menschen der Erde verkörpern, entsprecht ihr dann den Erdgeistern bei uns, die es angeblich geben soll?“

„Bruder, wir sind unzählige, hier wie dort. Eure Erdgeister existieren nicht nur angeblich, aber das ist eine schwierige Kiste. Auf jeden Fall sind sie für uns sehr lehrreich.“

„Also kennst du wirklich welche?“, fragte Nils erstaunt. „Das ist ja ein Ding! Ich glaube, ich bin noch keinem begegnet.“

„Sei dir da nicht so sicher“, meinte Elvis. „Sie zeigen sich nur selten in ihrer eigentlichen Gestalt. Eure sind zurückhaltender als wir, und sie wissen warum. Menschen sind unangenehmer als Rûngori.“

Nils antwortete mit einem nicht sehr lustigen Lachen.

„Die meisten jedenfalls. Sie sind undankbar und wissen die Ratschläge und Hinweise der Natur nicht zu schätzen. Und sie schmähen die Naturkräfte und rekeln sich in selbstzerstörerischer Selbstüberschätzung. Aber das weißt du ja. Die Rûngori dagegen leben mit ihnen – mit uns.“

Das war überraschend nüchtern erklärt. Es ging also doch.

„Hm, wie kann ich ihnen begegnen?“, wollte Nils wissen.

„Mit offenen Sinnen und offenem Herzen“, erklärte Narvidur. „Aber das ist nicht leicht, und nur wenige Menschen sind dazu in der Lage und auch bereit. Außerdem gibt es dunkle Mächte auf der Erde, die das zu verhindern trachten. Ein Leben im Einklang mit der Natur bedeutet Freiheit.“

„Dunkle Mächte?“, fragte Nils erstaunt. „Zauberei, Verschwörungen, schwarze Magie und so?“

Narvidur lachte.

„Na ja, vielleicht nicht ganz so geheimnisvoll, obwohl einige dieser Dinge nicht von den offensichtlichen Gründen zu trennen sind. Ich meine eure Wissenschaften, machtbesessene Religionen, die Art eurer Wirtschaft und die geistige Trägheit der Menschen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe die Menschen studiert. Der Tod der geistigen Freiheit ist das Fernsehen in seiner derzeitigen Form und infolge der Nutzung durch die Zuschauer. Da kannst du ja irgendwann einmal drüber nachdenken. Du kannst es aber auch sein lassen, denn ändern wirst du deine Welt nicht.“

„Hm“, machte Nils. Er hatte gerade begonnen, darüber nachzudenken. Dabei musste er sich erst einmal an einige Dinge erinnern, die er vergessen zu haben schien. Nachdem er aber wieder wusste, was ein Fernsehapparat war, kam er zu der Erkenntnis, dass er gar keinen besaß.

Der Tunnel zog sich endlos hin und wenn er Biegungen machte, dann waren sie so sanft, dass es nicht auffiel. So kam er Nils schnurgerade vor. Er bemühte sich, die Eintönigkeit zu vertreiben, indem er entweder nachdachte oder nach Dingen fragte, die ihm rätselhaft vorkamen. Dann dachte er über die Antworten nach, bis er wieder Fragen hatte. So erfuhr er, dass dieser Tunnel nicht der einzige war, der ins Reservat führte. Wenn es stimmte, was Narvidur ihm erzählt hatte, und es gab für Nils keinen Grund daran zu zweifeln, dann begannen alle unterirdisch und endeten auch so. Keiner reichte bis an die Oberfläche und sie waren nicht miteinander verbunden. Nils konnte sich zwar vorstellen, aus welchem Grund sie durch die Erde getrieben worden waren, aber nicht, wie. Schließlich musste der Abraum ja irgendwo geblieben sein. Die Erklärung Elvis´ war allerdings einleuchtend. Die Tunnel waren alle in der Nähe von unterirdischen Hohlräumen angelegt worden, die dann die ausgeschachtete Erde aufgenommen hatten. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können, sagte sich Nils.

Jeder Tunnel wurde von einem oder mehreren Erdgeistern »betreut«, die dafür sorgten, dass berechtigte Benutzer von »oben« in ihn hinein und auch wieder hinaus kommen konnten. Nils wollte sich nicht schon wieder beschweren, aber ihm schwante Böses für den Zeitpunkt, wenn sie das Ende des Tunnels erreichten – mit Recht.

Schließlich wurden die Antworten der Rûngori und des Erdgeistes immer spärlicher und Nils ahnte, warum. Er hörte auf, Fragen zu stellen. Er fand es schon bewundernswert, dass sie überhaupt so lange geduldig geblieben waren. Untereinander fiel zwischen seinen vier Begleitern während der ganzen Zeit kein Wort.

Dann endlich war der eintönige Marsch zu Ende und sie standen vor einer Wand aus gewachsenem Erdreich.

„Das ist geschickt“, fand Nils. „Ein magisches Tor nach draußen. Vollkommen unsichtbar.“

Er flüchtete sich in die Hoffnung, dahinter eine weite Landschaft vorzufinden. Den Gedanken an eine milde Sommersonne verwarf er aber wieder. Sie sollten ja schließlich im Reservat herauskommen, und da gab es bekanntlich keine Sonne. Und warm würde es auch nicht sein.

„Ein magisches Tor?“, fragte Elvis verwundert. „Wofür, um alles in der Welt, Bruder?“

„Na ja, ich dachte, weil....“

„Außer uns kommt hier doch nie jemand lang. Außerdem, sagten wir nicht, dass der Tunnel so endet, wie er begonnen hat. Also sicher kein Tor, weder magisch noch gewöhnlich.“

Elvis konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Nils war entsetzt. Jetzt bewahrheitete sich, was er vor einiger Zeit befürchtet und dann erfolgreich verdrängt hatte.

„Aber – das heißt doch nicht ...?“

Torfrida kicherte.

„Doch, ich fürchte schon“, meinte sie. „Elvis wird uns wieder ein wenig zur Hand gehen.“

Nils schluckte. Nur zu gut erinnerte er sich an die Nebenwirkungen des letzten Males. Ohne Erklärung verschwand Elvis plötzlich.

„Wo ist er hin?“, fragte Nils. „Ich denke, er wollte uns hier herausbringen.“

„Elvis kommt gleich wieder“, erklärte Torfrida. „Er sieht sich oben um, ob die Luft rein ist. Ohne die Hilfe der Erdgeister könnten wir diese geheimen Wege nicht benutzen. Sie bringen uns herab und wieder hinauf. Und sie sichern unser Auftauchen auf der Erdoberfläche. Keiner wird Elvis bemerken, dem er sich nicht zeigen will.“

„Aber woher wusste er gestern, dass wir oben auf ihn warteten? Hat er unsere Gegenwart von unten festgestellt?“

„Das wäre zwar auch möglich gewesen, wenn er sich in der Nähe aufgehalten hätte, aber in diesem Fall wusste er von unserer Ankunft, denn wir sind auch hier entlang aus dem Reservat herausgekommen. Außerdem haben wir Möglichkeiten, uns mit Erdgeistern in Verbindung zu setzen.“

Nils überlegte. Das alles war schon recht merkwürdig. Wieder einmal ging ihm der Gedanke durch den Kopf, in einer ziemlich verworrenen Welt gelandet zu sein, und hoffentlich erhielt er bald seine volle Erinnerung zurück. Mit seinen Fragen, und er stellte bei weitem nicht alle, die ihm einfielen, kam er sich vor wie ein kleines Kind, und das war kein angenehmer Zustand für jemanden in seinem Alter. Und trotzdem....

„Ist es so gefährlich da oben, dass wir nicht einfach hinaufkönnen? Schon in der Gefängniskutsche hatte ich das Gefühl, dass sich meine Bewacher nicht sehr wohl fühlten, solange wir im Reservat waren. Ich konnte zwar nicht erkennen, ob sie Angst hatten, aber ich glaube, sie waren recht – sagen wir – angespannt.“

„Und du? Hast du nichts gespürt?“, fragte Narvidur.

„Sicher, aber es waren immer Stimmungen, die unmittelbar meine Lage betrafen. Eine globale Gefahr habe ich nicht bemerkt.“ Er grinste. „Das war jetzt ein Wortspiel aus meiner ach so segensreich globalisierten Welt. Aber ich schließe aus deiner Frage, dass es sie tatsächlich gibt. Ist sie der Grund dafür, dass das Dorf verlassen wurde?“

„Nicht nur das Dorf, in dem du gefangengenommen wurdest. Das ganze Reservat ist von seiner rûngnárischen Bevölkerung verlassen worden, und von den meisten der anderen Lebewesen. Seit es die Kuppel gibt, ist das Gebiet von einer Ausstrahlung erfüllt, die jedem dort, ob Rûngnári oder Tier, eine tiefe Furcht einflößt.“

„Euch auch?“

„Wir wissen sie zu bekämpfen, aber natürlich bemerken wir sie jetzt wieder, und seit einiger Zeit ist sie wieder unser ständiger Begleiter.“

„Seit wir die Kuppelwand unterquerten? Also reicht sie auch in die Erde.“

„Nicht die Wand, aber die Wirkung der unbekannten Kraft, die unter der Kuppel herrscht. Wir glauben, dass sowohl die Kuppel als auch die Furcht von einem unbekannten Wesen verursacht wird, dass sich vor vielen Jahren hier niedergelassen hat. Irgendwo im Reservat, aber bisher unauffindbar. Aber was die Gefahr betrifft, können wir nur diese Ausstrahlung feststellen. Darüber hinaus ist durch das vermutete Wesen noch niemand zu Schaden gekommen, soweit wir wissen.“

Plötzlich rührte sich etwas in Nils. Narvidurs Bemerkung kam ihm nicht so befremdend vor, wie es eigentlich hätte sein müssen. Aber wann hatte er davon gehört? Nils war ziemlich sicher, dass der Zauberer diesen Umstand bisher mit keinem Wort erwähnt hatte.

„Was für ein Wesen ist das?“, fragte Nils. „Woher kam es und wie sieht es aus? Ist es immer noch da und was tut es?“

„Alles unbeantwortete Fragen, wie du jetzt wissen solltest“, erklärte Torfrida. „Außer die nach seiner Anwesenheit. Davon sind wir überzeugt. Es wurde nie gesehen. Es richtete unter der Bevölkerung keinen Schaden an, das bedeutet, niemand wurde von ihm verletzt oder getötet, wie es scheint. Es verbreitet nur einen gewaltigen Schrecken. Und der ist immerhin so verheerend, dass es niemand mehr längere Zeit innerhalb der Kuppel aushält.“

„Außerdem, wer will schon in einer kalten Umgebung ohne Sonne und Nachthimmel leben“, fand Nils.

„Das kommt noch hinzu. Aber, um die Wahrheit zu sagen, wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt ein lebendes Wesen ist. Wir vermuten es. Es kann sich aber auch um eine vollkommen andere Macht handeln, die sich keiner von uns vorstellen kann.“

„Für ein Lebewesen scheint die Auswirkung auch außergewöhnlich groß“, fand Nils. „Aber trotzdem treiben sich im Reservat immer noch Rûngori herum. Ganz verlassen ist es also doch nicht. Es scheint auch noch einige Tiere zu geben, wenn sie zuweilen auch ein wenig eigenartig aussehen. Und ihr habt euren Schlupfwinkel dort. Prüft Elvis, ob dieses komische Wesen dort oben auf uns wartet?“

„Dann wären wir schneller als erwartet am Ziel, aber damit hat es nichts zu tun“, antwortete Narvidur. „Es geht um die Patrouillen der Berg- und Steppenkrieger, die es trotz allem dort oben allzu oft gibt, zumal wir uns hier am Rande des Reservates befinden. Erst zur Mitte hin werden sie seltener. Allerdings gibt es zwei Orte, die von dem Einfluss des Wesens aus unbekannten Gründen verschont bleiben. Einer davon ist unser Versteck. Und dort sind wir auch sicher vor den Wächtern.“

Nils´ Frage nach dem zweiten Ort blieb ungestellt, denn in diesem Augenblick kehrte Elvis wieder zurück.

„Es hat etwas länger gedauert“, entschuldigte er sich. „Genau über euch hat sich ein Tor geöffnet, als ich oben war. Charlotte ist angekommen. Das wäre beinahe schiefgegangen, denn nicht weit entfernt waren Steppenkrieger. Irgendwie entwickelt sich bei ihnen ein Gespür für die Tore, habe ich den Eindruck. Es war nicht leicht, Charlotte unauffällig in Sicherheit zu bringen, aber es ging noch einmal gut, auch für die Wächter. Sie wartet an der Hütte bei der Schleuse auf euch. Jetzt ist die Luft rein.“

Nils war wieder einmal erstaunt, wie seltsam nüchtern sich Elvis doch ausdrücken konnte, ohne jedes »ey«, »Bruder«, »Freak« usw. Sein Bericht war beinahe professionell. Inzwischen war Nils sowieso zu der Ansicht gekommen, dass Elvis Auftreten als Hippie nicht sehr gekonnt war, weder was seine Kleidung betraf, noch seine Ausdrucksweise und noch weniger seine nach wie vor ziemlich strengen Ausdünstungen. Zumindest was den letzten Aspekt seiner etwas grotesken Erscheinung betraf, hatte Janis nicht versucht, mit ihm wettzueifern.

„Charlotte?“, fragte Nils interessiert.

„Eine schweizerische Hexe“, erklärte Narvidur in einer Weise, als wäre es das Gewöhnlichste auf der Welt, zumindest in dieser Welt.

„Eine Hexe. Ja, natürlich.“

„Gut, sind alle bereit? Dann können wir los“, bestimmte Torfrida.

„Nein, ich bin nicht bereit“, meinte Nils murmelnd. „Aber das wird wohl keinen interessieren.“

Das stimmte, aber dieses Mal war es leichter für ihn.

Als Nils die Augen aufschlug, drehte sich die Welt zwar noch ein wenig um ihn, aber ihm war weder schwindelig, noch spürte er Panik. Dieses Mal, war Nils sicher, war er auch nicht bewusstlos geworden. Dafür lag er wieder mit dem Rücken auf dem Boden. Er fühlte trockenes Gras und atmete auf. Immerhin lag er nicht in einer schlammigen Pfütze.

„Helft ihm hoch“, hörte er die Stimme Torfridas.

Tophal und Narvidur stellten Nils wieder auf die Beine. Der Pudding in seinen Knien verfestigte sich zusehends und wenige Augenblicke später stand er wieder so sicher wie zuvor.

Elvis war schon wieder verschwunden. Er befand sich bereits auf dem Rückweg zu Janis.

„Wie fühlst du dich?“ fragte Torfrida.

„Hervorragend“, meinte Nils mit unverhohlenem Spott. „Ich war nicht bewusstlos, bin nicht in einem Grab aufgewacht und auch nicht in einer Schlammpfütze gelandet und keine Sonne blendet meine Augen. Es ist alles prima. Was will ich mehr? Ich werde Elvis bitten, mich diese Art der Fortbewegung zu lehren. Sie macht Spaß.“

„Sei nicht undankbar“, tadelte Narvidur Nils milde. „Hättest du dich lieber nach oben durchgegraben? Über uns befanden sich zwanzig Meter Erdreich.“

„Das mag ja sein und es wäre sicher ziemlich anstrengend gewesen, aber du vergisst, dass ich all die Unbequemlichkeiten durchmache, ohne zu wissen, warum. Also gut, holen wir Charlotte ab. Wer ist das eigentlich wirklich?“

„Das wirst du gleich sehen“, antwortete Torfrida.

Sie waren in der Nähe eines Waldrandes herausgekommen. Nils wusste zwar nicht, ob es der Gleiche war, der vor der weiten Ebene mit dem verlassenen Dorf lag, aber auf jeden Fall war es eine andere Stelle. Von einer Ansiedlung war weit und breit nichts zu sehen, und in geringer Entfernung erhob sich die graue Wand der Kuppel, die sich jetzt über sie wölbte. Sie war deutlich näher als bei seiner Ankunft im Reservat. Weiter weg als damals, erhoben sich die schneebedeckten Gipfel des bekannten Gebirges. Die Richtung, aus der er es jetzt betrachtete, war ein wenig anders, aber die Reihenfolge der Bergspitzen erkannte Nils wieder. So riesig dieser Höhenzug erschien, er lag immer noch innerhalb des Reservates. Daraus schloss Nils, dass das Wesen, das die Kuppel erzeugt hatte und bewahrte, von ungeheurer Macht sein musste, wenn es tatsächlich lebte.

Nils horchte in sich hinein. Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Nein, eine unbestimmte Furcht empfand er nicht, nur diese unnatürliche Kälte.

Endlich hatten sie genügend Platz, um nebeneinander herzugehen und die Rûngori bewegten sich wieder so schnell, dass Nils sich bemühen musste, mit ihnen Schritt zu halten. Trotzdem gelang ihm ein unauffälliger Seitenblick auf sie. Er konnte keine Anzeichen für eine Furcht erkennen. Falls sie tatsächlich etwas Derartiges spürten, gelang es ihnen sehr gut, es zu verbergen.

Schon von weitem erkannte Nils einen kleinen Fluss, der sich durch eine baumlose Niederung schlängelte. Und dort stand auch die Hütte, von der Elvis gesprochen hatte. Da sollte sich Charlotte versteckt halten.

Narvidur hatte Nils in der Zwischenzeit ein wenig über diese merkwürdigen Tore erzählt, die es möglich machten, zwischen der Erde und Rûngnár hin- und herzuwechseln. Es handelte sich eigentlich um Orte, an denen die Schwingungen beider Welten so weit angeglichen werden konnten, dass die Grenze zwischen ihnen durchlässig wurde. Gleichzeitig veränderte sich aber auch die Dichte derjenigen, die die Tore durchschritten. In beiden Welten waren sie durch ein schwaches Flimmern erkennbar, das aber nur so lange bestehen blieb wie das Tor, und das waren nur wenige Augenblicke. Auf die zufällige Öffnung eines solchen Tores an einem bestimmten Ort zu warten, war unmöglich. Man hätte ewig warten können. Aber manche Menschen und Rûngnári besaßen die Fähigkeit, solche Tore entstehen zu lassen und das unabhängig von einem bestimmten Ort. Nur so waren planvolle Übergänge möglich. Zu ihnen gehörten Narvidur, die zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte Cereia und Charlotte, die kurz darauf auf den Plan trat. Nils besaß die Veranlagung dazu, was er aber nicht wusste. Zu dieser Zeit war er aber noch nicht im Stande, sie anzuwenden.

Nils war erstaunt gewesen, mit welcher Geduld Narvidur versucht hatte, ihm die Zusammenhänge zu erklären. Worüber er weniger erstaunt war, das war die Tatsache, dass er es nicht verstand. Immerhin begriff Nils, dass es sich um eine Magie handelte, die er einige Tage vorher noch als völligen Unsinn abgetan hätte, wie jede andere Magie auch. Umso mehr bewunderte er sich selbst, dass er sie in der Welt der Rûngori innerhalb so kurzer Zeit für eine beinahe alltägliche Erscheinung hielt.

Nils´ Übertritt war beabsichtigt gewesen. Von wem, das würde er schließlich beim Tchelasan erfahren. An dem Ort, an dem er herausgekommen war, sollte er von Freunden Narvidurs abgeholt werden. Doch entweder war er zu früh aufgetaucht oder die Rûngori hatten sich verspätet, das mussten sie noch herausfinden. Jedenfalls hatten sie sich verfehlt. So kam es, dass Nils von den Wächtern gefangengenommen und abgeführt wurde, bevor die Gesandten ihn befreien konnten. Sie erfuhren noch nicht einmal, was mit Nils geschehen war. Daher war es ein glücklicher und ungemein unerwarteter Zufall, dass sich Nils und Narvidur schließlich in der Kerkerzelle begegneten.

So, wie Elvis vom Auftauchen Charlottes gesprochen hatte, schien das nicht zufällig geschehen zu sein. Nils fragte sich, ob sie beide aus dem gleichen Grund in der Welt der Rûngnári angekommen waren, den er hoffentlich bald erfahren würde.

Narvidur klopfte vernehmlich an die Tür der Hütte.

„Charlotte! Kela om bo lem!“, sagte er laut.

Es kam keine Antwort.

„Charlotte?! Kela om bo lem! Tophal, Torfrida, Nils und Narvidur sind hier. Wir kommen dich abholen. Mach die Tür auf.“

Er rüttelte an dem Griff. Mit einem Quietschen öffnete sich die Tür. Der Schuppen war klein und es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken, aber auch keine Spur von Charlotte.

„Meinst du, sie hat Angst vor uns und ist abgehauen?“, fragte Nils.

„Unsinn“, meinte Narvidur. „Sie kennt uns. Charlotte ist auch nicht das erste Mal in dieser Welt.“

„Auch?“, fragte Nils, als ob ihm plötzlich etwas schwante. Irgendetwas, glaubte er, braute sich über ihm zusammen.

„Ja.“

Plötzlich schwebte ein Schatten neben Nils vom Himmel und erschrocken griff er an sein Schwert. Doch als er erkannte, wen er vor sich hatte, ließ er seinen Arm wieder sinken.

„Willst du eine schwache Frau wirklich mit einem Schwert angreifen?“, fragte sie mit einem leutseligen Gesichtsausdruck und blickte Nils unverwandt an.

„Ich, äh, nein“, erwiderte Nils. „Entschuldigung.“

Nils war weniger verwirrt über ihre Frage, als vielmehr durch die Art ihres Auftauchens, denn ein Sprung aus dieser Höhe nahm üblicherweise weniger Zeit in Anspruch. Vielleicht lag es auch daran, dass er zum ersten Mal einer angeblichen Hexe gegenüberstand.

Er schätzte Charlotte auf sein Alter, und dass sie eine Schweizerin war, war deutlich an ihrem Dialekt zu erkennen. Sie besaß feuerrote, schulterlange Haare und grüne Augen. Auch wenn sie nicht rûngorisch leuchtenden, so war Nils doch überzeugt davon, dass sie es in Augenblicken des Zornes oder der Leidenschaft tun würden, oder wenn es galt, jemanden von ihren Worten zu überzeugen, der sich damit ein wenig schwertat, vorausgesetzt, sie war tatsächlich eine Hexe. Insoweit kam sie dem Klischee einer Hexe nahe. Aber ihr durchaus ansehnliches Gesicht wurde weder von einer gewaltigen Nase noch von einer fetten Warze an derselben oder an einer anderen sichtbaren Stelle verunstaltet. Charlottes Lächeln überzeugte ihn davon, dass ihre makellosen Zähne keine Lücken aufwiesen. Allerdings passten ihr langes, dunkles, etwas schlotteriges Kleid und ihre abgewetzte Umhängetasche aus Leder zu ihrer angeblichen Profession.

Wenn sie tatsächlich eine Hexe ist, dann ist sie noch nicht lange im Geschäft, dachte er schmunzelnd, nachdem er sich von seinem Schrecken wieder erholt hatte. Glücklicherweise deutete Charlotte sein Lächeln als Verlegenheit.

„Warum hast du auf meinen Zuruf nicht geantwortet?“, fragte Narvidur. „Und warum warst du auf dem Dach und nicht in der Hütte?“

„Weil es in der Hütte nicht sicher war. Dem ersten Trupp Wächter sind Maart und ich entkommen, doch kaum hatte er mich hierher gebracht, kam der nächste und größere vorbei. Sie fanden den Stall hier so interessant, dass sie ihn inspizierten. Natürlich hätte ich mich ihrer erwehren können, aber ihr habt es mir ja verboten. Also habe ich mich auf dem Dach versteckt. Und dort bin ich ein wenig eingenickt. Das ist alles.“

„Und den Wächtern ist wirklich nichts passiert?“, vergewisserte sich Tophal.

Nils fand es seltsam, dass Tophal so um die Wächter besorgt schien.

„Ich schwöre es. Ich habe sie weder in Mäuse noch in Spatzen oder Mistkäfer verwandelt, sondern laufen lassen, wie versprochen.“

Nils war sicher, dass sie jetzt mit ihnen ihre Späße trieb – oder etwa nicht?

„Das war auch besser so“, meinte Narvidur. „Du weißt, was alles passieren kann.“

„Nur bei mir macht ihr euch deswegen Sorgen“, grummelte Charlotte und beschloss, für eine Weile zu schmollen.

„Also gut“, meinte Tophal. „Ich will dir glauben. Dann lasst uns von hier verschwinden, bevor die Wächter zurückkommen oder ein anderer Trupp auftaucht.“

Von der Hütte entfernte sich genauso wenig ein Pfad, wie einer zu ihr hinführte. Die Schleuse war schon seit langer Zeit nicht mehr in Betrieb und es gab keinen Verkehr mehr, seit die Bewohner das Reservat verlassen hatten. Die Feldwege waren inzwischen wieder von Gras überwuchert und nicht mehr zu erkennen. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich ihren Weg selbst zu bahnen.

Eine Weile gingen sie über die ebene Steppe und nur selten gab es Hindernisse in der Gestalt von Bächen oder Gräben. Manche von ihnen schienen einst von Rûngorihand angelegt worden zu sein. Sie waren zwar verwildert, aber von unnatürlich geradem Verlauf. Und immer wieder stießen sie auf die Überreste verfallender Brücken.

Es war ihnen klar, dass sie sich wie auf einem Präsentierteller bewegten, aber es gab für einige Zeit nirgends die Möglichkeit, im Schutz von Deckungen voranzukommen. Immerhin galt das Gleiche für die Rûngori-Wächter. Wenn sie in ihrer Aufmerksamkeit nicht nachließen, konnten Krieger sich ihnen kaum unbemerkt nähern.

Tophal und Narvidur gingen schweigsam nebeneinander her. Dahinter folgte Torfrida und den Schluss bildeten Nils und Charlotte. Die Rûngori gingen schnell und Nils wusste, dass sie möglichst rasch die freie Fläche überwinden wollten. Immer wieder ließen sie ihre Blicke über die Ebene gleiten und richteten sie von Zeit zu Zeit auch in den Himmel, als fürchteten sie eine Gefahr von oben. Ihre offensichtliche Unruhe steckte Nils an und so sah auch er sich gelegentlich am Himmel um, stets in der Hoffnung, nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Eigentlich konnten es auch nur Drachen sein, glaubte er.

Nils musterte Charlotte möglichst unauffällig. Als sie es doch bemerkte, erwiderte sie seinen Blick. Da musste Nils irgendetwas sagen und es fiel ihm nichts Besseres ein, als:

„Du bist wirklich eine Hexe?“

Charlotte sah ihn abwägend an und im gleichen Augenblick fand er diese Frage töricht und unfreundlich, aber nun hatte er sie gestellt.

„Woran hast du das bemerkt?“, fragte sie zurück.

„Noch gar nicht. Es wird behauptet.“

„Das ist gefährlich. Behauptungen solcher Art haben schon viele Frauen in Gefahr gebracht, die damit überhaupt nichts zu tun hatten. Manch einer hat es sogar das Leben gekostet.“

„Das ist doch lange her“, meinte Nils.

„Auf der Erde, aber nicht in Rûngnár.“

„Wirklich?“

„Es gibt hier Gegenden, da sollte man es nicht unbedingt erwähnen“, sagte Charlotte. „Aber abgesehen davon ist es unhöflich, eine Frau, vor allem, wenn man sie nicht kennt, eine Hexe zu nennen.“

„Ja, ich weiß. Es ist mir so herausgerutscht. Entschuldigung. Aber so wurdest du mir vorgestellt.“

„In meiner Abwesenheit? Das ist ja noch unhöflicher. Na gut, in diesem Fall stimmt es aber. Ja, ich bin eine Hexe.“

„Charlotte, ich darf dich daran erinnern, dass du bei anderen Gelegenheiten durchaus Wert auf die Anerkennung dieser Eigenschaft legst“, erinnerte Torfrida sie lächelnd. „Also warum zierst du dich jetzt so?“

„Es ist nur -. Ach ich weiß auch nicht. Nils, soll ich dir etwas von meinem Können zeigen?“

„Ach, ne, lass `mal.“

Auch wenn er ihr nicht glaubte, was sie behauptete, so erweckte ihre Frage doch ein gewisses Unbehagen in ihm. Nils konnte sich zwar nicht vorstellen, dass es stimmte, trotzdem war ihm die Sache unheimlich. Da galt es, vorsichtig zu sein. In dieser Welt war schließlich einiges möglich, wie er herausgefunden hatte.

Charlotte grinste ihn schelmisch an.

„Und du bist der große Erdenkrieger“, riss ihre Stimme ihn aus seinen Gedanken.

„Wie? Der was?“, erwiderte Nils entgeistert.

„Haben sie dir noch nichts erzählt? Unsere Aufgabe? Warum du hier bist?“

„Äh, nein. Ich weiß ja nicht einmal, woher ich komme und wer ich bin. Aber Narvidur hat mir versprochen, dass ich bald alles erfahren werden.“

Charlotte sah ihn offen an und in ihrem Blick lag ein Schimmer von Mitleid. Dann war es doch schwieriger, dich zum Herkommen zu überreden, dachte sie. Du hättest dir all die Unwissenheit ersparen können.

Tophal, der sonst so Verschwiegene, schritt ein, bevor Charlotte noch mehr unbedachte Äußerungen machen konnte.

„Charlotte, bitte. Es war noch nicht an der Zeit. Auf dem Tchelasan wird er es erfahren. Hier ist nicht der rechte Ort. Bis dahin ist Nils bei uns in guten Händen.“

„Aber – “, begann sie.

„Kein aber“, unterbrach Tophal Charlotte in sehr bestimmtem Tonfall. „Später. Wir kümmern uns schon darum, keine Sorge.“

„Also gut, wenn du es sagst.“

Nils spürte, dass ihr die Worte des Tchela gar nicht recht waren und sie sich gern darüber hinweggesetzt hätte, aber offensichtlich gab es eine gewisse Hierarchie in ihrer Gruppe und Tophals Worte galten etwas. Nils fragte sich, wo er innerhalb dieser Hierarchie stand, wenn er denn einen Platz darin hatte. Aber die Antwort lag für ihn auf der Hand. Er musste wohl froh sein, dass sie sich überhaupt mit ihm abgaben.

Er verfiel wieder ins Grübeln. Das, was er in letzter Zeit erlebt hatte, war schon allerhand. Und jetzt begegnete ihm in dieser Welt auch noch eine Schweizerin, die von sich ernsthaft behauptete, eine Hexe zu sein und von ihm als einen »großen Erdenkrieger« sprach und von einer Aufgabe, die vor ihm lag. Vielleicht fiel ihm ja doch irgendeine Rolle dabei zu. Selbst wenn ihre heroische Bezeichnung für ihn sicher nicht ernst gemeint war, war alles andere ganz schön viel für jemanden, der den größten Teil seines Gedächtnisses verloren hatte, fand Nils. Vielleicht hatte Tophal ja Recht und er, Nils, war in den Händen seiner Begleiter gut aufgehoben, aber er sah sich kaum in der Lage, das beurteilen zu können. Und es gab allerhand Gründe, daran zu zweifeln. Seine Gedanken schweiften ab.

Plötzlich sah er wieder seine drei Richter in dem bizarren Schloss von Bihaford vor sich und hörte die Worte Narvidurs, die behaupteten, der Fürst, der Mönch und der Feldherr wünschten sich, Märchenhelden zu werden. Das war vollkommen absurd – oberflächlich betrachtet. Der Wunsch war von den Ereignissen vereitelt worden, denn zumindest Fürst Dyrgorn war bei den Kämpfen auf der Strecke geblieben, aber vielleicht war er ernstzunehmender, als es aussah. Zweifellos entsprang dieser Wunsch der Absicht, in dieser Welt eine bestimmte Bedeutung zu erlangen und sie wurde mit Sicherheit von manch einem anderen Rûngori geteilt. Aber war ein solches Denken den Menschen fremd? Andererseits würde kaum jemand auf der Erde auf den Einfall kommen, ein Märchenheld sein zu wollen.

Nach allem, was Nils bisher in Rûngnár erlebt hatte, besaß diese Welt tatsächlich etwas Märchenhaftes, und nicht erst, seit sich ihnen eine angeblich echte Hexe angeschlossen hatte. Nils zählte in Gedanken auf: die Drachen, die Magie Narvidurs, von der Nils immer noch nicht viel gesehen hatte, dem außergewöhnlichen Volk von Rûngor, die Erdgeister, besonders weil sie sichtbar waren, blaue Rehe, sechsbeinige Pferde und noch einiges mehr. Auch wenn er den größten Teil seiner irdischen Vergangenheit vergessen hatte, so überzeugten ihn seine verbliebenen und die zurückgekehrten Erinnerungen davon, dass es all diese Dinge auf der Erde nicht gab. Da konnte Charlotte noch so oft behaupten, sie sei eine Hexe.

Nils überlegte, ob es möglich war, dass sich die Welt der Rûngori in den Märchen der Menschen widerspiegelte, schließlich waren die Welten nicht völlig voneinander getrennt. Und die irdischen Märchen waren alles andere als friedliche Kindergeschichten. Es waren Geschichten nicht selten voller Grausamkeit und Niedertracht und quollen über von den merkwürdigsten Gestalten und unmöglichsten Abenteuern ihrer Helden. Nils war sicher, bei weitem noch nicht alles kennengelernt zu haben, was es in Rûngnár gab. Narvidur hatte selbst gesagt, dass es gegenseitige Einflüsse gab und als deutlichstes Beispiel kamen ihm die beiden Drachen Sokrates und Aristoteles in den Sinn, die einige Zeit unter den Völkern des Altertums bekannt gewesen sein sollten, wenn auch sicher unter anderen Namen. Ohne Frage konnten sie dann der Ursprung zahlreicher Erzählungen und Heldensagen sein.

Obwohl es keinen Grund dafür gab, hellte sich Nils´ Stimmung spürbar und auf wundersame Weise auf, denn er glaubte plötzlich in der Lage zu sein, ein bemerkenswertes Bild zu erblicken, wie die Welten der Menschen und der Rûngori miteinander verwoben waren. Wenn er genügend Zeit hatte, und ein Ende seines Aufenthaltes in Rûngnár war ja noch nicht abzusehen, dann würden sich wahrscheinlich viele Fragen von allein beantworten, auch ohne die Erklärungen seiner rûngorischen Begleiter. Aus seiner trüben, von dichtem Nebel der Erinnerungslosigkeit eingehüllten Niedergeschlagenheit schwang er sich zu der Erkenntnis auf, wie aufregend und außergewöhnlich seine Lage war. Wahrscheinlich teilte er seine noch kümmerlichen Kenntnisse Rûngnárs nur mit einer winzigen Anzahl anderer Menschen. Und er hatte immer noch keine Ahnung, wofür das alles gut sein sollte.

Und doch fiel es Nils nicht leicht, mit uneingeschränkter Zuversicht in die Zukunft zu blicken, denn es war anzunehmen, dass ihm weitere Gefahren und phantastische Begegnungen bevorstanden, und er hasste Ungewissheit.

Plötzlich spürte er den Blick Charlottes auf sich ruhen. Sie lächelte ihn an, als er aufblickte.

„Du denkst nach“, stellte sie fest. „Man spürt förmlich, wie deine Gedanken sich überschlagen.“

Nils lächelte zurück.

„Überschlagen ist vielleicht der falsche Ausdruck, aber es stimmt schon, ich habe nachgedacht. Hat man mir das angesehen oder kannst du Gedanken lesen?“

Diese Gewissheit, nämlich dass ihr seine Überlegungen nicht verborgen blieben, wäre ihm überhaupt nicht recht gewesen.

Charlotte lachte und es klang weder überheblich noch spöttisch.

„Nein, keine Sorge. Außerdem, Gedanken sind heilig. Allerdings verrät mir dein Gesicht, wie es in dir arbeitet und ich erkenne, dass deine Aufmerksamkeit für unsere Umgebung sträflich nachgelassen hat. Das, worüber du nachdenkst, mag ja bedeutungsvoll sein, aber ein späterer Zeitpunkt wäre dafür vielleicht günstiger. Immerhin stelle ich fest, dass deine Niedergeschlagenheit auf wunderbare Weise nachgelassen hat. Vorhin war sie nicht zu übersehen gewesen. Habe ich Recht, wenn ich glaube, dass sie einer zuversichtlichen Spannung Platz gemacht hat?“

„Sag´ `mal, du kannst ja doch Gedanken lesen.“

„Ich sage es dir noch einmal. Nein, das kann ich nicht. Aber ich kann Stimmungen spüren. Und das vielleicht besser als andere.“

„Das ist doch fast das gleiche, oder?“

„Na ja, in einem gewissen Sinne schon. Es lässt sich einiges daraus schließen. Aber keine Angst, ich erzähle es nicht weiter.“

„Das wirst du auch nicht brauchen. Wahrscheinlich können es die anderen hier auch.“

Nils sah Charlotte prüfend an. Auch wenn du es nicht zugeben willst, dachte er, bin ich überzeugt, dass du Gedanken lesen kannst. Alle Hexen können Gedanken lesen.

Der Blick, den Charlotte erwiderte, ließ alle Deutungen offen. Dabei lächelte sie nicht einmal.

„Hat dein Stimmungswandel etwas mit meiner Anwesenheit zu tun?“, fragte sie spitzbübisch.

„Hä? Wie kommst du jetzt darauf?“

„Ach, nur so“, erwiderte sie.

Nils jedenfalls konnte nicht erkennen, was Charlotte in diesem Augenblick dachte.

„Darf ich dich etwas fragen?“, sagte er. „Etwas, äh – Berufliches.“

„Nur zu“, ermunterte sie ihn. „Wenn ich will, bekommst du auch eine Antwort.“

„Welche Art von Hexe willst du sein?“

„Du glaubst es nicht, stimmt´s. Lass dich überraschen. Aber deine Frage verstehe ich nicht.“

„Na ja, es soll doch Weißmagier, Schwarzmagier, Totenbeschwörer, einfache Zauberer und weiß der Teufel – oh, Entschuldigung – was noch alles geben. Das wird bei richtigen Hexen doch bestimmt nicht anders sein.“

„Was macht dich so sicher, dass es solche Wesen überhaupt gibt, wenn du mir und den anderen schon nicht glaubst, was ich bin.“

„Ja, das ist wahr. Deshalb sagte ich, es soll sie geben, und bis vor wenigen Tagen hätte ich es, soweit ich mich erinnern kann, rundweg abgestritten. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. In der Zwischenzeit ist viel geschehen, weißt du, und Narvidur behauptet von sich, ein Zauberer zu sein, und ich hoffe, er meint damit einen Weißmagier. Außerdem habe ich Dinge gesehen, die ich vorher nie für möglich gehalten hätte. In dieser Welt scheint mir vieles Unmögliche möglich.“

„Greife einmal in die Innentasche deiner Jacke“, forderte sie Nils auf, ohne einen Grund anzugeben.

Zögernd kam er ihrem Wunsch nach. Es knisterte, also war es keine Kröte und keine Schlange. Er zog eine Tüte mit Schokoriegeln hervor.

„Nanu, wo kommt die denn her? Hast du -?“

Sie nickte feixend.

„Wann denn? Ich habe nichts bemerkt. War ich vorhin so abwesend?“

Charlotte rollte mit den Augen.

„Ja, glaubst du denn, ich habe dir die Schokolade in die Jacke gesteckt, sozusagen als Begrüßungsgeschenk? Himmel, nein. Ich habe sie dir gerade eben hineingezaubert.“

„Aha, na dann, vielen Dank. Möchtest du auch ein Stück?“

Na gut, das hat ihn nicht überzeugt, dachte sie kopfschüttelnd.

„Ja.“

Nils reichte die Tüte `rum, aber die Rûngori lehnten dankend ab.

„Wie ist das nun?“, fragte Nils noch einmal. „Schwarz oder weiß oder noch anders?“

„Du glaubst es ja doch nicht“, meinte sie kauend. „Ich bin alles, so wie es gebraucht wird. Zufrieden? Ich habe meine Ausbildung mit einem Diplom abgeschlossen?“

„Ach ja, so etwas gibt´s? Interessant. Na gut. Eine andere Frage, wenn du darauf antworten willst. Hast du noch einen anderen Beruf?“

„Du meinst, einen, von dem ich lebe? Das könnte ich davon auch, aber es könnte das Misstrauen der Nachbarn erregen. Ich arbeite in der Eheberatung.“

Nils hustete gekünstelt, als hätte er sich an einem Stück Schokolade verschluckt.

„In der was? Eheberatung? Das ist ja toll.“

„Warum? Arbeitest du da auch?“

Nils schüttelte den Kopf.

„Nein, ich glaube nicht. Es ist nur, hier hätte ich keine Eheberaterin erwartet.“

„Hier bin ich ja auch in meiner Eigenschaft als Hexe, falls du das schon wieder vergessen hast.“

Nils überhörte nicht, dass Charlotte sich einige Mühe gab, ihre aufkommende Verärgerung zu unterdrücken. Sie schien leicht reizbar zu sein und alles, was sie gesagt hatte, ernst zu meinen. Vielleicht sollte er mit seinen Zweifeln ein wenig zurückhaltender sein. Am Ende sagte sie doch die Wahrheit und verwandelte ihn aus lauter Unmut in irgendetwas Kleines und Hässliches. Ihm fiel ein, was sie über die Wächter gesagt hatte. Und falls die Möglichkeit bestand, dass es so ausging, wollte er es lieber vermeiden, sie noch mehr herauszufordern.

„Schon gut, nochmals Entschuldigung. Ich wollte dich nicht kränken.“

„Schau an, wie feinfühlend du bist.“

„Nicht wahr.“

Nils kam ein Gedanke. Vielleicht war Charlotte ja in der Lage, seine verlorengegangene Erinnerung wiederzubeleben. Wenn sie die Hexe war, die sie vorgab zu sein, nämlich mit Diplom, dann sollte sie es können. Doch dann kamen ihm genauso plötzlich Zweifel, wie die Hoffnung aufgekeimt war. Was würden die anderen davon halten? Noch als er um eine Entscheidung rang, sah er ihr erschrockenes Gesicht.

„Was –?“

Mit einem verhaltenen Aufschrei stürzte sie sich auf Nils. Im gleichen Augenblick lagen sie nebeneinander in einer flachen Senke.

„Oh, wir Rindviecher“, fluchte Charlotte gepresst. „Beim Barte meiner Großmutter! Schmoren sollen wir in ihrer Küche! Wie konnte ich mich von dir nur so ablenken lassen? Ich Anfängerin!“

Sie deutete nach vorn. Vorsichtig hob Nils seinen Kopf. Von ihren Begleitern war weit und breit nichts zu sehen.

„Was ist denn los? Ich sehe nichts.“

Charlotte legte einen Zeigefinger auf ihren Mund und er schwieg. Nils richtete sich noch ein wenig weiter auf, aber sie zog ihn wieder herunter. Doch dieser kurze Augenblick hatte ausgereicht, um den Schatten zu erkennen, der sich ein Stück vor ihnen erhob. Erschrocken duckte Nils sich wieder ab und ein wenig umständlich zog er sein Schwert.

„Was ist das?“, fragte er flüsternd.

Nils bekam keine Antwort, stattdessen verdunkelte sich seine Umgebung und er konnte nichts mehr sehen.

In der Kürze der Zeit hatte er kaum eine Gestalt erkennen können, aber was er gesehen hatte, schien ihm bedrohlich genug zu sein. Dass sich ihnen der Schatten auf geradem Wege näherte, war ihm nicht aufgefallen, aber er hörte ein zunehmendes Brummen und Klopfen. Dann senkte sich ein Tuch, eine Decke oder ein Mantel über ihn und deckte ihn vollständig zu. Neben sich hörte er Charlotte leise atmen. Zu allem Übel fühlte er einen aufkeimenden Niesreiz. Das ist jetzt bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt, dachte er und kämpfte ihn verzweifelt nieder.

Charlotte öffnete einen kleinen Sehschlitz. Die Luft schien rein. Er wusste nicht, was er tun sollte, und Charlotte gab keine Erklärungen. Nils wagte kaum zu atmen. An seiner Seite hielt er sein Schwert, aber er war sich nicht sicher, ob es ihnen helfen würde. Er wusste nicht einmal, ob das Phantom, das sich vor ihnen auftürmte, feindlich oder freundlich war, aber Charlottes Reaktion ließ nicht so sehr auf das Letztere schließen. Alle Gedanken an Tophal, Narvidur und Torfrida waren verschwunden. Dann sah er es und Panik überkam ihn. Nils musste sich zwingen, nicht einfach aufzuspringen und wegzulaufen.

Das Wesen war vor ihnen stehengeblieben und damit hatten auch die fremdartigen Geräusche aufgehört. Es war größer als Nils, so viel war sicher. Und es war nuancenlos grau, ohne Anzeichen für irgendwelche Bekleidung. Der Körper bestand aus einem tonnenförmigen Rumpf, zwei kurzen, stämmigen Beinen und an jeder Seite hingen zwei dicke, übermäßig lange Arme herab. Der Blick auf den Kopf der Gestalt war durch die Decke abgeschnitten und die Hände hingen verborgen unterhalb der Graskuppe vor ihnen.

Das Wesen drehte sich einmal zu dieser, einmal zu jener Seite und schien zu wittern, denn es zog mehrmals kurz aber vernehmlich Luft ein. Es schien sich vergewissern zu wollen, dass niemand anderes in der Nähe war. Dann machte es einen Schritt auf das Versteck von Charlotte und Nils zu und – Nils stockte das Herz – bückte sich zu ihnen herab.

Grünleuchtende Augen aus einem Gesicht ohne Mund und ohne erkennbare Nase starrten sie an. Beide schrien sie erschrocken auf. Charlotte, weil sie wusste, mit was sie es zu tun hatten, und Nils einfach so vor Entsetzen. Er wollte aufspringen und fliehen, aber bei diesem Gedanken blieb es, denn bevor er sich bewegen konnte, griffen die Arme des Ungeheuers unerbittlich zu und hielten ihn und Charlotte umklammert. Sie waren in der Decke gefangen und Nils spürte, wie er und Charlotte so zusammengedrückt wurden, dass ihm die Luft wegblieb. Er kam gerade noch dazu zu niesen, als sich ihre Haare in seinem Gesicht breitmachten, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Reise nach Rûngnár

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