Читать книгу Reise nach Rûngnár - Hans Nordländer - Страница 6

4. Im Versteck der Verschwörer

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Nachdem sie einige Zeit unterwegs waren – Nils wusste zwar, dass ihn sein Zeitgefühl in dieser Welt schon mehrmals im Stich gelassen hatte, aber er rechnete doch mit einigen Stunden – blieb Narvidur plötzlich vor ihm stehen. Nils blickte an ihm vorbei und erschrak. Nicht weit vor ihnen leuchteten zwei türkisfarbene Augenpaare in der Dunkelheit. Nils ergriff unwillkürlich das Heft seines Schwertes und wollte es schon ziehen, als er die beruhigenden Worte des Rûngori hörte.

„Lass es stecken. Du zerschneidest dir nur deinen Gürtel. Es sind meine Freunde, die mich hier erwarten. Aber immerhin, deine Reaktion auf eine mögliche Gefahr ist beachtlich. Du hast schnell gelernt. Sehr gut.“

Nils begriff nicht, dass Narvidurs Äußerung einen tieferen Sinn hatte. Er kam aber nicht mehr dazu, sich darüber Gedanken zu machen, denn Worte in einer fremdartigen Sprache nahmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch.

„Mori tha ino“, sagte Narvidur laut.

„Tho tehamo en ge ino”, lautete die Antwort.

„Lo ge Narvidur heim Nils Holm. Kahente em Bihaford. Eh mortia.“

„Xeh ago ino de. Torfrida heim Tophal.”

„Strago.“

Die vorletzten Worte hatte eine Frau gesprochen, und wenn er Narvidur richtig zugehört hatte, dann hatte sie ihren Namen und den ihres Begleiters genannt: Torfrida und Tophal. Nils war überrascht. Ohne nachzudenken, hätte er hier nur Männer und dazu Krieger erwartet. Auf jeden Fall aber Feinde – und keine Frau. Für einen kurzen Augenblick befürchtete er, dass seine Erlebnisse in der Burg einen beginnenden Verfolgungswahn bei ihm ausgelöst hatten. Allerdings lag er mit seiner Erwartung nicht vollkommen falsch. Vor ihm standen tatsächlich zwei Krieger oder besser, ein Krieger und eine Kriegerin. Aber eben keine Feinde.

„Es sind Torfrida und Tophal“, bestätigte Narvidur seine Vermutung. „Sie sollten hier auf mich warten. Mit ihnen gelangen wir in unseren Unterschlupf für diese Nacht. Du wirst müde sein.“

„Jetzt nicht mehr, nach diesem Schreck“, meinte Nils. „Aber warum haben sie auf dich gewartet? Wussten sie denn, dass du hier entlangkommen würdest?“

„Ja, aber das erkläre ich dir später.“

Nils sah, wie sich die Augen der beiden anderen Rûngori abwandten, und hörte vor sich Zweige rascheln. Narvidur folgte ihnen mit einigen schnellen Schritten und Nils hatte Mühe, ihn in der Dunkelheit nicht zu verlieren.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie ihr Ziel erreichten. Seit ihres Zusammentreffens mit Torfrida und Tophal leuchteten auch Narvidurs Augen wieder. Nils hielt das für ein beruhigendes Zeichen. Vor sich hörte er leise eine Tür knarren. Nils Augen hatten sich bereits so an die Dunkelheit gewöhnt, dass er sofort den schwachen Lichtschimmer im Türschlitz wahrnahm. Schnell schmuggelten sie sich in den dahinterliegenden Gang und Torfrida schloss die Tür wieder.

„Jetzt seid ihr in Sicherheit“, sagte sie. „Nils, es ist ein großer Vertrauensbeweis, dass wir dich in unser Versteck einlassen. Du bist einer von sehr wenigen Menschen, denen er gewährt wird.“

Bestimmt nicht aus reiner Zuneigung, dachte er, hütete sich aber, seine Zweifel laut zu äußern. Immer stärker hatte er den Eindruck, dass die Rûngori etwas von ihm erwarteten und er war sicher, dass sie nicht die Freundschaft der Steppenkrieger genossen, denn sonst würden sie nicht so heimlich tun müssen. Er fragte sich, welche anderen Menschen noch dieses Privileg besaßen. Und waren die Rûngori denn keine?

Der Tür schloss sich ein Stollen an, der leicht abfallend in den Untergrund führte. Seine Decke und Wände bestanden aus nacktem Felsen und waren nur roh behauen. Auch der Fußboden war felsig, zeigte aber deutliche Abnutzungsspuren.

„Ist das hier ein Bergwerk?“, fragte Nils.

„Ja“, bestätigte Narvidur, „aber es ist stillgelegt und so alt, dass es bereits in Vergessenheit geraten ist. Wir sind nur zufällig darauf gestoßen.“

Nils nickte.

Es wurde kühler und feuchter, je tiefer sie kamen. Der Stollen war nicht ausgeleuchtet. Aber er führte geradewegs in einen hellen Raum, dessen schwachen Schimmer ihm bereits oben am Eingang aufgefallen war. Nils hoffte auf ein wärmendes Feuer, denn seine Kleidung war noch nicht trocken und er fror.

Seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Sie kamen in eine kleine Halle und hier gab es sogar zwei Feuerstellen. In der Mitte des Raumes befand sich in einer Vertiefung im Boden ein ansehnliches offenes Feuer, über dem ein stählerner Rauchabzug in die Felsdecke eingelassen war. Ein zweites Feuer brannte in einem steinernen Herd an der hinteren Wand. Es gab keinen Zweifel, dass er der Essenzubereitung diente.

Torfrida füllte einen Kessel mit Wasser aus einem Holzfass und stellte ihn auf den Herd, während sich Tophal daranmachte, Essen auf den Tisch zu bringen, Brot, Fleisch, Butter, Honig und einige Früchte.

Nils stellte sich vor das Lagerfeuer und streckte ihm wärmesuchend seine Hände entgegen. Jetzt würde seine Kleidung bald trocken sein, hoffte er.

„Dir ist auch kalt?“, wunderte sich Nils, als sich Narvidur zu ihm gesellte.

„Warum nicht? Schließlich war ich ebenso im Wasser wie du.“

Das stimmte zwar, aber Narvidur hatte nicht den Eindruck gemacht, als ob es ihn störte.

Jetzt hatte Nils die Gelegenheit, den Rûngori, der ihn aus dem Kerker der Burg gerettet hatte, noch genauer zu betrachten. Er ähnelte tatsächlich der Gestalt, die er sich in der Dunkelheit der Gefängniszelle vorgestellt hatte. Narvidur war gut einen Kopf größer als Nils, hager und machte äußerlich den Eindruck, ziemlich betagt zu sein. Aber so, wie er gekämpft hatte, war es zweifelhaft, ob seine Erscheinung einen Schluss auf seine körperliche Verfassung erlaubte. Narvidur trug einen langen, in diesem Augenblick ziemlich zerzausten Bart, was nach den letzten Stunden nicht verwunderte. Brandspuren waren keine mehr zu sehen. Sein Haupthaar war kurzgeschoren, aber nicht grau, wie Nils gedacht hatte, nachdem es ihm in der Düsternis des Geheimtunnels in der Burg so vorgekommen war, sondern schwarz, und es gab einen guten Teil seines Schädels preis. Im Übrigen hatte sein Gesicht nichts Auffälliges, wenn man von den meistens leuchtenden Augen und der aschfahlen Haut, den hervorstechendsten Merkmalen des Volkes der Rûngori, einmal absah. Sein Gewand bestand aus einer dunkelbraunen Robe, die von einem schwarzen Ledergürtel zusammengehalten war, mit einer Kapuze. Narvidurs Füße steckten in den allgegenwärtigen Sandalen. Offensichtlich waren die Schuster der Rûngori nicht sehr phantasievoll.

„Was siehst du?“, fragte Narvidur, ohne Nils anzuschauen.

Nils musste lächeln.

„Einen Zauberer, oder?“, meinte er.

„Wegen des Kriegers.“

„Nein, welcher Krieger? Aber wie du sehen bei uns fast alle Zauberer aus, jedenfalls in den Geschichten.“

Nils konnte sich tatsächlich nicht mehr daran erinnern, dass einer der letzten Angreifer Narvidur als Zauberer bezeichnet hatte, denn er hatte es Nils nicht übersetzt.

Narvidur musste lachen und jetzt hörte es sich das erste Mal befreit an.

„Ah, jetzt verstehe ich“, meinte er. „Was glaubst du wohl, wer euren Zauberern als Vorbild dient – in den Geschichten?“

„Kommt ihr oft zu uns?“, fragte Nils.

„Nein, überhaupt nicht“, erwiderte Narvidur. „Wir könnten es zwar, tun es aber nicht mehr, seit wir festgestellt haben, wie undurchschaubar und verworren eure Welt ist. Und die meisten Menschen, verzeih mir, sind einer näheren Bekanntschaft nicht wert. Es sind nur wenige Ausnahmen, mit denen wir in Verbindung treten.“

Narvidurs Urteil über die Menschen konnte Nils gar nicht teilen. Wenn er nach wie vor auch noch des größten Teils seiner Erinnerungen beraubt war, so konnte er sich kaum vorstellen, dass seine Artgenossen wirklich so schlecht waren, wie der Rûngori behauptete. Außerdem konnte Nils in den Umständen seines Auftauchens bei den Rûngori alles andere als den Versuch einer Kontaktaufnahme seitens Narvidurs und seiner Freunde mit ihm erkennen. Ihm schien es eher ein unerklärlicher Zufall, eine Art Unfall, zu sein, als ein absichtsvoller Vorgang. Immerhin war Narvidur freundlich genug gewesen, Nils nicht schon im Stich zu lassen, nachdem er ihn aus der Kerkerzelle befreit hatte. Dafür war Nils auch dankbar. Aber er glaubte nicht, dass Narvidur ihm besonders geneigt war, und deshalb war es ihm ein Rätsel, weshalb er sich immer noch mit ihm abgab, ihn sogar mit in ein Versteck seiner Freunde nahm.

„Du kannst uns Menschen ja beurteilen, wie du willst“, sagte Nils, „aber das Verhalten der Mehrzahl der Rûngori, denen ich bisher begegnete, war für mich auch nicht gerade sehr einladend und ich glaube, unter all den Umständen, die bei euch herrschen, ziehe ich die Nähe von Menschen vor. Keinesfalls scheinen mir die Angehörigen deines Volkes uns Menschen moralisch überlegen zu sein.“

„Für diesen kurzen Abschnitt deiner Reise muss ich dir Recht geben, was ich bedaure. Wenn du unser Volk besser kennengelernt hast, dann wirst du es sicher wohlwollender betrachten. Aber deine ersten Erlebnisse bei uns sind schlechte Beispiele für die Verhältnisse in unserer Welt, das gebe ich zu.“

„Allerdings“, meinte Nils. „Vor allem, wenn es stimmt, was du sagst, dass sich die Steppen- und die Bergkrieger fleißig bekriegen. Aber das ist jetzt auch wumpe, denn -.“

„Was?“, fragte Narvidur.

„Wie, was?“

„Was heißt »wumpe«?“

Nils lachte.

„»Wumpe« ist ein anderes Wort für egal oder gleichgültig. Ihr kennt es nicht?“

„Wieder etwas gelernt“, meinte Narvidur nur. „Und was ist jetzt – wumpe?“

„Das alles, so lange man uns hier unten in Frieden lässt“, sagte Nils sehr allgemein. „Ich will nur endlich wissen, wie ich hierhergekommen bin, schließlich kann ich mich nicht daran erinnern, von jemandem eingeladen worden zu sein – nein, eigentlich will ich nur wissen, wie ich wieder nach Hause komme. Und vielleicht noch, wo ich hier bin. Ich freue mich zwar, dass ihr euch so aufopferungsvoll um mich kümmert, aber wenn ihr mir einen Gefallen tun wollt, dann zeigt ihr mir, wo es zurück nach Heide geht.“

Daran, dass er in Heide in Schleswig-Holstein wohnte, erinnerte er sich inzwischen auch wieder.

Narvidur und Tophal blickten Nils nachdenklich an, doch bevor Narvidur antworten konnte, rief Torfrida die drei zum Essen. Damit war dieses Gespräch für eine Weile beendet, und Narvidur und seine Freunde hatten gute Gründe, es vorerst nicht wieder aufzunehmen.

Bei dem Anblick des Essens auf dem Tisch fielen Nils wieder die beiden Würste aus der Burg ein.

„Verdammt!“, entfuhr es ihm, als er sie suchte und nicht mehr finden konnte. „Ich habe die Würste verloren.“

„Nicht so schlimm“, meinte Narvidur kauend. „Wir haben genug hier. Ich fürchte, nach dem Bad im Fluss wären sie sowieso nicht mehr sehr genießbar gewesen.“

„Trotzdem schade“, fand Nils. „Vielleicht hätte ich sie dann als Andenken an meinen Überlebenskampf in der Burg behalten.“

Torfrida schmunzelte.

Als Nils jetzt an dem Tisch saß und der Lichtschein des Feuers seine Augen nicht mehr blendete, konnte er sich genauer in dem Raum umsehen.

„Was für ein Bergwerk war das hier?“, fragt Nils. „Es erscheint mir recht klein. Nach was wurde hier gegraben?“

„Wir haben zwar ein anderes Wort dafür, aber bei euch wäre es Zinn“, erklärte Narvidur. „Und was du hier siehst, ist längst nicht alles, aber mehr brauchen wir nicht.“

Nils nickte und nahm sich einen Kanten Brot und ein Stück gepökeltes Fleisch. Das gab es auch bei den Rûngori. Er probierte vorsichtig, denn in diesem Augenblick fielen ihm wieder die sechsbeinigen Pferde ein. Das Fleisch hatte zwar Ähnlichkeit mit Schweinefleisch, aber wie mochten sie in dieser Welt aussehen. Trotzdem, er hatte Hunger und es schmeckte gut. Eigentlich war es ein würdiger Ersatz für die beiden verlorengegangenen Würste. Während er aß, ließ er seinen Blick wandern.

An den Wänden hingen Decken und Felle und dazwischen waren immer wieder Fackeln aufgehängt, von denen aber nur einige brannten. Die Halle, eigentlich mehr eine Höhle, denn zwischen den Wandverkleidungen war immer wieder rauer Felsen zu erkennen, lediglich der Fußboden war geglättet worden, war nicht sehr geräumig. Sie durchmaß vielleicht fünfzehn Schritte, war aber unregelmäßig in ihren Ausmaßen. An der gegenüberliegenden Seite des Eingangs gab es eine weitere Öffnung, die mit Brettern verschlossen war. Nils vermutete, dass dort ein weiterer Gang tiefer in das Erdreich hineinführte. Sein Blick fiel auf drei Matten am Boden. Warum sollten es auch vier sein, dachte er, schließlich konnten Torfrida und Tophal wohl mit Narvidur rechnen, aber kaum mit mir. Immerhin bewiesen die Lager, dass sie in dieser Nacht nicht mehr aufbrechen würden, denn was konnte man an einem Ort wie diesem auch anderes tun, als ihn nach einer gewissen Zeit wieder zu verlassen.

Die einzigen Möbel in der Halle waren der Tisch und die zwei fellbedeckten Bänke, auf denen sie saßen. Außerdem gab es noch ein Regal mit verschiedenen Vorräten. Insgesamt war der Raum sehr sparsam eingerichtet. Trotzdem, für einen bloßen Unterschlupf war er erstaunlich wohnlich eingerichtet, und es schien, als wurde er häufiger benutzt. Nils fiel auf, dass es dort sehr trocken war, ganz anders, als man es von einer unterirdischen Höhle oder einem alten Bergwerk erwarten konnte, und ganz anders als im Stollen.

„Hm, wenn ich mich hier umsehe, für ein Versteck ist es ziemlich gemütlich.“

„Schön, dass es dir hier gefällt“, meinte Torfrida. „Trotzdem ist es nur ein Versteck.“

„Vor wem müsst ihr euch verstecken?“, fragte Nils und trank einen Schluck Tee.

„Eigentlich vor allen“, meinte Narvidur schmunzelnd. „Habe noch ein wenig Geduld. Du wirst alles erfahren, bald.“

„Und was ist mit meinen Fragen, die -?“

„Ich sagte doch: Noch ein wenig Geduld“, wiederholte Narvidur nachdrücklicher und sah Nils durchdringend an. „Was das angeht, wenigstens, bis wir mit dem Essen fertig sind.“

„Ihr tut sehr geheimnisvoll“, stellte Nils ein wenig beleidigt fest. „Da fällt es schwer, immer nur Geduld aufzubringen.“

Ihm behagte überhaupt nicht, von Leuten umgeben zu sein, die offensichtlich keine anderen Freunde hatten als sich selbst, und die anscheinend partout nicht gewillt waren, seine Fragen zu beantworten.

Nils spürte, wie Torfrida und Tophal ihn interessiert beobachteten, während er aß. Die beiden saßen ihm gegenüber. Besonders Torfrida schien ihn oft anzublicken. Nun ja, vielleicht wünschte Nils sich das auch nur, denn er musste zugeben, dass auch sie seine Blicke anzog. Sie war zwar eine Rûngori, aber auch unter menschlichen Gesichtspunkten mit gewissen Reizen ausgestattet.

Torfrida war nur wenig größer als Nils, angemessen für ihr Volk. Ihr braunes, lockiges Haar wallte über ihre Schultern. Ihre harmonischen Gesichtszüge und ihr anmutiger Körper, der in diesem Augenblick diesbezüglich allerdings in wenig vorteilhafter, wenn für ihre Lage vielleicht auch zweckmäßiger Kleidung steckte, machten sie für Nils zu einer interessanten Erscheinung. Einzig die grünleuchtenden Augen in ihrem fahlen Gesicht gaben Torfrida ein für menschliche Begriffe kränkliches Aussehen, das bei ihrer sonst anscheinend lebhaften Art ein wenig verwirrte. Dass sie eine Kriegerin sein sollte, konnte sich Nils trotz ihrer kämpferischen Aufmachung kaum vorstellen. Aber das lag daran, dass eine Frau als Kriegerin nicht in sein Weltbild passte. Der schweigsame Tophal schien im Wesen genau das Gegenteil von Torfrida zu sein. Er besaß erstaunliche Ähnlichkeit mit Narvidur und Nils konnte sich den Zauberer, wie er ihn scherzhaft genannt hatte, so in seiner Jugend vorstellen. Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass Tophal vielleicht der Sohn Narvidurs war. War Torfrida dann seine Tochter?

Nils wandte sich an Narvidur. Vielleicht erreichte er mehr, wenn er ein wenig auf die Höflichkeit achtete, was nicht unbedingt eine seiner Stärken war.

„Ich glaube, ich habe mich noch nicht bei dir für die Befreiung aus der Burg bedankt“, sagte er. „Du hast mich aus dem Kerker geholt, mir mehrmals das Leben gerettet und mich sicher durch die Kämpfe aus der Burg geführt, na ja, einigermaßen sicher jedenfalls. Ich glaube, ich stehe in deiner Schuld.“

„Schön, dass du das endlich einsiehst“, erwiderte Narvidur, anscheinend grundlos verärgert, und fing an, zu schmunzeln. „Ich weiß, es war eine anstrengende Zeit für dich. Ohne dass du es ahnst, habe ich sogar noch mehr für dich getan. Ich möchte es eine gute Schule nennen. Aber ich vermute, du hattest deinen Kopf zu sehr mit anderen Dingen voll, um das zu erkennen.“

„Ja, und ich bin nach allem ganz froh, dass er noch auf meinen Schultern sitzt“, meinte Nils. „Und weil ich ihn noch nicht verloren habe, und meine Geduld allmählich an ihre Grenze stößt, ist es an der Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten. Ich finde, du hast mich lange genug vertröstet.“

Inzwischen waren sie mit der Mahlzeit auch fertig, und Nils fiel es immer schwerer, mit seiner mühevoll unterdrückten Ungeduld hinter dem Berg zu halten. Er wollte wenigstens Antworten zu den Fragen haben, die zu beantworten Narvidur nach dem Essen bereit war.

„Ja, ich denke, es ist Zeit für einige Erklärungen“, sagte Narvidur ernst. „Doch was ich dir jetzt zu sagen habe, ist nur ein Teil von dem, was du erfahren wirst. Nicht alles kann ich dir jetzt erklären. Ich sagte dir vorhin, dass wir uns mit denjenigen Menschen, die für uns von Bedeutung sind, in Verbindung setzen. Einen umgekehrten Weg gibt es nicht.“

Nils fing an zu lachen.

„Dann habe ich wohl als Erster einen gefunden“, meinte er. „Ich kann mich nämlich nicht daran erinnern, jemanden von euch jemals getroffen, geschweige denn, gesucht zu haben. Unsere Begegnung war also reiner Zufall. Sie hat mir vielleicht das Leben gerettet, aber das wird kaum eure Absicht gewesen sein. Hm, da kommt mir die Frage, wer »ihr« denn überhaupt seid. Andererseits, vielleicht will ich die Antwort gar nicht wissen. Vielleicht setze ich mit diesem Wissen mein Leben ja erneut aufs Spiel. Es ist besser, ihr schickt mich einfach wieder nach Hause, ohne mir eure Identität zu offenbaren.“

Die drei Rûngori sahen Nils erheitert an.

„Keine Sorge, von uns hier trachtet dir keiner nach dem Leben“, meinte Narvidur. „Auch dann nicht, wenn du weißt, wer wir sind. Auch das wirst du bald erfahren.“

„Warum wollt ihr mir sagen, wer ihr seid? Ich dachte, ihr seid geheim. Warum wollt ihr mir, einem Fremden, eure Geheimnisse verraten? Ich habe doch gar nichts mit euch zu tun. Habt ihr keine Angst, ich könnte es ausplaudern?“

„Nein, und vorläufig sowieso nicht“, sagte Narvidur, „denn wir haben nicht die Absicht, dir jetzt darüber etwas zu sagen. Das wird zu einem späteren Zeitpunkt geschehen. Nur so viel: Du bist keineswegs zufällig in unserer Welt und genauso wenig ist unsere Begegnung zufällig. Aber so, wie es geschehen ist, war es nicht beabsichtigt.“

„Ich bin nicht zufällig hier?“, wunderte sich Nils. „Aber -?“

„Nein, und dein Aufenthalt bei uns ist auch noch nicht beendet. Ob du willst oder nicht, du wirst uns noch für einige Zeit begleiten.“

„Aber, aber ich will nicht“, erwiderte Nils bestürzt. Ihm grauste vor dem Gedanken, dass er diesen Rûngori doch nicht so zufällig in die Arme gelaufen war, wie er angenommen hatte. Er befürchtete plötzlich, ihretwegen von Schlacht zu Schlacht, von einem blutigen Gemetzel zum nächsten, ziehen zu müssen. So stellte er sich sein Dasein in diesem Land wirklich nicht vor. Wie kamen sie nur dazu, ihn für einen furchtlosen Recken zu halten? Wie kamen sie überhaupt auf ihn? „Das muss ein Missverständnis sein. Ihr verwechselt mich mit einem anderen.“

Die drei Rûngori sahen Nils unbewegt an.

„Es ist kein Missverständnis?“

Sie schüttelten alle drei den Kopf.

„Aber –?“

„Nils, wir wissen, dass du verwirrt bis“, erklärte Torfrida mitfühlend. „Und wir wissen auch, wie erschütternd die ersten Tage in unserer Welt für dich waren, aber wir bitten dich, uns zu vertrauen. Und du musst uns glauben, dass wir dir hier nicht alle Hintergründe deiner Anwesenheit bei uns nennen können. Du wirst es erfahren, aber zu einem späteren Zeitpunkt. Bis dahin bitten wir dich erneut um ein wenig Geduld.“

„Ihr verlangt viel von mir“, sagte Nils. „Ich werde also vorläufig nicht wieder nach Hause kommen, oder? Also bin ich euer Gefangener, und wenn ich nicht zufällig hier bin, dann ist es eine Entführung.“

Seine letzten Worte hörten sich bitter an.

„So ein Unsinn“, widersprach Narvidur ärgerlich. „Wir haben dich weder entführt, noch bist du unser Gefangener. Es wird auch nicht lange dauern, bis du frei entscheiden kannst, ob du bei uns bleiben oder wieder in deine Welt zurückkehren willst. Aber wir drei sind nicht in der Lage, dich vor diese Wahl zu stellen. Und bis dahin werden wir dich begleiten und beschützen. Also keine Angst, es wird dir nichts geschehen.“

Da allerdings war sich Nils nicht so sicher, aber er erkannte, dass er keine andere Wahl hatte, als bei ihnen zu bleiben, was immer geschah. Würde er bei nächster Gelegenheit weglaufen, bestand die Gefahr, wieder von rûngorischen Kriegern gefangengenommen zu werden. Diese Aussicht war noch weniger verlockend. Nils ergab sich vorläufig in sein Schicksal.

„Also gut, ich bleibe“, sagte er niedergeschlagen.

„Danke“, erwiderte Narvidur nur, wohlwissend, dass es für Nils keine andere Möglichkeit gab.

[Narvidur hatte sich nicht ganz an die Wahrheit gehalten. Genaugenommen war Nils tatsächlich entführt worden, aber schon einige Zeit früher und durch jemanden, den er kannte. Dieser Jemand hatte ihm den Durchgang in die Welt der Rûngori ermöglicht, ihm aber aus besonderen Gründen die Erinnerung an seine Vergangenheit genommen. Dieser Zustand würde erhalten bleiben, wenn er jetzt auf die Erde zurückkehrte. Nils war gewiss kein Gefangener Narvidurs und seiner Freunde, aber er konnte auch nicht wieder zurück, was zu dieser Zeit auf das Gleiche hinauslief. Im Grunde war er ein Gefangener dieser Welt, der Welt Rûngnár, denn nur hier konnte er seiner Erinnerung zurückerhalten.]

Nach einiger Zeit des Schweigens blickte Nils auf. Von seiner vorangegangenen Entmutigung war fast nichts mehr übrig. Da er sein Schicksal anscheinend doch nicht ändern konnte, wollte er es zumindest mit einer gewissen Neugierde ertragen und endlich herausfinden, wo er war.

„Warum sprecht ihr eigentlich dauernd von meiner und eurer Welt?“, fragte er, denn inzwischen war ihm das aufgefallen. „Wir sind doch immer noch auf der Erde, nur nicht mehr in Deutschland.“

Bis dahin war Nils tatsächlich noch überzeugt davon, sich auf der Erde zu befinden, aber in einem Land, von dem er noch nie gehört hatte, und in das er auf rätselhafte Weise gelangt war, obwohl seine Umgebung ihm manchmal durchaus wie eine andere Welt vorkam. Es hätte aber mehr als einen triftigen Grund gegeben zu erkennen, dass er sich irrte, doch bei all den Aufregungen und seiner eigenen Verwirrung hatte er keine Gelegenheit gehabt, tiefgründig darüber nachzudenken.

„Ich fürchte, es ist nicht so, wie du es dir vorstellst“, begann Narvidur. „Nun, es ist ein wenig komplizierter. Du bist ein Mensch von der Erde. Damit erzähle ich dir nichts Neues. Unsere Welt, wir nennen sie Rûngnár, ist zwar keine andere Welt als eure Erde, aber nur im Hinblick auf den Raum, den sie einnimmt. Unser Volk, das Volk von Rûngor, eines unter mehreren, aber unter allen das wichtigste in Rûngnár, ist eine Verkörperung sämtlicher menschlicher Völker der Erde. Warte bitte noch mit Fragen. Du wirst im Verlauf meiner Erklärungen noch einige Antworten erhalten. Hast du dich noch nicht gefragt, warum wir deine Sprache sprechen? Wir sprechen neben unserer Sprache, nenne sie meinetwegen Rûngori, alle möglichen Sprachen der Menschen, denn unsere Sprache ist eine Mischform eurer Sprachen. Das Volk von Rûngor verkörpert alle Eigenschaften der Menschen. [Zur Erklärung: Die Angehörigen des Volkes der Rûngor wurden Rûngori genannt, alles, was mit ihm in Verbindung stand, rûngorisch, während die Bewohner Rûngnárs, vergleichbar mit der ganzen Menschheit, allgemein als Rûngnári bezeichnet wurden, und rûngnárisch alles, was sie betraf. In diesem Augenblick fragte sich Nils noch nicht, warum das Volk von Rûngor aus menschlicher Sicht ein erst mittelalterliches Stadium erreicht hatte. Der Grund lag darin, dass der Entwicklungsstand aller Menschenvölker im Durchschnitt dem Niveau des späten europäischen Mittelalters entsprach, auch wenn einige Rûngori wie zum Beispiel Narvidur durchaus große wissenschaftliche Kenntnisse in sich vereinigten, aber der zählte nicht, weil er eigentlich kein Rûngori war.] Du wirst zugeben, dass die Menschen bei all ihrer Intelligenz und bei alldem, was sie an Großem geschaffen haben, einschließlich ihrer gesellschaftlichen Ordnungen, eine überwiegend streitsüchtige und zerstörerische Lebensform sind. Wundert es dich da, wenn es auch in unserer Welt Kriege gibt?“

„Dann verursacht ihr unsere Kriege“, schloss Nils

„Im Gegenteil, wir machen sie euch nach“, erklärte Torfrida.

„Torfrida hat Recht“, unterstützte Narvidur die junge Frau. „Du fühlst dich uns ausgeliefert? Das Gegenteil ist der Fall. Die Menschen sind psychisch die stärkeren Lebewesen. Sie bedingen unsere Handlungen, zumindest besitzen sie einen großen Einfluss darauf. Sicherlich tun die Menschen es nicht als Einzelwesen, aber als ganze Menschheit. Wir sind vielleicht die besseren Magier, aber wir unterliegen stärker der menschlichen Willenskraft. Ich bitte dich, dich mit dem, was ich sagte, zufriedenzugeben, aber ich verspreche dir, dass du bald mehr darüber lernen wirst.“

„Du darfst es aber nicht so verstehen, dass wir Ereignisse eurer Welt in gleicher Weise umsetzen“, erklärte Torfrida. „Was nun die Kriege auf der Erde betrifft, so ahmen wir sie natürlich nicht im gleichen Maße nach. Wenn wir sagen, dass wir sie übernehmen, dann meinen wir damit, dass die Bewohner dieser Welt der Bereitschaft der Menschen, Kriege zu führen, ausgesetzt sind und diese Bereitschaft übernehmen. Es gibt hier jedoch keine Kriege, die ebenso verlaufen wie die auf der Erde, den Göttern sei Dank. Es gibt ja auch keine rûngnárischen Völker, die einzelnen Völkern der Erde entsprechen.“

Nils wusste nicht, ob er darüber erleichtert sein sollte. Vielleicht würden die Rûngori, oder treffender, die rûngnárischen Völker, irgendwann dazu in der Lage sein, die Menschen in dieser Hinsicht zu überflügeln.

„Aber wo befindet sich Rûngnár, wie du eure Welt nennst, wenn wir auf der Erde von ihr nichts wissen und sie offenbar nur ausnahmsweise besuchen können – und wenn wir einen solchen Einfluss auf euch haben?“, fragte Nils. „Wenn du sagst, dass beide Welten den gleichen Raum einnehmen und damit die gleichen Körper sind, also sozusagen ineinanderstecken, müssten sie doch durchlässiger sein für gegenseitige Besuche.“

Er musste zugeben, dass er nicht alles verstand, was Narvidur und Torfrida ihm erklärten, aber die Anordnung der beiden Welten hatte er begriffen, wenn er auch keine Ahnung hatte, wie das möglich war.

„Rûngnár befindet sich zwar am gleichen Ort wie deine Erde, wie ich sagte, nimmt aber einen anderen Zustand ein. Ich will versuchen, es dir an einem Beispiel klar zu machen, mithilfe einer Wissenschaft, die ihr Physik nennt, und -.“

Nils stöhnte auf. Schon in der Schule hatte er kaum Verständnis für dieses Fach aufbringen können, erinnerte er sich plötzlich wieder, und nun wollte Narvidur, dessen Volk eher eines aus dem Mittelalter zu sein schien, ihn in derartig unverständlichen Dingen unterweisen. Dazu kam, dass er in seinem Zustand auch die Erinnerung an einen Teil seines schulischen Wissens eingebüßt hatte.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte Torfrida besorgt.

„Doch, doch“, beeilte sich Nils zu sagen. „Es ist nur gerade wieder ein Stück meiner Erinnerungen aufgetaucht. Könnt ihr sie wieder ganz herstellen? Narvidur sagte doch, ihr seid gute Magier, da sollte euch das doch nicht schwerfallen.“

„Das werden wir, sei unbesorgt“, meinte sie. „Es wird nicht mehr lange dauern.“

„Wann?“, fragte Nils.

„Eins nach dem anderen“, sagte Narvidur. „Lass mich dir zuerst das Angefangene erklären.“

„Vielleicht verstehe ich dich dann aber besser“, meinte Nils spitzfindig.

„Das glaube ich nicht, weil ich es dir jetzt schon sehr gut erklären werde“, erwiderte Narvidur lachend.

Nils gab es auf. Er verstand nicht, warum sie ihm nicht helfen wollten, seine Erinnerungen zurückzuerlangen, obwohl sie es anscheinend tun konnten, und bemühte sich, darüber nicht in Zorn zu verfallen. Vielleicht würde er es später verstehen, vielleicht war es auch nicht mehr nötig, falls er auf Rûngnár seine letzten Tage fristen sollte. Eine erneute Schicksalsergebenheit in seine anscheinend hoffnungslose Lage machte sich in ihm breit.

Unentwegt setzte Narvidur seine Erklärungen fort.

„Hast du schon einmal gesehen, was geschieht, wenn zwei Wolken zusammenstoßen? Sie werden sich nicht durchdringen, da sie die gleiche Dichte haben, wie ihr es nennt. Ein Vogel jedoch kann mühelos durch sie hindurchfliegen. Er wird sie kaum spüren, außer durch eine schlechtere Sicht und dadurch, dass sich Feuchtigkeit auf sein Gefieder legt. Und so musst du dir den Unterschied zwischen der Erde und Rûngnár vorstellen. Hätten beide die gleiche Dichte, würden sie aufeinanderprallen und Schaden nehmen. Vereinfacht gesagt, ist Rûngnárs Dichte geringer und so kann sie die Erde durchdringen. Zwischen beiden gibt es kaum Wechselwirkungen, aber das beidseitige Leben beeinflusst sich aus verschiedenen Gründen. Und so ist es seit Anbeginn der Schöpfung. Erde und Rûngnár sind Schwestern und untrennbar miteinander verbunden, solange es sie geben wird.“

„Na schön, das ist zwar nicht einleuchtend, aber ich will es dir glauben. Ich hoffe, du bist damit zufrieden“, sagte Nils, und es hörte sich ein wenig trotzig an. „Aber ein Vogel kann die Wolke sehen. Wir können euch nicht sehen.“

„Das ist wahr und ich habe ja auch nicht behauptet, dass es leicht zu verstehen ist“, meinte Narvidur. „Außerdem habe ich dir noch nicht alles erklärt. Du weißt, dass Licht eine magische Welle ist, und die Farbe und Klarheit von Gegenständen und auch Nichtgegenständen, die es euch vortäuscht, hängt von der Wellenlänge ab. So wie das Licht, schwingen auch Körper, vermeintlich feste Stoffe. Je höher sie schwingen, desto unsichtbarer werden sie. Rûngnár schwingt in seiner Grundsubstanz so schnell, und damit auch alles, was auf ihr ist, dass es für das menschliche Auge nicht mehr sichtbar ist.“

„Unsichtbar und von geringer Dichte“, fasste Nils zusammen. „Dann seid ihr das, was bei uns einige Geister nennen, wenn man daran glaubt. Und Rûngnár ist eine Geisterwelt.“

Torfrida und Narvidur fingen an zu lachen.

„Himmel, nein“, meinte sie. „Das sind zwei grundverschiedene Dinge, denn wenn es so wäre, könnten alle eure Geister in unsere Welt gelangen. Das ist aber nur selten der Fall, allerdings auch nicht unmöglich. Trotzdem haben die Rûngnári nichts mit Geistern gemein. Auch Rûngnár besteht aus stofflicher Substanz, aber aus sehr feiner, im Vergleich zur Erde.“

„Dann gibt es sie wirklich?“, fragte Nils verwundert, denn er hatte seinen Einwand nicht ernst gemeint. „Geister, die Seelen von Verstorbenen und all das?“

„Und der noch nicht Wiedergeborenen und derjenigen, die niemals geboren werden, ja“, meinte Narvidur. „Doch darüber wollen wir hier nicht reden. Verstehst du jetzt aber, warum Erde und Rûngnár ineinander bestehen können und die eine Welt unsichtbar für die andere bleibt?“

Nils nickte vorsichtig. Ganz sicher war er sich aber immer noch nicht.

„Also gut, wir können eure Welt nicht sehen“, sagte er dann. „Aber warum könnt ihr unsere auch nicht sehen? Schließlich ist sie dichter, wenn ich euch richtig verstanden habe.“

„Das hat einen anderen Grund“, behauptete Narvidur. „Kein Sehorgan auf Rûngnár ist in der Lage, Licht zu erkennen, das so niedrig schwingt wie das von der Erde. Folglich erkennen wir auch keine irdischen Körper.“

„Aber mich seht ihr doch“, wandte Nils ein.

„Du bist unserer Welt physikalisch angepasst. Wie sonst könntest du hier etwas sehen oder atmen? Wie sonst könntest du überhaupt hier sein?“

Unwillkürlich drückte Nils auf seinem Arm herum, weil er fürchtete, sein Körper hatte die gewohnte Festigkeit verloren. Er atmete auf, als er feststellte, dass er sich nicht verändert zu haben schien. Hatte er aber doch, denn durch seinen Übertritt nach Rûngnár hatte er die Dichte dieser Welt angenommen, und die kam Nils jetzt wie die auf der Erde vor. Er konnte in dieser Hinsicht also keine Veränderung an sich feststellen.

„Hm, na gut“, meinte er, und hörte sich alles andere als verständnisvoll an. „Aber was habe ich nun mit allem zu tun? Und woher wisst ihr das alles?“

„Du hast doch selbst festgestellt, dass ich ein Zauberer bin, ein Magier. Und ich wäre ein schlechter Magier, wenn ich das und einiges mehr nicht wüsste. In einem gewissen Sinne sind wir alle Magier – aus deiner Sicht. Magie ist angewandte Physik, wie ihr Menschen sagen würdet. Und sie ist umso beeindruckender, je weniger die Zuschauer darüber wissen. Aber ich kann dich beruhigen, mit alldem hast du nichts zu tun.“

„Dann noch einmal, wie bin ich in eure Welt gelangt?“, fragte Nils. „Schließlich bin ich dafür zu schwer, wenn ich das richtig verstanden habe. Wie konnte ich mich den rûngnárischen Verhältnissen so schnell anpassen, wie du behauptet hast?“

Narvidur lächelte. Er blieb erstaunlich geduldig.

„So ähnlich könnte man das tatsächlich sagen. Aber ich habe eine Freundin, die Cereia heißt. Sie hat dich mit ein klein wenig Magie leicht genug gemacht, damit du dich durch eins der Tore zwischen unseren Welten hindurchstehlen konntest. Sie hat auch für die Anpassung deines Körpers gesorgt. Wenn du deine Erinnerung wieder zurückbekommst, dann wirst du dich an sie erinnern. Sie hat dich aufgesucht, um dich dazu zu überreden, zu uns zu kommen. Du siehst, wie wichtig du für uns bist. Du hast Fähigkeiten, die einen großen Wert für uns haben. Da du dich aber gesträubt hast, mit ihr mitzukommen, musste sie einen Schleier des Vergessens über dich legen. Möglicherweise wärest du ohne diese Vorsichtsmaßnahme auch schon wieder in deine Welt entschwunden, denn bei voller Erinnerung könntest du den Weg auch allein finden.“

Die letzten Erklärungen hatte Narvidur erstaunlich freimütig gegeben, denn er hätte wissen müssen, wie Nils darauf reagieren würde, denn….

„Also doch eine Entführung“, wandte Nils ein. „Und dazu eine, die mich fast das Leben gekostet hat. Und ihr habt mich verblödet, damit ich euch nicht entwische.“

Narvidur und Torfrida sahen ihn unverkennbar schuldbewusst an, enthielten sich aber einer Äußerung.

„Ich glaube nicht, dass ich das für eine nette Geste halte“, fuhr Nils mit seiner Beschwerde fort. „Warum sollte ich euch unter diesen Umständen helfen, bei was auch immer? Wie könnte ich euch unter diesen Umständen vertrauen? Vielleicht werde ich ja auch glauben, dass mich eure Probleme überhaupt nichts angehen.“

„Ich gebe zu, es ist nicht alles so gekommen, wie wir es uns vorgestellt haben“, meinte Tophal, der bis dahin geschwiegen hatte. „Bevor du dich entscheiden musst, uns zu helfen, oder auch nicht, werden wir dir deine Erinnerung wiedergeben. Es war vorgesehen, dich in Empfang zu nehmen, bevor du in die Hände der Wächter fällst. Es war nicht vorgesehen, dass du nach Bihaford gebracht wirst. Narvidur saß nicht dort im Kerker, um dich herauszuhauen. Vor allem war nicht vorgesehen, dass du in die Auseinandersetzung zwischen den Steppen- und den Bergkriegern gerätst. Das waren unglückliche Umstände. Ich sage nicht, dass das alles Zufälle waren, und wir werden noch sehen, ob es nicht auch sein Gutes hatte. Aber in den letzten zwei Tagen ist nichts geschehen, was in irgendeiner Weise der Grund für deine Anwesenheit ist.“

„Ich habe schon gesehen, dass ihr mich nicht eingeplant hattet“, sagte Nils und zeigte auf die drei Matten am Boden.

„Sie haben auf mich gewartet, denn sie wussten, dass ich aus Bihaford kommend diesen Weg nehmen würde“, erklärte Narvidur. „Wir hatten es so abgesprochen. Nicht ich sollte mit dir zusammentreffen, obwohl ich davon wusste, dass du zu uns kommen würdest. Aber so, wie es gekommen ist, hätten wir auch in allen anderen Fällen heute Nacht hier verbracht.“

„Wir haben sogar schon einen Tag früher mit Narvidurs Ankunft gerechnet“, sagte Torfrida. „Von dem Angriff auf die Stadt hatten wir keine Ahnung.“

„Ich weiß nicht, was ich von alldem halten soll“, meinte Nils. „Aber sagt mir jetzt endlich, warum ich hier bin. Und welche Fähigkeiten ich haben soll, die ihr für so wichtig haltet?“

„Morgen früh werden wir weitergehen ins Reservat“, sagte Tophal. „In zwei Tagen werden wir dann das Tchelasan abhalten. Nur das darf dir diese Fragen beantworten. Dort wird dir Cereia auch die Erinnerung wiedergeben und dann kannst du frei entscheiden, ob du uns helfen, oder ob du wieder heimkehren willst. Auch wenn du es nicht gern hören willst, so viel Geduld musst du noch aufbringen.“

„Also gut, bis zu diesem – Tchelasan? Was immer das ist“, meinte Nils und gähnte. „Was ist ein Tchelasan?“

„Ein Tchela ist ein Weiser“, erklärte Tophal. „Einen Tchelasan würdet ihr als einen Rat von Weisen bezeichnen. Der, den wir meinen, ist nicht der einzige, den es gibt, aber er ist das Haupt unserer Gemeinschaft. Zu ihm werden wir dich bringen.“

Nils sah Tophal verblüfft an.

„Bin ich euch wirklich so wichtig?“, fragte er.

„Haben wir das nicht vorhin erwähnt?“, erwiderte Tophal lächelnd. „Und vor uns brauchst du keine Angst zu haben, denn bei uns ist es nicht üblich, anderen den Kopf abzureißen.“

„Wie tröstlich“, fand Nils. „Aber warum uns?“

„Tophal ist einer der Tchelas, der Weisen“, erklärte Narvidur. „Lasse dich nicht von seinem Aussehen täuschen. Bei uns hat Weisheit weniger mit dem Alter zu tun als bei euch. Und jetzt ist es an der Zeit, schlafen zu gehen.“

Das war zu diesem Zeitpunkt ein weiser Entschluss. Nils wusste zwar wieder einmal nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit sie in dem Versteck waren, aber er hoffte, dass es noch einige Stunden dauerte, bis die Sonne aufging. Auch er spürte die Müdigkeit, aber sie war nicht so groß, dass seine Unzufriedenheit ihretwegen in den Hintergrund trat. Nils neue Freunde hatten ihm zwar gründlich erklärt, wo er war, obwohl er manches davon nicht begriffen hatte, aber sie waren ihm immer noch die Antwort schuldig geblieben, warum er dort war. Genauso wenig hatten sie ihm erklärt, wer sie waren und was sie von ihm erwarteten. Im Grunde war Nils nicht viel schlauer als vorher, und das wurmte ihm. Aber er wusste, dass er an diesem Abend kaum mehr in Erfahrung bringen konnte. Es waren schon merkwürdige Leute, mit denen er da zusammengetroffen war.

Es blieb ihm nicht die Arbeit erspart, sich selbst ein Lager zu bauen. Torfrida und Tophal hatten nur mit Narvidur gerechnet, nicht aber damit, dass er noch einen an diesem Ort unerwarteten Gast mitbrachte. Allerdings gab es unter den Vorräten mehr Decken und Matten, als für die vier notwendig waren. Und es beruhigte Nils, dass die Rûngori es nicht als nötig betrachteten, eine Wache aufzustellen, denn dann musste dieser Unterschlupf ein sicherer Ort sein.

Reise nach Rûngnár

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