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2. Begegnung im Kerker

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Es war hell, als Nils aufwachte. Er wusste nicht, ob die Morgendämmerung genauso schnell vorübergegangen war wie die Abenddämmerung und wie lange es schon hell war, aber das Tageslicht warf seine Strahlen durch die Ritzen der Fensterläden. Er fühlte sich leidlich ausgeschlafen und der Hunger, der ihm am Abend so arg zugesetzt hatte, hatte sich wieder beruhigt. Aber morgens konnte Nils nie viel essen. Dafür hatte er Durst. Er stand auf und öffnete die Fenster. Draußen sah es nicht anders aus als tags zuvor. Er verließ das Haus.

Durch das Dorf führte ein schmaler Graben, aus dem er am Tag zuvor bereits getrunken hatte. Das Wasser war gut und es gab keine Menschen oder Tiere, die es verschmutzen konnten, daher hatte er keine Bedenken gehabt, es zu trinken, und sein körperliches Befinden schien sein Vertrauen zu rechtfertigen.

Die Luft war so kühl wie erwartet, obwohl es angenehmer war als in der Nacht. Der schwache Nebel, den sein Atem verursachte, war kaum zu erkennen. Der Himmel war klar, aber Nils vermisste wieder die Sonne. Er zuckte mit den Achseln. Wenn es so war, dann konnte man eben nichts daran ändern. Er verschwand für einen kurzen Augenblick hinter einem nahen Strauch, dann ging er zum Graben. Auch wenn es kalt war, wollte er doch nicht darauf verzichten, sich zu erfrischen. Aber schließlich wurde es nur eine Katzenwäsche.

Als er seinen Kopf hob und sich das Gesicht mit seinem Taschentuch abtrocknete, fiel ihm neben sich eine Gestalt auf und er erschrak. Hastig drehte er sich zu ihr um, kam ins Straucheln und saß plötzlich auf seinem Hintern. Die Gestalt war nicht allein. Nils fand sich umringt von sieben – Menschen? Es waren Krieger, so viel stand fest, denn sie waren mit Speeren bewaffnet, an deren gefährlichem Ende funkelnde Spitzen drohten, und die zeigten jetzt alle auf ihn.

Es dauerte einen Augenblick, bis er seinen Schreck überwunden hatte und die Krieger näher betrachten konnte. Das wurde dadurch erleichtert, dass zunächst nichts weiter geschah, als dass sie ihn so interessiert und neugierig ansahen wie er sie ängstlich. Nils konnte sich nicht daran erinnern, jemals in einer solchen verzwickten Lage gewesen zu sein. Er kam zu dem Schluss, dass seine Gegner, damit musste er zumindest erst einmal rechnen, keine gewöhnlichen Menschen sein konnten. Am auffälligsten waren ihre blassgraue Haut und ihre unnatürlichen Augen – hellgrün leuchtend starrten sie ihn an. Dieser Anblick erschreckte Nils. Er kannte leuchtende Augen nur aus Film und Fernsehen, aber dann waren sie gewöhnlich bedrohlich rot und gehörten zu Wesen, deren Nähe Ungemach erwarten ließ. Diese Gewissheit war ein neuer Baustein seines im Nebel des Vergessens versunkenen Erinnerungsgebäudes und wieder ein äußerst unwichtiger. Offensichtlich steckte doch weniger Phantasie in solchen Darstellungen, als viele glaubten.

Die Krieger trugen lange blaue Gewänder und Schnürsandalen. Die Oberkörper wurden von braunen Schuppenpanzern geschützt. Sie hatten keine Helme auf und so konnte Nils erkennen, dass sich die Haare von Krieger zu Krieger in Farbe und Schnitt unterschieden, aber allen war ein auffallend verlängerter Hinterkopf gemeinsam. Die Männer waren durchschnittlich dünner und größer als Menschen. Offensichtlich waren die Speere die einzigen Waffen, die sie trugen.

„Wer seid ihr und was wollt ihr von mir?“, fragte Nils und seine Stimme zitterte leicht.

Es waren die ersten lauten Worte, die er in dieser fremden Welt gesprochen hatte. In diesem Augenblick spürte er das zweite Mal, seit er dort angekommen war, ehrliche Angst. Er war es nicht gewohnt, von Waffen bedroht zu werden und hier zeigten auch noch beängstigend viele auf ihn. Er wagte nicht, sich zu bewegen.

„Wer bist du und wie kommst du hierher? Was tust du im Reservat?“, wollte einer der Krieger wissen, ohne auf Nils´ Frage zu antworten.

Er unterschied sich nicht von den anderen, und so war für Nils nicht ersichtlich, ob es sich um den Anführer handelte. Obwohl Nils verständlicherweise etwas angespannt war, fiel ihm auf, dass der fremdartige Krieger die deutsche Sprache verwendet hatte. Nils konnte die Worte gut verstehen, obwohl sie in einer unüberhörbar seltsamen Mundart gesprochen worden waren. Nils kannte sie nicht, aber er hätte auch zugeben müssen, dass er nur sehr wenig darüber wusste.

„Ich – äh – mein Name ist Nils Holm“, stammelte er. „Ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin, ehrlich. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Wo bin ich überhaupt?“

Das stimmte ja alles, aber der Anführer, für den Nils den Krieger, der ihn gefragt hatte, hielt, schien nicht recht überzeugt zu sein. Zumindest glaubte Nils, das an seinem Gesichtsausdruck erkennen zu können. Und anscheinend war er auch nicht geneigt, ihm seine Frage zu beantworten.

„Steh´ auf!“, forderte er Nils auf und unterstrich den Befehl mit einer Bewegung seiner Waffe.

Die Wächter traten einen Schritt zurück, hielten die Speere aber weiter auf ihn gerichtet. Nils kam der Aufforderung ein wenig umständlich nach und bemühte sich, keine hastige Bewegung zu machen, die falsch verstanden werden konnte. Er kannte diese Krieger nicht, er kannte nicht einmal ein Volk, dem sie entstammen konnten, daher war es besser, vorsichtig zu sein.

Als er stand, zeigte Nils den Kriegern unwillkürlich seine leeren Hände als Zeichen, dass er unbewaffnet war und hoffte, dass sie seine Geste auch so verstanden. Er rechnete damit, dass sie ihn durchsuchen würden, aber nichts dergleichen geschah. Der Anführer schien auch kein Interesse an einem weiteren Verhör zu haben. Er befahl Nils, ihm zu folgen. Nils hatte auch keine andere Wahl, denn die Krieger nahmen ihn in ihre Mitte und zwangen ihn mitzugehen. Sie bewegten sich in einer Weise, aus der Nils schließen konnte, dass sie sehr schnell waren, schneller als er, und dass sie ihn in kurzer Zeit einholen würden, wenn er versuchte zu fliehen. Es gab keinen Grund daran zu zweifeln, dass sie es wohl auch mit einem Speerwurf versuchen würden, ihn aufzuhalten. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie seine Hände nicht gefesselt hatten. Also blieb Nils nichts anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu fügen.

Seine Angst verringerte sich ein wenig, denn offensichtlich hatten die Krieger nicht die Absicht, ihn auf der Stelle zu töten. Allerdings hatte der Anführer auch nicht gesagt, wohin sie in brachten, und das, was dort auf ihn wartete, war vielleicht schlimmer.

Allmählich wurde sich Nils des Unwirklichen seiner Lage bewusst. Er hatte seine Vergangenheit, von der er annahm, dass es sie gab, bis auf wenige Einzelheiten vergessen. Er wusste nicht, auf welche Weise er in diese Gegend gekommen war, eine Gegend ohne Sonne, ohne Mond und Sterne und doch mit einem Wechsel zwischen Tag und Nacht. Es gab keine nichtkriegerischen Bewohner mehr und nur noch eine geringe Zahl von Tieren, von denen einige mehr als ungewöhnlich aussahen. Die Wächter waren von einer Erscheinung, wie er sie noch nie bei Menschen gesehen hatte und vielleicht waren sie noch nicht einmal welche. Nils hatte keine Ahnung, was er von all dem halten sollte, aber wenn er sich in einem Traum befand, dann war er erschreckend klar und zog sich endlos hin. Anscheinend wollte er partout nicht daraus erwachen. Unbewusst zog sich Nils in eine zunehmende Abgestumpftheit zurück, die so lange anhalten sollte, wie er mit seiner Lage noch nichts anfangen konnte. Vielleicht war es das Beste, was er tun konnte, um nicht verrückt zu werden.

So still sich diese Welt bisher gezeigt hatte, so verschwiegen schienen auch die Krieger zu sein. Der Befehl, ihnen zu folgen, war das Letzte, was sie seit ihrem Aufbruch aus dem verlassenen Dorf zu Nils gesagt hatten, und auch untereinander fiel kein Wort. Nils wagte nicht, sie anzusprechen.

Er musste lächeln, obwohl diese Regung seiner Lage nicht angemessen schien und er hoffte im gleichen Augenblick, dass es keiner der Rûngori-Krieger – den Namen dieses Volkes kannte Nils zu diesem Zeitpunkt noch nicht – gesehen hatte. Vielleicht würden sie es falsch verstehen. Der Grund für sein Lächeln war der Gedanke, dass er jetzt möglicherweise schneller etwas zu essen bekam, als wenn er weitergewandert wäre. Ein ziemlich trivialer Gedanke, aber in seinem Zustand mehr als verständlich. Und vielleicht würden ihm dort, wohin die Krieger ihn brachten, endlich einige Fragen beantwortet werden – falls jene Leute etwas redseliger waren.

So ging Nils zwischen den Rûngori her und hing seinen Gedanken nach, ohne viel auf seine Umgebung zu achten.

Der kleine Trupp hatte das Dorf in die gleiche Richtung und auf dem gleichen Weg verlassen, wie Nils es am Tag zuvor erreicht hatte. Die Krieger gingen ziemlich schnell und Nils musste sich etwas Mühe geben, um Schritt zu halten. Aber der Fußweg dauerte nicht sehr lange, denn als sie die Straße erreichten, wartete dort eine Pferdekutsche auf sie. Anscheinend hatten sie noch einen weiten Weg vor sich. Da war es Nils ganz recht, dass er gefahren wurde, denn langsam knurrte ihm wieder der Magen und er begann, sich zunehmend schwach zu fühlen.

Als sie sich der Kutsche so weit genähert hatten, dass Einzelheiten zu erkennen waren, stöhnte er innerlich auf. Das, was er sah, konnte es nicht geben – na ja, hier wohl schon. Es war weniger die Kutsche selbst, wenn sie auch beachtliche Ausmaße hatte und größer schien als die vom Tag zuvor. Sie hatte einen geschlossenen Aufbau und selbst der Fahrer saß innerhalb des Fahrzeugs. Nur die Zügel zu den sechs Pferden waren zu sehen. Und diese Pferde waren es, die Nils in einen solchen Unglauben stürzten.

Er musste sich in einem Traum befinden, denn so etwas gab es wirklich nicht. Jedes Pferd hatte sechs Läufe. Zwei Paare befanden sich unter dem Vorderkörper und ein Paar deutlich kräftigere Beine am hinteren Teil der Pferde. Die Tiere waren größer, als diejenigen aus seiner Welt, an die er sich jetzt schwach erinnerte. Das Fell glänzte goldbraun. Ein langer Schweif hing fast bis zum Boden. Nils war nicht klein, aber diese Pferde überragten ihn um wenigstens zwei menschliche Kopflängen. Er war sicher, dass diese Art Pferde die Kutsche äußerst kraftvoll und schnell vorantreiben konnten.

Und dann geschah etwas, was Nils an der Wirkungsweise seines Verstandes zweifeln ließ. Während er die Pferde betrachtete, wurden sie plötzlich durchsichtig und schienen sich auflösen zu wollen. Gleichzeitig tauchten an ihrer Stelle andere, vierbeinige Pferde auf, von einer Art, wie er sie in Erinnerung hatte. Doch die Tiere verdrängten sich nicht etwa von ihren Plätzen, sondern sie befanden sich offensichtlich ineinander. Auch die »neuen« Pferde führten Zügel in ihrem Maul, die bis zur Kutsche reichten.

Genauso schnell, wie der Spuk entstand, war er auch vorüber, und ungerührt standen die sechs sechsbeinigen Pferde wieder vor der Kutsche.

Nils war stehen geblieben und vor Überraschung wie gelähmt. Erst die drohende Stimme eines der Wächter, unterstützt von der unangenehmen Berührung seiner Schulter mit einer Speerspitze, brachte ihn wieder zur Besinnung. Sein Blick wollte sich nicht von den Pferden trennen, während er weiterging. Haben denn die Krieger überhaupt nichts bemerkt, fragte er sich. Die, die er sehen konnte, hatten den Zugtieren nicht einmal besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es war wirklich unglaublich.

Zwei Türen öffneten sich an der Kutsche. Eine an der Seite, der sie sich näherten und eine im Heck. Niemand stieg aus und Nils konnte drinnen nur einen undeutlichen Schatten erkennen, der sich bewegte. Die Kutsche schwankte leicht, dann musterte ihn ein Paar leuchtend grüner Augen aus ihrem Inneren. Dieser Anblick war noch unheimlicher als der von den Augen der Rûngori-Krieger im Tageslicht. Nils erfüllte von neuem ein zunehmendes Unbehagen.

Er glaubte, dass er zu diesem Fremden einsteigen sollte, doch er irrte sich. Eine kräftige Hand hielt ihn vom Einsteigen zurück.

„Hinten rein!“, befahl der Anführer.

Nils gehorchte. Jetzt erkannte er auch, was für ein Gefährt es war, obwohl ihn diese Erkenntnis nicht sonderlich überraschte. Es war eine Gefängniskutsche, deren hinterer Teil von einem Käfig ausgefüllt wurde, der nur vom Heck her zugänglich war. Quietschend schloss sich die Gittertür hinter Nils und mit einem groben Schlag die Holztür. Klackend wurde draußen ein Riegel vorgeschoben.

Immerhin war der Käfig recht geräumig und offenbar für mehrere Gefangene ausgelegt. Da Nils in diesem Augenblick der Einzige war, konnte er sich bequem ausstrecken. Natürlich waren die Bänke aus Holz und ungepolstert und nur ein kleines Guckloch erlaubte einen Blick nach draußen. Nils wunderte sich, mit welcher Gelassenheit er seine Lage ertrug. Er hätte verzweifelt sein, vielleicht mit seinem Leben abgeschlossen haben müssen, aber die Neugierde überwog wieder. Wo würden sie ihn hinbringen?

Dann stiegen die sieben Krieger in den vorderen Teil der Kutsche ein und die Seitentür knallte zu. Nur noch wenig Licht gelangte in die Kutsche, und Nils betrachtete die grünen Augenpaare, die ihn in der Finsternis durch das Gitter des Käfigs anblickten, mit deutlichem Argwohn. Von ihren Besitzern war nur wenig mehr als schwarze Schatten zu erkennen. Nils hörte einen unverständlichen Befehl und mit einer mächtigen Schaukelbewegung, die ihn fast von der Sitzbank riss, hätte er sich nicht im letzten Augenblick am Gitter festgehalten, setzte sich das Gefährt in Bewegung. Wie erwartet, erreichte es bald eine beängstigende Geschwindigkeit.

„Mein Abenteuer gewinnt an Fahrt“, murmelte Nils, während er aus dem Guckloch blickte.

Die Kutsche schaukelte und rumpelte, ächzte und knirschte und soviel Nils durch das Loch in der Hecktür erkennen konnte, durchquerten sie die Landschaft in großer Eile. Die Rûngori-Krieger schwankten genauso hin und her wie Nils, aber da sie keinen beunruhigten Eindruck machten, vermutete er, dass sie solche schnellen Fahrten gewohnt waren. Nils hatte fast das Gefühl, dass ihre Reise einer Flucht gleichkam. Er wandte seinen Blick wieder nach draußen.

Die Landschaft änderte sich einige Male. Sie fuhren abwechselnd durch waldreiche Gebiete und weitläufige Steppen und entfernten sich von dem Gebirge am Horizont. Eines aber blieb, wie es war, gleichgültig durch welche Gegend sie kamen, sie schien stets vollkommen vereinsamt. Zwar konnte Nils von Zeit zu Zeit ein Gehöft oder auch einmal eine kleine Ansiedlung ausmachen, aber nirgends sah er Menschen – oder die Bewohner des Landes.

Nils wusste noch nicht, dass seine Bewacher dem nichtmenschlichen Volk von Rûngor angehörten. Die Krieger hatten ihn darüber nicht aufgeklärt und andere Einwohner, die es ihm hätten sagen können, hatte er nicht getroffen. Aber er war mittlerweile überzeugt davon, dass dieses Volk zumindest kein gewöhnlich menschliches war und es wunderte ihn, dass er von ihm noch nie etwas gehört hatte, denn ihre außergewöhnliche Erscheinung hätte sie zu einem der berühmtesten Völker auf der Erde machen müssen.

Nils hatte in den letzten Stunden eine interessante Entdeckung an sich gemacht. Wenn er versuchte, sich besonders konzentriert an etwas zu erinnern, dann gelang ihm das auch. Und wenn sich seine Gedanken auch wie durch einen zähen Schleim hindurch an die Oberfläche seines Gedächtnisses quälten, so war er doch überzeugt davon, dass er sich an dieses Volk erinnern müsste, wenn er von ihm gewusst hätte. Und er wüsste von ihm, wenn es auf der Erde existieren würde. Das war aber nicht der Fall. Diese Entdeckung machte seine Lage noch rätselhafter. War es dann etwa möglich, dass er sich überhaupt nicht mehr auf der Erde befand? Wenn nicht, dann erklärte dieser Umstand vielleicht auch seinen Gedächtnisverlust. Aber wie kam es dann, dass die Fremden seine Sprache beherrschten? Fragen, die er nicht beantworten konnte. Aber Nils hoffte wenigstens, dass seine Fähigkeit, sich an Dinge zu erinnern, wenn er sich nur genug anstrengte, der Beginn der Wiederherstellung seines Erinnerungsvermögens war

Die Fahrt zog sich endlos hin. Er hatte nach wie vor kein Zeitgefühl, aber sie waren schon ziemlich lange unterwegs. So wie es aussah, war ein großer Landstrich von seiner Bevölkerung verlassen worden. Nils nahm all seinen Mut zusammen und fragte den Anführer der Krieger, was es mit der Gegend auf sich hatte, durch die sie fuhren, und warum sie das »Reservat« genannt wurde. Aber außer einem starren Blick aus seinen leuchtenden Augen bekam Nils keine Antwort. Und irgendwie überraschte ihn das nicht. Immerhin schenkte der Krieger ihm aber so viel Aufmerksamkeit, dass er ihn ansah. Nils seufzte und setzte seine Außenbeobachtung fort, obwohl es nicht viel Aufregendes zu beobachten gab, bis....

Eine kurze, vollkommene Verdunkelung schreckte Nils auf. Er war für einige Zeit eingenickt, aber nicht so tief, dass ihm diese Veränderung entging. Dann schien alles wieder wie vorher. Doch als er nach draußen blickte, traute er seinen Augen nicht. Die Umgebung hatte sich so dramatisch verändert, als wäre Nils – wieder einmal – in eine neue Welt gekommen.

Die Landschaft erschien plötzlich buchstäblich in einem anderen Licht. Alles wirkte heller und freundlicher und Nils sah, dass sie sich von einer grauen Wand entfernten, die nur die Grenze des sogenannten Reservates sein konnte. Diese Wand war nicht undurchsichtig. Alles, was sich dahinter verbarg, erschien verschwommen in einem schmutzigen, hellgrauen Licht und wirkte kalt und starr. Wie konnte es auch anders sein in jenem kalten, lebensentblößten Gebiet.

Nils bemerkte, dass sich die Kutsche verlangsamte und dann gemächlicher weiterfuhr. Hatten sie sich tatsächlich auf einer Flucht befunden? Wie knapp waren sie einem Unglück entronnen? Das waren wieder unbeantwortete Fragen.

Jetzt, als die Kutsche nicht mehr so heftig schaukelte, erkannte Nils mehr Einzelheiten durch das Guckloch. Und das versetzte ihn in Erstaunen, obwohl es dazu in seiner Heimat nicht unbedingt Grund gegeben hätte. Am Himmel stand hell und klar die Sonne. Nils sah Vögel zwischen und in den Wipfeln der Bäume. Ihm war, als konnte er ihren Gesang hören. Schmetterlinge tanzten über den Blumen der Wiesen, die an die Straße grenzten. Es gab Weiden, und wie es aussah, grasten dort ganz normale Kühe. Und jetzt sah er auch Menschen, oder genauer, Einwohner des Landes. Sie waren noch nicht weit entfernt von der Grenze zum Reservat, aber es gab bereits Reisende auf der Straße und Bauern bei der Feldarbeit. Hier und dort spielten Kinder in den Wiesen. Und nirgends erblickte Nils Krieger. Allen war eine große, schlanke Gestalt, eine blassgraue Haut und die leuchtend hellgrünen Augen gemeinsam, soweit er sie erkennen konnte.

Nils´ alle anderen Gefühle überlagernde Niedergeschlagenheit ließ nach. Sie verschwand nicht, aber er litt nicht mehr unter ihr. Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Bewacher und glaubte, auch bei ihnen eine gewisse Erleichterung festzustellen. Sie schwiegen immer noch, aber sie saßen weniger verkrampft auf ihren Bänken. Es gab kaum noch einen Zweifel, dass sie einer großen Gefahr entronnen waren, von der er nichts geahnt hatte. Am Ende hatten die Krieger ihn durch seine Gefangennahme vor einem noch übleren Schicksal bewahrt. Nils entschloss sich jedoch, im Nachhinein keine weichen Knie zu bekommen, wenn er bei dieser Vorstellung auch ein leichtes Kribbeln im Nacken verspürte. Er hätte auch gar nicht gewusst, worin diese Gefahr bestand. Nils schüttelte unmerklich den Kopf und wandte seinen Blick wieder nach draußen. Alle Müdigkeit war von ihm abgefallen und sein Hunger – beinahe – verschwunden.

Die Sonne stand hoch über ihnen und anscheinend in ihrem Zenit. Daraus schloss Nils, dass sie bereits einen halben Tag unterwegs waren. Auf der Erde hätte er ausgerechnet, dass sie das verlassene Dorf bereits vor vier oder fünf Stunden verlassen hatten, aber die Fahrt kam ihm länger vor. Da er aber nicht mehr sicher war, auf der Erde zu sein, konnten hier auch andere Zeiteinteilungen herrschen. Und sein Gefühl half ihm nicht weiter.

Die Straße verlief durch eine kleine Ortschaft. Nils sah einige Fremde, wie er die Bewohner dieses Landes mangels eines besseren Namens nannte, obwohl ihm diese Rolle sicher eher zukam. Es waren Frauen, Männer und Kinder. Es gab Haustiere und Vieh auf den Grundstücken. Das Dorf ähnelte dem, in dem Nils die letzte Nacht verbracht hatte. So musste jenes ausgesehen haben, als es noch bewohnt war. Sah man von der Erscheinung der Bevölkerung ab, hätte das Dorf genauso gut in Nils´ ehemals niedersächsischer Heimat liegen können – vielleicht ein paar Hundert Jahre früher, denn es gab weder Autos, noch konnte er eine Straßenbeleuchtung oder elektrische Leitungen erkennen. Und auch die Kleidung der Leute entsprach nicht dem, was Nils als seiner Zeit gemäß angesehen hätte. Vor lauter Begeisterung über diesen lebendigen Anblick nach der Zeit in dem trostlosen Reservat vergaß er, dass er ein Gefangener war.

Das Dorf fiel hinter ihnen zurück und nun dauerte es nicht mehr lange, bis sie ihr Ziel erreichten. Bevor Nils etwas sehen konnte, hörte er, wie die Kutsche nach einem heftigen Stoß ein lautes Rumpeln erfüllte. Im gleichen Augenblick schob sich die gepflasterte Straße unter ihr hervor. Das Fahrzeug wurde noch etwas langsamer. Dann kamen links und rechts von der Straße die ersten Häuser in Sicht. Jetzt waren es Bürgerhäuser und keine Bauernhäuser mehr. Sie hatte eine Stadt erreicht. Durch das Guckloch kam eine Stadtmauer in Sicht. Das Tor stand offen und wurde von einigen Kriegern bewacht. Sie waren jedoch nicht angehalten worden. Oben auf der Stadtmauer, die die Häuser überragte, standen ebenfalls Wachen.

Bei dem Dorf hätte man es noch behaupten können, aber als sie jetzt durch die Straßen der Stadt fuhren, war Nils sicher, dass sie nicht viel mit seinen bruchstückartigen Erinnerungen an Städte, wie er sie kannte, gemein hatte. Die Häuser waren zwei- höchstens dreistöckig gebaut. Die Wände waren in allen möglichen Erdfarben gestrichen und nur noch selten zeigten sie Fachwerkelemente. Die Einwohner trugen äußerst altmodische Kleidung, und Nils fielen ungewöhnlich viele Krieger auf. Niemand achtete auffallend auf die Kutsche. Demnach war sie ein vertrauter Anblick.

Das ganze Bild zeigte eine Stadt, die eher ins Mittelalter passte, als in das einundzwanzigste Jahrhundert, aus dem Nils kam. Und dazu trug nicht nur die Stadtmauer bei. Der Eindruck, den er in dem Dorf vor der Stadt gewonnen hatte, bestätigte sich hier. Die Bewohner dieses Landes schienen in ihrer Entwicklung den Menschen seiner Heimat um mehrere Jahrhunderte hinterher. Es gab keine Autos, keine Straßenbahn, keine Fahrräder, keine elektrische Straßenbeleuchtung und keine Einkaufsstraßen. Merkwürdig, in diesem Augenblick konnte er sich wieder an erstaunlich viele Dinge erinnern.

Auch wenn der Anblick freundlich war, wusste Nils, dass er nicht nach Hause kam. Plötzlich beschlich ihn ein unangenehmes Gefühl. Er war ein Gefangener, von wem auch immer, und er war noch weit davon entfernt, in Sicherheit zu sein.

Die Kutsche wurde abgebremst und bog in einen Schlosshof ein. Nils sah hinter sich das Tor zufallen und innerhalb des eisernen Zaunes Wachen patrouillieren. Endlich kam die Kutsche zum Stehen. Die Rûngori-Krieger stiegen aus und der Anführer öffnete die Hintertür.

„Aussteigen!“, befahl er einsilbig in seinem eigenartigen Dialekt.

Nils sprang heraus. Ein warmer Sommerwind empfing ihn. Anfangs konnte er kaum geradestehen. Die Fahrt war lang gewesen und seine Beine durch das Sitzen steif geworden. Er spürte auch seinen Rücken. Blinzelnd sah er sich um. Seine Augen mussten sich erst einmal an die Helligkeit gewöhnen. Die Wachen standen wieder um ihn herum, hielten ihre Speere mit den Spitzen aber nach oben. Unter der Sonne leuchteten ihrer Augen schwächer und sahen nicht mehr ganz so beängstigend aus wie in der Kutsche oder wie am Morgen, als Nils so unvorbereitet von diesen Männern umringt wurde.

„Folg mir!“, gab der Anführer seinen nächsten Befehl.

Der Schlosshof war groß und ringsum von einer Mauer begrenzt, die nur an der Einfahrt von einem Eisenzaun abgelöst wurde. Es liefen erstaunlich viele Wachen herum. Hier muss schon ein sehr ängstlicher Herrscher wohnen, dachte Nils. Andere waren unbewaffnet und steckten in weniger kriegerischer Kleidung. Das waren bestimmt Knechte, Mägde und andere Bedienstete.

Nils hatte sich nicht vorstellen können, ein solches Aufsehen zu erregen, aber während er zum Schloss geführt wurde, richteten sich fast alle Augen auf ihn. Die Leute blieben stehen und ein oder zwei Grüppchen stellten ihre Unterhaltung ein, um ihn anzuschauen. Er konnte hören, wie es im Schlosshof leiser wurde. Unsicher wandte er seinen Blick wieder nach vorn.

Das Schloss war von beeindruckender Größe – und von noch beeindruckenderer Bauart. Nils konnte zwar nicht erkennen, wie tief es war, aber in der Breite erstreckte es sich von einer Schutzmauer zur anderen, das waren vielleicht einhundert Meter. Das ganze Gebäude überragte die Mauer um das Doppelte.

„So baut doch kein Mensch!“, entfuhr es ihm, als er daran hochblickte. Dann bemerkte er, dass er sein Befremden laut geäußert hatte, vielleicht zu laut, aber die Wächter gingen regungslos darüber hinweg.

Nils´ Verblüffung war durchaus gerechtfertigt, denn das, was er von dem Schloss übersehen konnte, konnte nur das Werk eines überspannten Bauherrn sein. Während die Burgmauer, und das Schloss ähnelte tatsächlich mehr einer Burg, noch ganz gewöhnlich, ja zweckmäßig errichtet worden war mit ihrem Wachgang und mannshohen Zinnen, zeigte die Burg selbst eine höchst sonderbare Gestaltung. Alles war schwarz, die Mauern, die Fensterrahmen, die Erker, Balkone und auch die Türme und Zinnen. Jetzt fehlen nur noch schwarze Raben, die schreiend über der Burg kreisen, dachte er. Für einen kurzen Augenblick entstand vor Nils´ innerem Auge das Bild eines finsteren Gemäuers in einem Gruselfilm. Er hatte keine Ahnung, bei welcher Gelegenheit er es gesehen hatte, aber das war auch wumpe. Sie waren doch alle mehr oder weniger gleich.

Die Fenster waren unregelmäßig rund oder oval, und solche Formen hatte Nils noch nie gesehen. Sie waren auch nicht gleichmäßig angeordnet. An ihnen war nicht zu erkennen, wie viele Stockwerke die Burg hatte. Das Glas der Fenster spiegelte das Sonnenlicht. Seltsame Balkone ragten von dem Gebäude ab, einige von ihnen waren einfach außen vor die Mauer gesetzt und es schien unmöglich, sie aus dem Inneren des Schlosses zu erreichen. Zwei dicke, runde Türme, sie waren natürlich auch schwarz, erhoben sich über die vorderen Ecken des Schlosses und besaßen an den inneren Seiten jeweils noch einen dünnen, runden Turm, den sie buchstäblich huckepack trugen und der sie um das Doppelte überragte. Die Türme besaßen keine Fenster zur Hofseite. Dafür waren die vier Turmspitzen für die Beobachtung der Umgebung geeignet, und über ihren zinnenbewehrten Aussichtsplattformen schützten spitze, nur wenig überragende Dächer vor ungemütlichem Wetter. So dünn, wie die aufsitzenden Türme waren, musste es schwierig sein, die Aussichtspunkte über eine Wendeltreppe zu erreichen. Nils konnte auch niemanden dort oben erblicken.

Zwischen den dicken Türmen, und das sah am ungewöhnlichsten aus, befand sich eine Art Verbindungsmauer. Sie war sichtbar auf das Obergeschoss des Schlosses aufgesetzt. Aber es war eine komische Art Mauer, und ob sie zur Verteidigung geeignet war, erschien zweifelhaft, denn sie trug keine Zinnen und besaß auch keine Schießscharten. Dafür war sie nach dem Vorbild eine Welle geformt. Die Wellenberge und Wellentäler standen sehr eng zueinander und vielleicht waren sie der Ersatz der üblichen Wehrzinnen. Aber für Nils war es eine ziemlich sinnlose Gestaltung. Auch dort oben befanden sich keine Wachen. Das ganze Schloss, Nils war sich noch nicht schlüssig, wie er das Gebäude bezeichnen sollte, vermittelte den Eindruck, als entstammte es einem Albtraum, und er hoffte, dass drinnen keiner auf ihn lauerte.

Zu mehr Beobachtungen hatte er keine Gelegenheit, denn die Wächter erlaubten ihm nicht stehenzubleiben. Schon bald erreichten sie eine – buchenblattförmige! – Tür. Sie war nur ein ebenerdiger Nebeneingang, denn der Hauptzugang zum Schloss lag höher, wahrscheinlich im ersten Obergeschoss. Er war über zwei seitlich hochführende Treppen aus schwarzem Stein erreichbar, die überdacht waren. Wenigstens sahen diese Treppen vernünftig begehbar aus.

An der »Buchenblattür« nahm sie ein Hofbeamter in Empfang. Nils vermutete, dass er höhergestellt war, denn er trug vornehme Kleidung und eine feine, goldene und gut sichtbare Kette um den Hals. Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Hochmut und Langeweile. Er hatte keine erkennbaren Waffen. Der Anführer der Kriegerschar um Nils sagte etwas zu ihm, aber die Sprache war fremdartig und Nils konnte sie nicht verstehen. Der Hofbeamte musterte Nils und nickte dann dem Anführer zu. Mit vier seiner Krieger ging er weg. Die zwei Verbliebenen wichen ihrem Gefangenen nicht von der Seite. Der Hofbeamte bedeutete Nils, ihm zu folgen.

In dem Augenblick, in dem er die Burg betrat, verließ ihn seine Zuversicht, die ihn erfüllte, seit er die Sonne wieder zu sehen bekommen hatte. Und je tiefer er in das Gebäude hineingeführt wurde, desto schlechter wurde sein Gefühl. Von draußen hatte die Burg nur sonderbar, vielleicht etwas sinnlos und geisteskrank ausgesehen, doch drinnen war sie düster und bedrückend. Und Nils fand, wenn es Geisterschlösser gab, dann konnten sie nur so aussehen. Dabei waren die Flure noch nicht einmal besonders eng, aber nur selten gingen sie durch welche, die Fenster besaßen und halbwegs hell waren. Er hatte richtig beobachtet, sie waren verglast, aber das Glas ließ nur wenig Licht hindurch. Die inneren Flure waren niedrig und nur von Fackeln in weiten Abständen spärlich beleuchtet. Keine Läufer dämpften ihre Schritte. Hohl hallten sie an den Wänden wider.

Entweder sie befanden sich in einem Flügel, in dem sich niemand die Mühe gemacht hatte, die Gänge wenigstens etwas wohnlich auszustatten, oder die Bewohner hier legten keinen Wert darauf. Es gab nicht nur keine Läufer, sondern auch keine anderen Einrichtungsgegenstände, keine Bilder, keinen Schmuck, keine Wandbehänge, nicht einmal die unvermeidlichen Ritterrüstungen, wie sie einem in mittelalterlichen Burgen Europas begegnen.

Die Türen in den dunkelgrauen Wänden hoben sich durch ihre tiefe Schwärze ab und glichen eher finsteren Löchern als Eingängen zu dahinterliegenden Räumen. Einige waren aus Holz, aber andere kamen Nils vor, als wären sie aus Eisen hergestellt worden. Fast wie in einem Verlies, fand Nils. Und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die gelegentlichen Wachen, die bewegungslos mit durchdringend grünschimmernden Augen die düsteren Flure nach möglichen Eindringlingen absuchten.

Dann endlich hatte ihre bedrückende Wanderung durch das Gemäuer ein Ende und Nils hatte sich seine Meinung gebildet. Das Bauwerk konnte nur eine Burg, eine Festung sein, denn ihr fehlten alle Merkmale eines lichten und fröhlichen Schlosses.

Sie näherten sich einer breiten, zweiflügeligen Tür, und bevor sie von den beiden Wachen davor aufgehalten wurden, wurde sie von innen geöffnet und gab den Weg in einen kleinen Saal frei. Am Eingang blieben auch die beiden Krieger zurück, die Nils bisher begleitet hatten.

Sie wurden bereits erwartet. Es waren drei Männer. Da es in der Halle ein wenig heller war, sie besaß vier ovale Fenster, konnte Nils mehr Einzelheiten erkennen. Nach ihren Trachten beurteilt, hatte er einen Adligen, einen Priester oder Mönch und einen höheren Krieger, vielleicht einen Oberst oder General, vor sich.

Der Adlige trug eine ziemlich aufwendig gearbeitete Bekleidung, bestehend aus einem knöchellangen, hellblauen Gewand, einer violetten Weste und einem silbernen Gürtel, der seinen beachtlichen Bauch bändigte. An dem Gürtel hing ein niedlicher Dolch. Die Waffe schien eher zur Zierde als zum Kampf geeignet zu sein. Auch dieser Mann trug eine goldene Kette um den Hals, die jedoch schwerer und schmuckvoller war als die des Hofbeamten. Dunkle, glatte Haare fielen bis auf seine Schultern. Der Mönch sah aus, wie man es von einem Glaubensbruder erwarten konnte. Eine dunkelbraune Kutte mit Kapuze und eine schwarze Kordel um seine Hüfte waren seine ganze Kleidung. Sein Haupt war kahl und sein faltiges Gesicht ließ auf ein höheres Alter schließen. Er hatte sein Arme vor der Brust verschränkt und musterte Nils mit einem durchdringenden Blick. Der Krieger trug eine knielange, hellgraue Tunika und eine kurze, grüne Toga. An seinem Gürtel hing ein armlanges Schwert in einer kunstvoll gearbeiteten Scheide. Sein Gesicht wurde zur Hälfte von einem mächtigen, blonden Bart verdeckt und auf dem Kopf saß ein reich verzierter, lederner Helm.

Alle drei Männer trugen die gleichen Sandalen und sie waren von der Art, wie Nils sie schon bei den Kriegern aufgefallen war, die ihn am Morgen gefangengenommen hatten. Sicher sollte die Bekleidung auch eine gewisse Würde verbreiten, aber irgendwie kam sie Nils eher lächerlich vor.

Ein Standgericht, kam es Nils ein wenig belustigt in den Sinn, aber noch fiel es ihm nicht ein, eine solche Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen, denn er ahnte nicht, wie nahe er der Wahrheit kam. Und ihm wäre auch kein Grund eingefallen, der eine solche Maßnahme gerechtfertigt hätte.

Die beiden Türflügel hinter ihm schlossen sich so geräuschvoll, dass er zusammenzuckte. Dann war er mit den drei Männern allein. Der Hofbeamte hatte den Raum wieder verlassen.

Für einige Zeit herrschte ein unbehagliches Schweigen, in der Nils die drei Fremden und sie Nils betrachteten. Dann wandte sich der Adlige in einer fremdartigen Sprache an den Mönch. Der nickte und das Verhör war eröffnet.

„Das ist ein Standgericht“, erklärte der Mönch mit eisiger Stimme. „Und wie es für dich ausgeht, hängt davon ab, wie du unsere Fragen beantwortest. Wer bist du und was willst du in unserem Land?“

Dass es sich also doch um ein Standgericht handelte, verschlug Nils für einen Augenblick die Sprache. Dieses Mal hatte Nils die Worte verstanden. Der Mönch hatte sogar deutlicher und verständlicher gesprochen als die Wachen. Aber was er sagte und die Art und Weise, wie er es tat, gefielen Nils überhaupt nicht, und er wurde plötzlich sehr ernst.

„Mein Name ist Nils Holm“, antwortete er schließlich. „Und ich weiß nicht, warum ich hier bin, ehrlich.“

Das war die Wahrheit und es betraf seine Anwesenheit sowohl in dieser Welt als auch in der Burg. Schließlich, nahm er an, hatte er weder in jene Welt noch in die Burg gewollt. Was die Burg betraf, war er sich sogar sicher. Aber Nils war auch klar, dass diese Antwort für die drei nicht befriedigend sein würde. Der Mönch übersetzte sie dem Adligen und an dessen Gesichtsausdruck sah Nils seine Befürchtung bewahrheitet.

„Du weißt, wo du dich befindest?“, stellte der Mönch die nächste Frage.

„Nein“, gab Nils ehrlich zu, aber sein gleichzeitiges Achselzucken und Kopfschütteln ließen seine Antwort nicht allzu selbstbewusst erscheinen. „Ich sage die Wahrheit. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wo ich herkomme. Ich habe mein Gedächtnis verloren. Wenn es nach mir ginge, wäre ich schon wieder weg. Aber nicht einmal diesen Weg kenne ich.“

Nils war überhaupt nicht sicher, ob seine Worte die drei Männer überzeugten. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut und er spürte, wie seine Knie ihre übliche Festigkeit verloren.

„Weg? Wohin denn, wenn du dich angeblich an nichts mehr erinnerst?“, fragte der Mönch spitzfindig. „Wie steht es mit der Erinnerung daran, etwas vorzuhaben, was wir nicht allzu sehr schätzen würden? Falls auch sie dir abhandengekommen ist, hilft dir vielleicht jemand, dich zumindest daran wieder zu erinnern. Und sei dir sicher, dass Ausreden vor uns keinen Bestand haben werden. Also überlege dir noch einmal, ob du uns nicht doch lieber gleich die Wahrheit sagst. Jetzt machen wir es dir noch leicht, dich zu entscheiden.“

Hiernach übersetzte der Mönch Nils´ Antwort den anderen beiden.

Nils schüttelte ungläubig den Kopf. Irgendwie schien der Mönch Nils´ Worte nicht begriffen zu haben und seine Andeutungen ließen mehrere Möglichkeiten zu, aber keine war geeignet, Zuversicht zu verbreiten. Was konnte er diesen Verrückten nur sagen, damit sie ihm glaubten und er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen konnte?

Das Gesicht des Adligen zeigte eine unübersehbare Verärgerung. Der Mönch fuhr fort.

„Du willst uns also weismachen, dass du dich rein zufällig im Reservat herumgetrieben hast?“, fragte er mit erhobener Stimme. „Du bist als Mensch in die Welt der Rûngori eingedrungen, ohne sie ausspionieren zu wollen? Wir wissen, dass gelegentlich Menschen hier auftauchen und wir wissen auch, dass sie manchmal Böses im Schilde führen. Willst du leugnen, mit den »Verschwörern Euserias« im Bunde zu stehen? Sie sind unsere Feinde und sie werden von Menschen unterstützt. Wir wissen davon. Nun denn, sprich, was habt ihr vor?“

Nils schüttelte abermals verzweifelt den Kopf. Er hatte keine Ahnung, wovon der Mönch redete. Die ganze Art und Weise des Verhörs kam ihm ziemlich grotesk vor, nicht zuletzt auch wegen denjenigen, die es durchführten.

„Ich kenne keine – Verschwörer »Euserias«“, erwiderte er. „Ich wusste noch nicht einmal, dass ihr das Volk von Rûngor seid. Ich war noch niemals hier und habe noch nicht einmal von euch gehört. Das ist die Wahrheit.“

„Fürst Dyrgorn glaubt, dass du lügst“, meinte der Mönch. „Du bist ein Spion, das ist sicher, und falls du doch die Wahrheit sagst und nicht zu den Verschwörern gehörst, schickt dich dann Fürst Albyn, der Herrscher über die Bergkrieger?“

„Wer ist Fürst Albyn und wer sind die Bergkrieger? Ich habe von ihnen noch nie etwas gehört?“

„Jetzt reicht es!“, fuhr ihn der Krieger an und Nils erschrak. Er sprach ein eher schlechtes Deutsch, aber es war klar, dass er alles, was bisher gesagt worden war, verstanden hatte. „Auch ich glaube, dass du lügst. Du hältst uns zum Narren.“

Doch er gab Nils keine Gelegenheit für eine Erwiderung, sondern wandte sich dem Adligen zu. Nils vermutete, dass das Fürst Dyrgorn war. Offensichtlich beherrschte er seine Sprache nicht, denn er ließ sich alles übersetzen.

Dann geschah etwas völlig Unerwartetes. Während die drei Rûngori lebhaft miteinander redeten, begannen sie sich vor Nils´ Augen aufzulösen. Er blickte die Männer fassungslos an. Es war wie bei den Pferden der Gefängniskutsche. Doch auch dieser Vorgang kam nicht zur Vollendung. In dem Maße, wie die drei Rûngori schwanden, erschienen drei andere Männer, und während die Rûngori in ein heftiges Gespräch verfielen, das immer leiser wurde, standen die drei Erscheinungen stumm und bewegungslos da und blickten sich um. Nils erkannte ihre Überraschung. Anscheinend wussten sie nicht, wo sie waren. Sie trugen eine Kleidung, die wesentlich älteren Ursprungs zu sein schien, als die »Mode« der Rûngori, die Nils bisher gesehen hatte. Es waren fellbehangene Leinengewänder, so wie es aussah. Doch bevor Nils mehr Einzelheiten erkennen konnte, verschwanden sie so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Er konnte gerade noch feststellen, dass es keine Rûngori waren. Sie hatten weder leuchtende Augen noch die etwas längliche Kopfform. Nein, es waren – Menschen.

Dyrgorn, der Mönch und der Krieger wurden wieder deutlicher und ihr Gespräch lauter. Schließlich standen sie wieder vor Nils wie vorher. Sie hatten sich nicht vollends aufgelöst und offenbar noch nicht einmal etwas bemerkt, denn ungerührt setzten sie ihre Beratung fort.

Nils war verwirrt. Was ging in dieser Welt vor? Bei den Pferden hatte er noch geglaubt, dass ihm seine Sinne aus irgendeinem Grund einen Streich spielten. Doch jetzt war es schon wieder passiert. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.

Und dann geschah etwas, womit offensichtlich auch die drei Rûngori nicht gerechnet hatten, denn die Tür zu dem Saal wurde aufgerissen und ein Mann in der Rüstung der Wachen stürzte herein. Überrascht und etwas ärgerlich sahen die drei auf. Der Krieger blieb vor ihnen stehen und verneigte sich kurz. Für Nils hatte er keinen Blick übrig. Hastig redete er auf die drei ein, und obwohl Nils die fremde Sprache nicht verstand, sah er, dass das, was er berichtete, bestürzend sein musste, denn sie gerieten sichtlich in Unruhe. Der Bote hatte kaum geendet, als Dyrgorn mit befehlender Stimme etwas in den Flur rief, woraufhin zwei Wachen erschienen.

„Wir haben jetzt keine Zeit mehr, um uns mit dir zu befassen“, sagte der Mönch zu Nils. „Aber du wirst Gelegenheit bekommen, darüber nachzudenken, was du uns später erzählen willst. Du kannst einer Strafe entgehen, wenn du uns dann sagst, was du weißt.“

„Strafe? Was für eine Strafe? Wofür? Ich habe doch nichts getan. Was soll ich wissen?“, erwiderte Nils erschrocken.

„Die Strafe für das unerlaubte Auftauchen eines Menschen in unserer Welt, noch dazu im Reservat, und für das Bündnis mit den Verschwörern: Die Hinrichtung“, erklärte der Mönch mit bedrohlich gepresster Stimme. „Führt ihn ab.“

Die letzten Worte waren an die Wachen gerichtet. Nils´ Knie wurden weich und die Welt um ihn begann sich zu drehen. Ein sicheres Todesurteil, denn was sollte er antworten, um es abzuwenden? Wenn ihn die Wachen nicht zwischen sich genommen hätten, dann wäre er zusammengesunken. Sie hatten alle Mühe, Nils hinauszuschleppen, denn er war groß und nicht gerade leicht. Er gewahrte kaum, dass der Fürst, der Mönch und der Offizier eilends den Raum verließen und noch vor ihnen durch die Tür waren.

Wie in einem Traum erlebte Nils, wie die beiden Wachen ihn durch die Flure führten. Sie erreichten eine Treppe, die in den Keller der Burg hinabstieg. Nils nahm nur unregelmäßige und bewegte Schatten wahr und mehrmals wäre er auf den Stufen gestürzt, wenn die Wachen ihn nicht gehalten hätten.

Im Keller waren die Gänge noch spärlicher beleuchtet als in den Fluren, die sie im oberen Teil der Burg durchquert hatten. Eine Tür wurde quietschend und knarrend geöffnet. Nils spürte einen Stoß und fiel in ein schwarzes Loch. Ein übler Geruch schlug ihm entgegen. Die Tür wurde hinter ihm wieder zugeschlagen und vernehmlich ein Riegel davorgeschoben. Dann wurde es still um ihn. Er kniete auf der Erde und war wie betäubt. Ihm wollte kein Gedanke gelingen und er war nicht einmal fähig, vor Verzweiflung zu schluchzen. Von innen sah Nils in diesem Augenblick genauso aus wie seine Umgebung. Jetzt fehlte nicht mehr viel, damit er mit seinem Leben abschloss.

Aber Nils war nicht allein in dem Kerker. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, bemerkte er ein grünes Glimmen in seinen Augenwinkeln. Nils zuckte zusammen. Hatten die Schrecken denn überhaupt kein Ende? Ein Paar leuchtend grüne Augen starrten ihn an.

„Tenbe om keri harn“, sagte eine fremdartige Stimme.

Die Botschaft, die Nils nicht verstanden hatte, hatte die drei Rûngori, die ihn verhörten, tatsächlich in größte Unruhe gestürzt. Die Ereignisse, die sie ankündigte, machte das unerwartete Auftauchen des Menschen, der sich Nils Holm nannte, zweitrangig, jedenfalls für den Augenblick. Ein mächtiges Heer der Bergkrieger unter der Führung des Fürsten Albyn näherte sich der Stadt. Und Fürst Dyrgorn hatte es versäumt, seine Steppenkrieger darauf vorzubereiten. Diese Entwicklung hätte er kommen sehen können. Seine Unentschlossenheit rächte sich jetzt.

Die Bewohner der Welt, in die es Nils verschlagen hatte, und es waren nicht nur Rûngori, lebten in verschiedenen Ländern, vergleichbar mit den Menschen auf der Erde. Obwohl Nils diese Welt bis zu seinem Verhör nur als eigentümlich empfunden hatte, besonders innerhalb des Reservates, war sie ihm doch einigermaßen friedlich vorgekommen. Sicher lag es auch daran, dass er bis zu seiner Gefangennahme keinen ihrer Bewohner zu Gesicht bekommen hatte und fast schon glaubte, dass sie aus irgendwelchen Gründen unbewohnt war. In dem verlassenen Dorf jedenfalls hatte er keine Anzeichen für kriegerische Auseinandersetzungen gefunden. Dass seine erste Bekanntschaft die mit Kriegern war, hielt er für zufällig. Doch allein die Tatsache, dass es die Krieger gab, hätte ihn eines Besseren belehren müssen. Und so täuschte der Eindruck der Friedfertigkeit. Es war keine Welt des ewigen Friedens und es ging in ihr keineswegs harmonischer zu als auf der Erde, wenn es zu dieser Zeit dort auch keinen größeren Krieg gab. Aber Nils war zu einem Zeitpunkt aufgetaucht, in dem die Feindschaft zwischen den Bergkriegern und den Steppenkriegern wieder einmal einem Höhepunkt entgegenging.

Beide Stämme gehörten dem Volk von Rûngor an und die Grenzen ihrer Stammesgebiete verliefen zum großen Teil durch das Reservat. Da war es nur verständlich, dass Dyrgorn, der Fürst der Steppenkrieger, jemanden, der aus dieser Gegend kam, für einen Spion halten musste. Und wenn es schon keiner des »Euseria« war, dann einer der Bergkrieger. Ihnen war durchaus zuzutrauen, dass sie auch mit Menschen im Bunde standen. Wäre Nils in die Hände von Bergkriegern gefallen, dann hätten sie das Gleiche von ihm gedacht.

Nicht viele Menschen kamen in diese Welt, aber die, die es taten, tauchten aus unerfindlichen Gründen meistens bei den Bergkriegern auf. Also war die Schlussfolgerung, dass Nils ein Spion war, nur folgerichtig. Aber dieses Mal irrten sie sich.

Dass die Steppenkrieger Nils so schnell nach seiner Ankunft entdeckt hatten, lag daran, dass sie in ihrem Argwohn das Reservat nicht aus den Augen ließen und sich in dem Augenblick, als er dort das Tor zwischen der Erde und Rûngnár durchschritt, zufällig ein paar Krieger in der Nähe der Lichtung befanden. Obwohl es für die Rûngori eine überaus bedrohliche Gegend war, ließen beide Stämme dort Wachen patrouillieren. Nils hätte also genauso gut in die Hände von Bergkriegern fallen können, obwohl die ihm wahrscheinlich wohlgesonnener gewesen wären, zumindest solange, bis sie feststellten, dass er kein Feind der Steppenkrieger war, die er schließlich gar nicht kannte.

Allerdings lag der Grund für die Verlassenheit des Reservates nicht in der Feindschaft zwischen den beiden Stämmen. Die hätten niemals zu den Kräften führen können, die dort wirkten. Die Rûngori waren zwar in mancher Hinsicht den Menschen überlegen, aber der Macht, die das Reservat für sich beanspruchte, hatten sie nichts entgegenzusetzen. Diese Kraft besaßen nur wenige Einwohner dieser Welt und eine geheime Gruppe, die sich ins Reservat zurückgezogen hatte. Bei ihr handelte es sich um die sogenannten »Verschwörer Euserias«, die sowohl von den Steppenkriegern als auch von den Bergkriegern gefürchtet und gehasst wurden.

Von all diesen Umständen ahnte Nils nichts und er hatte in diesem Augenblick auch ganz andere Sorgen, als sich darüber Gedanken zu machen. Trotzdem hatte er im Gegensatz zu einigen anderen Menschen, die dort gefasst worden waren, Glück im Unglück, denn der Angriff der Bergkrieger auf die Hauptstadt der Steppenkrieger verhinderte ein ernsthaftes Verhör und einen unvermeidlichen Urteilsspruch.

„Tenbe om keri harn“, wiederholte der andere Gefangene.

Diese Worte rissen Nils aus seiner Verzweiflung. Er wischte sich mit seinem Ärmel eine Träne aus dem Gesicht und blickte den Fremden blinzelnd an. Außer dessen Augen war in der Finsternis nichts von ihm zu erkennen. Nils dachte nicht daran, aber die Tatsache, dass seine Augen nicht leuchteten, verriet ihn sofort als Nicht-Rûngori.

„Wer bist du?“, fragte Nils. „Verstehst du meine Sprache?“

Nils hatte berechtigte Hoffnung, dass es so war, denn überraschenderweise schien sie unter den Rûngori nicht unbekannt zu sein, wenn sie wohl auch nicht jeder sprach und die, die es taten, mit unterschiedlichem Vermögen.

„Ja, ich verstehe dich“, hörte Nils. „Willkommen im finstersten Verlies des Fehenlandes. Wie heißt du? Du bist kein Rûngori. Warum haben sie dich in dieses Verlies gesteckt? Gab es kein Verhör?“

Dass der Fremde Deutsch sprach, wunderte Nils wie gesagt nicht, aber dass seine Aussprache vollkommen ohne Dialekt war, überraschte ihn doch. Ein plötzliches Misstrauen beendete seine Bereitschaft, dem Rûngori zu antworten. Was war, wenn der Gefangene ihn aushorchen sollte, wenn das jetzt eine Fortsetzung des Verhörs war? Er musste nicht einmal zu denen gehören, die ihn verhört hatten. Vielleicht hatten sie ihm auch nur die Freiheit versprochen für diesen kleinen Dienst. Vielleicht hatten sie Nils deswegen in diesen Kerker gesteckt, weil sie wussten, dass ihr Gefangener besonders gut seine Sprache beherrschte.

Nils hörte ein leises Lachen.

„Ich spüre deinen Argwohn“, sagte der Fremde. „Und ich kann ihn dir nicht verdenken. Aber du kannst mir vertrauen. Ich stehe den Steppenkriegern nicht so nahe, dass sie mich für besondere Auskünfte freilassen würden. Davor fürchtest du dich doch, vermute ich. Mein Name ist Narvidur. Sage mir wenigstens, wie du heißt.“

„Also gut, mein Name ist Nils, Nils Holm. Ich bin ein Mensch.“

„Nils Holm?“, wiederholte Narvidur mit einer unüberhörbaren Überraschung in der Stimme. „Nils Holm, sagst du? Wie kommst du denn....?“ Dann schwieg er. Vermutlich machte er sich Gedanken, aber das konnte Nils in der Dunkelheit nicht erkennen.

„Ja, Nils Holm. Was ist daran so sonderbar? Schließlich soll es hier noch andere Menschen geben.“

„Sonderbar? Das sicher auch. Ich habe nur.... Wie konnte das....?“

Der Rest ging in einem Murmeln unter. Nils sah an der Bewegung der Augen des Rûngori, dass er leicht den Kopf schüttelte. Mit dem, was der Rûngori gesagt hatte, konnte Nils verständlicherweise nichts anfangen.

„Hast du Hunger?“, fragte Narvidur. Er hatte seine Überraschung überwunden, aber Nils würde vorläufig keine Erklärung für die Ursache dafür bekommen.

Bis zu diesem Augenblick hatte Nils seinen Hunger vergessen, aber jetzt überfiel ihn dieses Gefühl in unangenehmer Weise.

„Mehr als das“, sagte er. „Aber hier wird es wohl nichts geben.“

Wieder vernahm er das leise Lachen des Rûngori.

„Du täuschst dich. Warum hätte ich dich sonst gefragt? Immerhin sitzen wir in einem Kerker und zu einem ordentlichen Kerker gehören Wasser und Brot.“

Die leuchtenden Augen bewegten sich auf Nils zu und etwas berührte ihn an der Schulter. Er griff danach und tatsächlich hielt ihm Narvidur einen Krug und ein Stück Brot hin. Die Augen entfernten sich wieder. Den Umständen entsprechend erwartete Nils nichts besonders Genießbares und wurde angenehm überrascht. Das Wasser war frisch und das Brot schmeckte besser als alle Brote, an die er sich erinnerte. Das allerdings waren nicht sehr viele. Möglicherweise lag es aber auch einfach nur an seinem Heißhunger. Begierig biss er zu.

„Lass dir Zeit“, meinte Narvidur mit väterlicher Stimme. „Ich werde dir nichts streitig machen. Es ist gutes Rûngori-Brot. Es wird dich stärken.“

Das stimmte. Nils hatte erstaunlich schnell das Gefühl, dass sein Hunger verschwand.

„Ist das besonderes Brot?“, fragte er kauend. „Es schmeckt so anders, fast wie Kuchen.“

„Nein, alle Brote, die aus Brankorn gebacken sind, schmecken so.“

„Brankorn?“

„Das ist ein wichtiges Getreide in unserem Land.“

Während Nils aß, kehrten seine Lebensgeister zurück, und obwohl sich seine Lage deswegen nicht verändert hatte, keimte in ihm wieder Hoffnung auf bessere Zeiten auf. Vielleicht war sein Dasein ja doch noch nicht an seinem Ende angelangt. Und es wäre ein wahrhaft kümmerliches Ende, in einem rûngorischen Verlies umzukommen, ohne dass jemand aus seiner Heimat etwas davon erfuhr.

„Wie lange bist du schon hier?“, fragte Nils. „Und warum?“

„Noch nicht lange. Erst seit gestern“, antwortete Narvidur und seine Stimme hörte sich gleichmütig an. Fern jeglicher Verzweiflung.

„Stört dich das gar nicht?“, wunderte sich Nils. „Was werfen sie dir vor? Und außerdem, wie heißt diese Stadt? Wo sind wir hier?“

Narvidur lachte wieder leise. Nils hatte das Gefühl, als besaß dieser Rûngori ein erstaunlich sonniges Gemüt. Er konnte ihn zwar nicht sehen, ausgenommen seine Augen, aber es fiel ihm nicht schwer, sich einen Rûngori mit langem Bart und ebenso langem, aber schütterem Haar vorzustellen, möglichst noch in Würde ergraut. Die hagere Gestalt eines mythischen Zauberers, dessen Bart bei jedem Heiterkeitsausbruch erzitterte und dessen zorniger Blick seinen Gegenüber auf die Knie zwingen konnte. Narvidur musste ein Rûngori sein mit einer Lebenserfahrung, die ihn auch in einer so ausweglosen Lage wie dieser gelassen bleiben ließ. Fast wie Gandalf aus dem »Herrn der Ringe«. Und diese Vorstellung gab Nils neuen Mut. Herr der Ringe? Gandalf? Wie kam er jetzt auf diese Namen?

„Warum sollte es mich stören? Es ist nicht angenehm hier, aber es wird nicht lange dauern. Vielleicht nur noch bis morgen. Und wenn du nachforschen könntest, aus welchem Grund ich hier bin, dann würde ihn dir keiner sagen können. Tatsächlich weiß nur ich ihn. Aber zu deiner Frage, wir sind hier in der Burg des Fürsten Dyrgorn. Ich dachte, das wüsstest du schon. Er ist ein Fürst der Steppenkrieger und irre. Die Stadt trägt den Namen Bihaford.“

Dieses Mal lachte Nils, aber es war trocken und überhaupt nicht humorvoll.

„Da hast du sicher Recht, wenn es einer von den drei Irren war, die mich verhört haben“, meinte er.

„Der Fürst, der Mönch und der Feldherr“, stellte Narvidur fest. „Ja, es sind immer die gleichen. Sie glauben, sie wären die Helden in einem Märchen. Und wahrscheinlich haben sie dir auch vorgeworfen, ein Spion zu sein. War es schlimm?“

„Das Verhör? Abgesehen davon, dass sie mir meine Hinrichtung angedroht haben, nicht. Ich fand es eher lächerlich, obwohl man das von seinem möglichen Ausgang nicht gerade sagen kann. Allerdings wurde es abgebrochen, bevor sie richtig ärgerlich wurden. Ein Bote kam herein, und seine Nachricht schien sie in einige Aufregung zu versetzen. Ich weiß aber nicht, worum es ging. Während ich abgeführt wurde, sind sie schon hinausgelaufen, glaube ich. Warum glauben sie, Märchenhelden zu sein? Ist das so erstrebenswert?“

„Du wirst die Bedeutung noch kennenlernen“, erwiderte Narvidur. „So, so, eine Nachricht, aha. Ja, das ist möglich. Sehr gut.“

„Du kennst den Grund?“

„Ich denke schon und dazu muss man noch nicht einmal ein Hellseher sein. Wüsstest du um die Zustände in unserem Land, dann hättest du auch die Antwort. Unter diesen Umständen ist es gut, dass wir hier unten sitzen und in Sicherheit, bis sich die Aufregung oben wieder gelegt hat.“

„Ich verstehe kein Wort“, gab Nils zu. „Warum ist es gut, in diesem elenden Loch zu sitzen?“

„Weil oben wahrscheinlich ein kleiner Krieg ausbrechen wird, der uns in Gefahr bringen könnte, wenn wir uns woanders in dieser Burg befänden. Hier unten können wir sein Ende in Ruhe abwarten. Er wird nicht lange dauern.“

„Krieg?“, fragte Nils erschrocken.

„Ja. Es wird aber wohl keine große Sache werden. Rege dich darüber nicht auf. Das lohnt sich nicht. Du wirst sehen.“

Es entstand eine längere Pause, in der Nils überlegte. Narvidur tat vielleicht das Gleiche, aber das konnte Nils nur vermuten. Wieder einmal fragte er sich, in was für eine eigenartige Welt er gelangt war. In Gedanken zählte er die Merkwürdigkeiten auf, denen er bis dahin begegnet war: Das verlassene Reservat, blaue Rehe und sechsbeinige Pferde, Einwohner mit sonderbaren Augen, ein Schloss, das sich jeglicher sinnvollen Baukunst widersetzte, ein irrer Herrscher [andererseits gab es davon auch auf der Erde genug] und schließlich dieses merkwürdige Verblassen von Wesen dieser Welt und das Erscheinen anderer Wesen an ihrer Stelle. Gewiss gab es noch mehr Merkwürdigkeiten, von denen er noch nicht einmal etwas ahnte.

Nils´ Verstand wurde arg strapaziert, und dass diese anderen Erscheinungen Bewohner der Erde sein konnten, darüber wollte er noch gar nicht nachdenken. Das hätte sein geistiges Vermögen vollends überfordert. Trotzdem stand er kurz davor, Narvidur nach den Gründen für diese Phänomene zu fragen. Aber woher sollte er sie kennen? Außerdem hatte Nils nach allem keine Lust darauf, dass der Rûngori sich über ihn lustig machte.

Jedenfalls war seine Lage ziemlich verwirrend, und wie es aussah, wahrscheinlich sogar hoffnungslos. Nils hatte keine Vorstellung, wie es weitergehen sollte. Es gab keine Möglichkeit zu erkennen, was auf ihn zukam. Das Einzige, was Nils hoffen konnte, war, dass seine Gerichtsverhandlung irgendwie durch den Krieg, von dem Narvidur gesprochen hatte, beeinflusst wurde. Vielleicht bestand sogar die Aussicht, dass der Ausgang des Krieges sein Todesurteil verhinderte. Blieb immer noch die Frage, ob er dann auch wieder freikam und nicht doch in diesem Verlies sein Ende fand. Es war schrecklich.

Nils erlebte diese Stunden in einem ständigen Wechsel von tiefer Verzweiflung, Angst, Hoffnung, von vorübergehend aufkeimendem Mut und gelegentlicher irrer Heiterkeit. Obwohl es eigentlich gar keinen Grund dafür gab, außer der offensichtlichen Zuversicht Narvidurs, verband Nils alle Hoffnung mit diesem Rûngori.

Dann fiel ihm eine Ungereimtheit auf. Er hatte wohl erfahren, dass sich gelegentlich Menschen in die Welt der Rûngori verirrten, aber es waren anscheinend nicht so viele, dass ihre Anwesenheit keine Aufmerksamkeit mehr erregte, nicht nur bei den Wächtern, deshalb....

„Sag `mal, Narvidur, bist du überhaupt nicht erstaunt, einen Menschen in der Gefängniszelle zu haben?“, fragte Nils. „Interessiert dich überhaupt nicht, wo ich herkomme?“

„Warum?“, erwiderte Narvidur. „Ich kenne Menschen und vielleicht sogar mehr als andere Rûngori. Und wenn ich deine Sprache berücksichtige, kommst du aus irgendeinem deutschsprachigen Land Europas. So heißt es doch, glaube ich, bei euch. Wenn ich mich nicht irre, dann kommst du aus Deutschland. Und du bist nicht der erste, der in Bihaford im Kerker des Fürsten landet. Und damit bist du schon recht weit gekommen. Ein größerer Teil schafft es nicht einmal mehr bis hier unten.“

„Warum? Was geschieht mit ihnen?“

„Du hast bei deinem Verhör nicht zugehört. Die Andeutung deines Todesurteils war keine leere Drohung.“

„Du meinst -?“

„Ich meine nur, dass bei euch immer wieder Menschen verschwinden und nicht wieder auftauchen.“

Nils schluckte.

„Und alle enden hier?“, fragte er bestürzt.

Narvidur lachte.

„Himmel, nein, sonst wären hier mehr Menschen als Rûngori. Der eine oder andere ist hier aber wohl schon angekommen. Aber mach dir keine Sorgen. Wie ich dir sagte, sind wir hier unten ganz gut aufgehoben. Sicherlich hast du keine schöne Zeit durchgemacht, aber unter diesen Umständen ist dir das Beste zugestoßen, was möglich war. Morgen sehen wir weiter. Und nun, glaube ich, ist es an der Zeit, ein wenig zu schlafen.“

Ungläubig schüttelte Nils den Kopf. Von sich aus wäre er nie auf den Gedanken gekommen, seiner Lage etwas Gutes abzugewinnen.

„Ich verstehe deine Gelassenheit nicht“, sagte er und in seiner Stimme lag fast ein gewisser Ärger. „Wir sitzen hier in hoffnungsloser Lage und zumindest ich warte auf meine Hinrichtung und du denkst ans Schlafen.“

Narvidur lachte wieder.

„Warte ab. Es gibt Umstände, unter denen es besser ist, eine Zeit lang nichts zu tun. Dieser ist so einer. Du wirst sehen. Morgen Abend sieht die Welt schon wieder besser aus.“

„Kannst du etwa in die Zukunft sehen?“

„Vielleicht.“

Nils sah an der Bewegung der Augen Narvidurs, dass er sich auf den Rücken legte. Er schien nicht mehr gewillt zu sein, die Unterhaltung weiterzuführen. Es dauerte nicht lange, dann erlosch das grüne Leuchten. Narvidur war eingeschlafen. Kurz darauf war nicht mehr zu überhören, dass das Schnarchvermögen eines Rûngori dem eines Menschen nicht nachstand.

Nils seufzte und versuchte, sich so bequem es ging hinzulegen. Er stellte bald fest, dass es nicht bequem werden würde. Der Untergrund war aus Stein und uneben. Es dauerte nicht lange und Nils spürte die Kälte durch seine Kleidung kriechen.

An dem Morgen dieses Tages hatte er nicht erwartet, dass er am Abend das stinkende Sofa vermissen würde. Er verschränkte die Arme unter seinem Kopf, nachdem er eine kleine Spinne aus seinem Gesicht gewischt hatte, die sich in der Dunkelheit von der Decke herabgelassen hatte. Seine Gedanken glitten ab und schon bald störten ihn Narvidurs Schlafgeräusche nicht mehr.

Reise nach Rûngnár

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