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5. Elvis und Janis

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„Ist es schon so weit?“, fragte Nils, als er von Narvidur aus seinem letzten, unruhigen Schlaf geweckt wurde. Er setzte sich auf seinem Lager auf, gähnte und kratzte sich. Seine Stimme verriet, dass er noch nicht ganz da war.

Nils hatte schlecht geschlafen. Er war am Abend ziemlich erschöpft gewesen, aber all das, was ihm die Rûngori nicht erklärt hatten, hatte ihn noch eine Weile beschäftigt. Er war immer noch unzufrieden darüber, dass sie sich so zugeknöpft gezeigt hatten. Nils haderte mit seiner fehlenden Erinnerung. Es gab einige Dinge, von denen er glaubte, sie bereits irgendwo gehört zu haben, aber – verdammt noch mal – er wusste es nicht mehr. So war er nur in einige kurze Schlummer abgeglitten, die begleitet waren von unangenehmen Träumen, und zwischendurch immer wieder aufgewacht. Er fühlte sich an diesem Morgen nicht besser als am Abend zuvor.

Nils wusste nicht, ob es draußen schon hell war. Die Rûngori hatten wieder einige Fackeln entzündet und nur in der kleinen Feuerstelle brannten einige Holzstücke. Darüber hing ein Topf, in dem sie, es war kaum zu glauben, eine Art Kaffee zubereiteten.

„Sicher, wir stehen hier früh auf“, meinte Torfrida. „Wie lange wolltest du denn schlafen? Außerdem haben wir heute noch einen weiten Weg vor uns.“

„Hm“, machte Nils und kratzte sich am Kinn. Sein Gesicht zog sich nachdenklich in Falten. „Wie lange bin ich jetzt eigentlich schon in eurer Welt?“

„Warum die Frage?“, wunderte sich Narvidur. „Gefällt es dir hier nicht? Es ist der Morgen des vierten Tages.“

„Wie könnte es mir gefallen? Schließlich weiß man bei euch am Morgen nicht, ob man abends noch lebt. Aber das ist es nicht. Mein Bart wächst hier nicht.“

„Sei froh“, meinte Torfrida lachend. „Wir haben hier keine Bartscherer.“

Nach dem Frühstück öffnete Tophal eine Kiste, die in einer dunklen Ecke hinter einem Regal stand. Er kam mit einem länglichen Gegenstand zurück.

„Hier ist ein neues Schwert für dich“, sagte er zu Nils. „Dein altes hat weder eine Tasche noch ist es besonders schön gearbeitet.“

„Aber ich will kein Schwert“, sträubte sich Nils, dem die furchtbaren Bilder des vergangenen Tages noch gegenwärtig waren. „Ich will nicht kämpfen und ich kann auch gar nicht damit umgehen. Außerdem dachte ich, dass es auch nicht mehr nötig sein würde, schließlich sind wir jetzt doch in Sicherheit, habt ihr gesagt.“

Tophal lächelte.

„Ich fürchte, noch nicht so ganz. Aber ich weiß, dass dir kämpfen widerstrebt. Sieh es dir wenigstens an. Es ist eine sehr schöne Waffe. Dann kannst du sie mir wiedergeben.“

Nils nahm sie widerwillig entgegen und er tat es nur, um Tophal einen Gefallen zu tun, aber nicht, weil er sich wirklich dafür interessierte. Narvidur machte Tophal eine Geste und sie gingen unauffällig an den Ausgang.

„Ich dachte, ihr wusstet nicht, dass er hier auftaucht. Und nun ist sein altes Schwert hier?“, wunderte sich der Zauberer.

„Eins der beiden“, erklärte Tophal. „Er nannte es Hulonbar. Um ehrlich zu sein, ich hatte es fast vergessen, bis du mit Nils hierher kamst. Wusstest du, wo sie sind?“

„Ein Schwert liegt im Buchenhain, wenn es noch niemand weggenommen hat.“

„Das stimmt, es ist Seligor. Und es liegt immer noch dort. Dort war es gut aufgehoben.“

„Aha, ich hatte sie tatsächlich aus den Augen verloren“, gab Narvidur zu. „Und bis heute hat es mich auch wenig gekümmert. Und wie kommt dieses hierher?“

„Cereia hat es hier versteckt, als hätte sie geahnt, dass ihr beide hier auftauchen würdet.“

„Auf jeden Fall ist es gut, dass es hier ist. Ich bin gespannt, woran er sich erinnert.“

Narvidur und Tophal sahen unauffällig zu Nils hinüber. Diese Vorsicht war allerdings unnötig, denn Nils wäre auch ein weniger heimlicher Blick kaum aufgefallen. Er war ganz mit dem Schwert beschäftigt.

Narvidur nickte.

„Da bin ich auch gespannt.“

„Also gut, packen wir unsere Sachen“, meinte Tophal.

Nils hatte das Schwert tatsächlich nur ungern entgegengenommen und auch nur, weil ihn der Rûngori darum gebeten hatte. Er tat es mit dem festen Vorsatz, es ihm wieder zurückzugeben. Er wusste nicht mehr, was er in seiner Welt von diesen Waffen gehalten hatte, aber seit seinen schrecklichen Erlebnissen in der Burg hatte er Angst davor.

Umso erstaunter war er über die unerwartete Regung, die ihn erfüllte, als er die Schwerttasche in den Händen hielt. Er hatte keine Erklärung dafür, aber plötzlich überkam ihn das widersinnige Gefühl, »dieses« Schwert irgendwoher zu kennen. Das war natürlich Unsinn, denn warum sollte das der Fall sein? Trotzdem blieb der Eindruck, dass ihn irgendetwas mit ihm verband, etwas, dessen Erinnerung daran genauso verschüttet war wie so vieles aus seinem bisherigen Leben. Aber wie es schien, war es keine schöne Erinnerung. Trotzdem gab es etwas in seiner Vergangenheit, das verhinderte, dass er es umgehend aus der Hand legte.

Nils strich prüfend mit einer Hand über die Schwerttasche. Sie war aus Leder und bereits sehr alt. Seltsame Zeichen und Muster waren darauf eingebrannt. Abnutzungsstellen deuteten darauf hin, dass das Schwert einstmals in Gebrauch gewesen war. Nils blickte verstohlen um sich und hoffte, dass die anderen nichts von seinem wachsenden Interesse an der Waffe bemerkten, aber Narvidur und Tophal unterhielten sich am Ausgang der Höhle und Torfrida räumte den Raum auf. Allerdings, lange konnte sein Sinneswandel nicht unerkannt bleiben.

„Hirschleder und Runen“, murmelte Nils, als er mit seiner Hand darüber strich.

Das war eine bemerkenswerte Erkenntnis, denn eigentlich hätte er niemandem sagen können, zu welchem Tier ein Leder gehörte, das ihm vorgelegt wurde. Und für jemanden, der Nils von der Erde her kannte, wäre es nicht weniger bemerkenswert gewesen, ihn jetzt zu sehen, denn unter gewöhnlichen Umständen hätte er sich über eine derartig kitschige Waffe zweifellos lustig gemacht. Nils kam jedoch zu der unerklärlichen Einsicht, dass ihm das – dieses – Schwert etwas bedeutete. Er zog die Klinge heraus. Sie war glatt und ohne Gravur. Und wenn der Zustand der Tasche auch bewies, dass sie nicht neu war, so zeigte die Klinge keine Spuren des Gebrauches, keine Scharten, Flecken oder Verschmutzung. Sie war makellos und glänzend. Nils hob die zweischneidige Waffe vor sein Gesicht und drehte sie einige Male. Er war so in Gedanken, dass er nicht wahrnahm, wie Narvidur und Tophal ihn beobachteten. Nils war sicher, dass er nichts von Schwertern verstand, aber er fand, dass dieses ausgezeichnet in der Hand lag. Aber da war noch etwas. Die Ahnung einer verschütteten Erinnerung überkam ihn. Doch es blieb dabei, es war keine angenehme Erinnerung. Weiter kam er jedoch nicht, denn Torfrida unterbrach seine Gedanken.

„Vorsicht, Nils“, ermahnte sie ihn lächelnd. „Du verletzt schließlich noch jemanden.“

Das riss ihn aus seiner Gedankenverlorenheit. Er schob das Schwert wieder in die Tasche.

„Wie eigenartig“, murmelte er versonnen.

„Wie ich sagte, du musst es nicht behalten“, meinte Tophal und streckte Nils seine Hände entgegen. „Wenn du willst, nehme ich es wieder zurück.“

Nils überlegte. Er zögerte kurz und sah auf die Erde. Dann schüttelte er den Kopf und blickte Tophal an.

„Ich glaube, ich werde es doch behalten. Vielleicht kann ich es im Wald benutzen, um uns einen Pfad zu bahnen und solche Sachen. Vielleicht ist es doch ganz brauchbar.“

„Wie du meinst. Dann schlage ich vor, wir brechen auf. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, wie Torfrida schon sagte.“

Tophal zwinkerte Narvidur unauffällig zu und der antwortete mit einem kaum sichtbaren Nicken.

Torfrida löschte das Feuer und nahm eine brennende Fackel zur Hand. Ohne das Licht hätte sie pechschwarze Dunkelheit umgeben. Nils erkannte die Tür am Ende des Tunnels erst, als sie kurz davorstanden. Sie war so dicht, dass kein Tageslicht durch irgendwelche Ritzen fiel. Tophal horchte einen kurzen Augenblick, dann nickte er. Narvidur öffnete die Tür und Torfrida steckte die Fackel in einen ehernen Halter in der Felswand. Die Flamme erlosch unvermittelt, als sie ins Freie traten. Nils sah es nicht mehr.

Sie kamen geradewegs vor einem Busch heraus und Nils musste sich ein wenig zwischen die Zweige drücken, um seinen Begleitern Platz zu machen. Leise knarrend schloss Torfrida die Tür wieder. Jetzt im Hellen konnte Nils erkennen, dass sie kein Schloss hatte, nur einen kleinen Handgriff.

„Darf ich?“, fragte er und bevor jemand Einspruch erheben konnte, zog er an dem Griff. Die Tür bewegte sich nicht um Haaresbreite. Er nickte.

„Ein kleiner Zauber, nehme ich an“, meinte er lächelnd.

„Ein kleiner“, gab Narvidur zu. „Da vorne geht es lang.“

Mit einer kurzen Handbewegung zeigte er den Weg. Torfrida übernahm die Spitze. Dann folgten Tophal, Nils und Narvidur.

Ein enger Pfad führte vom Eingang des Unterschlupfes in den Wald hinein, aber dieses Mal schlugen sie eine andere Richtung ein, die sie zunächst durch das Unterholz führte. Nach wenigen Schritten war von der Tür nichts mehr zu sehen. Narvidur gab Nils ein Zeichen weiterzugehen. Auf dem Weg musste er mehrmals Zweige abwehren, die Tophal vor ihm achtlos zurückpeitschen ließ und die ihm ins Gesicht zu schlagen drohten. Für einige Zeit kamen sie langsamer vorwärts als in der Nacht zuvor.

Nils wunderte sich ein wenig über sich selbst. Er hatte die Sache mit der Tür erstaunlich gleichmütig hingenommen, als wäre eine magisch verschlossene Tür das Gewöhnlichste, was es gab. Vor ein paar Tagen hätte er allein eine solche Möglichkeit rundweg ausgeschlossen, war er sicher. Auch seine Empfindungen und Gedanken, nachdem Tophal ihm dieses sonderbare Schwert in die Hände gelegt hatte, und sonderbar war es ohne Frage, konnte er sich nicht erklären. Da war irgendetwas in seiner Vergangenheit, das seiner Enthüllung harrte. Und plötzlich war sich Nils nicht mehr sicher, ob er wirklich zum ersten Mal in Rûngnár war. Hoffentlich kriege ich die Antworten, wenn meine Erinnerung wieder hergestellt ist, dachte Nils.

Was immer auch geschah und wie lange er auch in dieser Welt bleiben musste, wobei er sich wünschte, dass es nicht mehr lange dauerte, war er doch froh, dass er nicht mehr allein war. Ob sie seine Freunde waren, das musste sich erst noch herausstellen, aber zumindest war sein Trübsinn und seine Verzweiflung der ersten Tage verschwunden.

Nach einiger Zeit erreichten sie einen engen Waldpfad. Narvidur sah sich prüfend um.

„Gut, er ist frei“, meinte er und betrat als Erster den Pfad.

„Ist es der von gestern Abend?“, fragte Nils.

„Nein.“

Aber welcher es nun war und wohin er führte, sagte er nicht. Da sich Nils in dem Wald aber nicht auskannte, war das auch gleichgültig.

Solange sie in diesem Wald blieben, benutzten sie wildwechselähnliche Pfade. Mehrmals folgten sie Abzweigungen und zweimal überwanden sie unbefestigte Straßen, die deutliche Spuren von Kutschen- und Reiterverkehr zeigten. Allerdings betraten die vier nie eine Straße, ohne sich vorher vergewissert zu haben, dass sie an dieser Stelle frei von Reisenden war. Nils war erstaunt, wie unauffällig die drei Rûngori sich im Wald bewegten. Und dabei waren sie so schnell, dass er Mühe hatte, ihnen zu folgen. Er war sicher, dass sie aus Rücksicht auf ihn sogar langsamer marschierten, als sie es vermocht hätten. Sie waren sichtlich bemüht, den Wald möglichst unauffällig zu durchqueren und Nils zweifelte nicht daran, dass sie dabei erfolgreich waren, denn den ganzen Vormittag begegneten sie keinem weiteren Einwohner dieses seltsamen Landes. Nils ahnte, dass sie in dieser Gegend keine Freunde erwarten durften. Das änderte sich erst am Abend.

Der Tag war sehr angenehm. Es war morgens schon mild, und als sie das ehemalige Bergwerk verließen, versprach der klare Himmel einen sonnigen Tag, obwohl von der Sonne selbst noch nichts zu sehen war. Nebenbei erfuhr Nils, dass die Sonne Rûngnárs den Namen Bithnar trug, und dass es auch einen Mond gab, der aber nur zu unbestimmbaren Zeiten auftauchte, und das waren nicht die ersten Tage, in denen sich Nils in Rûngnár aufhielt. Er hieß Uthrud. Nils fiel auf, dass all diese Namen sich anhörten, als entstammten sie der nordischen Mythologie Europas, aber Narvidur konnte diesen Zusammenhang nicht bestätigen. Tophal wusste nur wenig darüber und Torfrida überhaupt nichts.

Im Lichte des Tages schien der Wald ein ganz gewöhnlicher zu sein, denn die Bäume, ein Gemisch aus Laub- und Nadelhölzern, die Nils nicht fremd waren, obwohl er ihre Namen nicht kannte, sahen hier nicht anders aus als auf der Erde, aber anders als bei der Lichtung, auf der er angekommen war. Die vier Wanderer wurden von zahllosen Insekten umschwirrt, die Nils ebenfalls bekannt waren, deren Artennamen er aber auch ohne Erinnerungslücke nicht gewusst hätte. In den Wipfeln und Kronen der Bäume und zwischen den Stämmen flog und sang ein Heer verschiedenster Vögel, wie man es auch an einem Sommertag auf der Erde erwarten konnte. Es ist wohl nicht notwendig zu erwähnen, dass Nils auch von denen keine mit Namen kannte, obwohl er schon einige von ihnen gesehen hatte. Ab und zu hörten sie, wie in der Nacht zuvor, ein Rascheln und Knacken im Unterholz nahe des Pfades, dessen Urheber sich aber niemals sehen ließen.

All das war nicht ungewöhnlich und hätte auch zu einem irdischen Wald gepasst. Und trotzdem gab es dort etwas, das Nils das bestätigende Gefühl gab, nicht mehr auf der Erde zu sein, etwas Merkwürdiges, Geheimnisvolles, das alles überlagerte. Aber es war nur ein Gefühl, ungreifbar und unerfindlich, und er wäre nicht in der Lage gewesen zu sagen, ob er die Atmosphäre als bedrohlich oder nur als befremdlich empfand. Sie war auf jeden Fall eigentümlich. Er glaubte nicht, dass es an seiner Überzeugung lag, in dieser Gegend keinen freundlich gesinnten Rûngori zu begegnen. Auf jedem Fall haftete dem Wald etwas Zauberhaftes an.

Nils war ein Stadtmensch und ein Leben in der Natur war ihm fremd. Besuche von Wäldern gehörten zu seinen Kindheitserlebnissen, und die lagen unter einem fast undurchdringlichen Schleier des Vergessens verborgen. Aber dass hier etwas anders war, als er erwarten würde, das spürte er deutlich. Er kam aber nicht dazu, seine Begleiter zu fragen, denn er hatte genug damit zu tun, ihnen zu folgen und während der Wanderung sprach keiner von den dreien. Dann geschah es zum dritten Mal.

Nils war für einen kurzen Augenblick in eigener Sache in den Büschen verschwunden, und die drei Rûngori warteten ein Stück vor ihm auf dem Pfad. Als er sich ihnen näherte, verschwammen plötzlich ihre Umrisse und es schien, als wollten sie sich auflösen. Doch wie bei den ersten beiden Ereignissen dieser Art wurde der Vorgang nicht vollendet. Aus den Gestalten der Rûngori heraus entstanden drei neue und wie es schien, wieder irdische. Es waren Afrikaner, drei sehr dunkelhäutige Männer. Wie Nils´ Freunde waren auch sie Krieger. Die Afrikaner waren in verschiedene Felle gekleidet und mit Speeren und Schilden bewaffnet. Ihre Gesichter waren mit merkwürdigen Mustern bemalt. Mehr konnte Nils auf die Schnelle nicht erkennen. Er rief seinen Begleitern etwas zu und tatsächlich drehten sich die Afrikaner zu ihm um. Im gleichen Augenblick verschwanden sie und Tophal, Narvidur und Torfrida gewannen wieder ihre solide Erscheinung zurück. Sie starrten Nils in der gleichen Haltung an, wie es die verschwundenen Afrikaner getan hatten.

„Wohin wolltet ihr denn gerade entschwinden?“, fragte Nils launig, als er bei ihnen ankam. Inzwischen hatte er ein wenig Erfahrung mit der Beobachtung dieses Phänomens, und seine Fassungslosigkeit darüber hielt sich in Grenzen.

„Was soll denn diese Frage?“, erwiderte Narvidur verständnislos. „Wir wollten nirgendwo hin.“

„Ist euch eben nichts aufgefallen?“

„Was soll uns aufgefallen sein?“

„Na ja, die Verwandlung. Also gut, ich will euch erklären, was ich an euch beobachtet habe.“

Er versuchte, möglichst jede Einzelheit zu erwähnen, an die er sich erinnerte. Als er fertig war, schüttelten Narvidur und Torfrida ihre Köpfe.

„Offensichtlich hat Torfrida genauso wenig davon bemerkt wie ich“, meinte Narvidur.

Tophal sah Nils nachdenklich an.

„Wie oft hast du diese Beobachtung schon gemacht?“, fragte er.

„Es war jetzt das dritte Mal. Das erste Mal bei den Pferden der Gefängniskutsche, die mich nach Bihaford brachte. Das nächste Mal bei meinem Verhör in der Burg Dyrgorns. Jedes Mal sind Wesen dieser Welt durchsichtig geworden und welche aus meiner Welt für kurze Zeit an ihrer Stelle aufgetaucht.“ Nils überlegte und bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, fuhr er fort. „Mir kommt da ein Gedanke. Ihr könnt darüber lachen, aber Narvidur erklärte mir in der letzten Nacht, dass sich die Erde und Rûngnár ineinander befinden. Du hast es gehört. Ich bin zwar nicht sicher, ob ich es richtig verstanden habe, aber ist es möglich, dass beide Welten doch nicht so vollkommen voneinander getrennt sind und sie sich hier und dort überschneiden?“

„Da sagst du etwas Wahres“, meinte Tophal und seine Stimme klang nicht sehr belustigt. „Du hast mehr begriffen, als du selbst glaubst und ich fürchte, du hast Recht. So etwas kommt vor. Aber dreimal an vier Tagen ist sehr oft. Vor allem, weil dies nur deine eigenen Beobachtungen waren. Wahrscheinlich wird es dann noch mehr solcher Ereignisse geben.“

„Verzeih meine Frage, aber wie wollt ihr das beurteilen, wenn es euch nicht auffällt?“

„Das stimmt und trotzdem ist es möglich“, meinte Tophal. „Einige von uns können diese Erscheinung erkennen. Wir drei gehören nicht dazu. Auf jeden Fall wissen wir von ihr und ich bin sicher, dass sich das Tchelasan dafür interessieren wird.“

„Außerdem ist es doch ganz einfach“, meinte Narvidur. „Die Statistik spricht doch dafür, oder?“

„Welche Statistik?“, fragte Nils verdutzt.

„Lasst uns weitergehen“, forderte Tophal sie auf.

„Eine Frage noch“, sagte Nils. „Was geht da vor sich?“

Tophal lachte.

„Wenn wir das wüssten. Antworten auf dieses Phänomen suchen wir noch und hoffen, dass du uns dabei hilfst. Auch aus dem Grund haben wir dich hergeholt.“

„Wie soll ich euch denn dabei helfen? Ich habe doch selbst keine Ahnung davon“, entgegnete Nils, aber da musste er sich schon beeilen, die drei Rûngori wieder einzuholen.

Also von solchen Dingen wie Statistik konnte Narvidur nichts wissen, war Nils sicher. Und woher er diesen Ausdruck kannte, war ihm schleierhaft. Aber immerhin hatte er jetzt einen ersten Hinweis darauf, was sie von ihm wollten, und den empfand Nils nicht als sehr beruhigend.

Am frühen Nachmittag erreichten sie den Rand des Waldes. Vor ihnen erhob sich sanft ein ausgedehnter Hügel, auf dem sich eine blumenübersäte Wiese ausbreitete. Weiter rechts schloss sich eine Senke an, durch die eine Straße verlief, die an einem kleinen, silbern glänzenden See vorbeiführte. Dahinter stieg das Land wieder an. Ein paar Baumkronen verrieten, dass jenseits der Straße und des dahinterliegenden Hügels der nächste Wald anfing. Deutlich sichtbar erhob sich im Hintergrund die graue Kuppel des Reservates.

Die vier konnten nirgends eine Rûngoriseele sehen und auch weidendes Vieh und äsendes Wild gab es nicht. Sie spürten die milde Brise, die über das Land strich und vor der sie im Wald geschützt waren.

„Wir müssen über die Straße“, erklärte Torfrida. „Und dann weiter in den Wald, der sich dort hinten durch die Wipfel abzeichnet. Lasst uns am Waldrand entlang…. runter!“

Den Befehl, in Deckung zu gehen, hatte sie fast zischend ausgesprochen, obwohl diejenigen, die der Grund für ihre Warnung waren, kaum eine lautere Stimme gehört hätten. Aus der Hocke heraus sahen sie eine Kutsche auf der Straße.

„Eine Gefängniskutsche“, sagte Nils leise.

Er erkannte sie wieder. Vielleicht war es nicht die Gleiche, aber immerhin war er mit so einem Gefährt in die Burg von Bihaford gebracht worden. Und wieder waren sechsbeinige Pferde davorgespannt.

„Sie kommt aus dem Reservat und ist auf dem Weg nach Bihaford“, meinte Narvidur.

„Wieder mit einem gefangenen Menschen?“, fragte Nils.

„Vielleicht, aber unwahrscheinlich. Menschen tauchen bei uns nicht alle Nase lang auf. Sie verhaften auch andere Wesen, obwohl....“

Den Rest ließ er offen. Schon sein »obwohl« hatte sich nachdenklich angehört.

„Was wollen die denn in Bihaford?“, fragte Nils. „Bei der Unordnung dort.“

Narvidur musste lächeln.

„Wahrscheinlich wissen sie noch nichts davon. Ich nehme an, sie werden ziemlich überrascht sein.“

„Von jetzt an wird unser Weg gefährlicher“, warnte sie Torfrida.

„Wegen der Kutsche?“, fragte Nils. „Die ist doch weg.“

„Nein, nicht deswegen. Aber in dieser Gegend patrouillieren wahrscheinlich Steppenkrieger.“

Sie warteten, bis die Kutsche außer Sicht war, dann machten sie sich wieder auf den Weg. Nils schmunzelte, als er daran dachte, dass Narvidur gerade wieder bewiesen hatte, dass er auch in menschlichen Redensarten bewandert war.

Das Gras stand hoch, aber die Wärme des Tages und der Wind hatten den morgendlichen Tau vollständig abtrocknen lassen. Torfrida hatte wieder die Spitze des kleinen Trupps übernommen. Während Nils hinter ihr herging, versank er in Gedanken.

Seit der letzten Nacht hatte er sich immer wieder gefragt, um welch sonderbare Leute es sich bei seinen Begleitern handelte. Offensichtlich waren sie keine Gemeinschaft, die sich offen zeigen konnte. Es schien sich um eine Art von Verschwörern zu handeln. Zumindest taten sie wohl etwas, das den Interessen der Obrigkeit zuwiderlief, denn warum sonst mussten sie sich verstecken und heimlich durch den Wald schleichen. Für einen kurzen Augenblick kamen ihm die sogenannten »Verschwörer Euserias« in den Sinn, mit denen er von seinen Verhörern in der Burg von Bihaford in Verbindung gebracht worden war, doch die erschienen ihm so geheim und von so bedrohlicher Art zu sein, dass er es für ausgeschlossen hielt, jemals mit ihnen Bekanntschaft zu machen, und er war sicher, dass er es auch nicht wollte. Außerdem würden sie bestimmt nur an wirklich wichtigen Bundesgenossen interessiert sein.

Aber welchen seltsamen Begleitern war Nils dann in die Hände gefallen? Narvidur nannte sich einen Zauberer, obwohl Nils bisher nur kleine und ziemlich unbedeutende »Kunststückchen« von ihm gesehen hatte, und er Narvidur diese Behauptung auch nicht recht glaubte. Der Zauberer wusste sicher eine ganze Menge, aber richtig zaubern konnte er deswegen noch lange nicht. Und die anderen hatten sich nicht dazu geäußert. Tophal wurde als Weiser bezeichnet, als Tchela, was immer das bedeutete. Und Torfrida? Nils konnte sich kaum vorstellen, dass sie die beiden als gewöhnliche Kriegerin und Köchin begleitete. Von ihr wusste er bisher am wenigsten. Immerhin hatten die beiden Männer – und Nils auch – ohne zu zögern, auf ihren Befehl, in Deckung zu gehen, gehorcht.

So unsanft wie plötzlich wurde Nils von einer starken Hand aus seinen Gedanken gerissen. Bevor er sich auf dem Boden wiederfand, hörte er ein ärgerliches „Träumst du?“ und sah zwei Schatten an sich vorüberhasten. Nils erschrak, als er in seiner Überrumpelung Waffengeklirr hörte. Sehen konnte er nichts, denn der unerwartete Kampf fand hinter einer ausladenden Buschgruppe statt und Narvidur und Tophal hatten schnell gehandelt, als sie Torfrida ihre Waffen ziehen sahen.

„Was soll das!?“, beschwerte sich Nils, doch niemand war da, um ihm zu antworten. Er sprang auf, zog sein Schwert und eilte seinen Freunden zur Hilfe. Woher er plötzlich seinen Mut nahm, das wusste er selbst nicht.

Seinen ersten Gegner erwischte er durch Zufall und ohne dass er ihn überhaupt angegriffen hatte. Er stolperte ihm förmlich rückwärts in sein Schwert, als Nils um die Ecke bog und nicht rechtzeitig anhalten konnte. Und es war eine tödliche Begegnung. Jetzt nicht denken, sagte sich Nils, als er das Schwert aus diesem Krieger herauszog. Dann griff er an.

Es herrschte ein ziemliches Durcheinander. Die fremden Rûngori-Krieger waren in der Überzahl. Er sah, dass sich Torfrida gegen zwei Krieger behaupten musste, und kam ihr zur Hilfe. Später erinnerte er sich, wie leicht ihm in diesem Augenblick das Kämpfen fiel. Ob es an der neuen Waffe oder an seiner bisherigen »Kampferfahrung« lag, oder an beidem, wurde ihm nicht recht klar. Auf jeden Fall vermutete er als wichtigsten Grund für sein unüberlegtes Eingreifen die unbewusste Absicht, Torfrida aus ihrer Bredouille zu retten.

Seinem zweiten Gegner war eine, wenn auch schmerzhafte Flucht vergönnt, denn Nils verletzte ihn so an seinem Arm, dass er sein Schwert fallen ließ und davonlief, nachdem er Nils überrascht und mit flackernden Augen angesehen hatte.

Nils kämpfte noch ein bisschen weiter und besiegte sogar noch einen dritten Gegner. Der allerdings konnte nicht mehr fliehen. Dann war der Kampf zu Ende. Etwas pustig stützte er sich auf sein Schwert und überblickte das Schlachtfeld. Sie hatten sich gegen acht Rûngori-Krieger zur Wehr setzen müssen und nur einem war die Flucht gelungen. Das erste Mal empfand Nils nach einem Gefecht keine nachträgliche Furcht. Es war wie immer kein schöner Anblick, und dennoch spürte Nils jetzt keine Abscheu und keinen Ekel, dieses Mal empfand er nicht einmal Reue. Da war nichts, außer – ja, doch. Ein sonderbares, unbekanntes Gefühl ergriff ihn. Es war ein Gefühl von Siegesfreude und von Macht, ein Gefühl der Macht über andere Lebewesen. Nils spürte eine Hand auf seiner Schulter und wandte sich um. Er blickte in das Gesicht von Torfrida.

„Das war großartig“, sagte sie lächelnd. „Du hast dich geschlagen, wie es keiner von uns erwartet hatte. Ob du es glaubst oder nicht, wir alle sind sehr zufrieden mit dir.“

Narvidur und Tophal nickten einträchtig. Das Überlegenheitsgefühl in Nils wich einer deutlichen Verlegenheit.

„Danke“, sagte er bescheiden. Aber einen Grund zur Zufriedenheit sah er nicht. „Bist du verletzt, Torfrida?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein, es geht mir gut. Ich glaube, Narvidur und Tophal auch.“

„So ist es“, sagte der Zauberer. „Und es stimmt, was Torfrida sagte, du hast gut gekämpft, alle Achtung. Unter diesen Umständen bitte ich dich um Verzeihung dafür, dass ich dich so unsanft umgerissen habe. Es wird in Zukunft nicht mehr notwendig sein, wenn du nicht träumst.“

Nils nickte. Ob das wirklich nicht mehr notwendig sein würde, da war er noch nicht sicher. Narvidurs Einschränkung hatte er anscheinend überhört. Er riss einen Fetzen vom Gewand eines toten Rûngori-Kriegers ab, um damit die Klinge seines Schwertes abzuwischen. Dann steckte er es wieder ein.

„Ihr lebt in einer sehr feindseligen Welt, dabei bleibe ich“, stellte er fest. „Solche Dinge scheinen bei euch zum Alltag zu gehören. Wie könnt ihr nur unter diesen Umständen existieren. Ich glaube, so traurige Zustände gibt es noch nicht einmal auf der Erde.“

„Zugegeben, dein Eindruck kann nicht sehr gut sein, nach diesen vier Tagen“, meinte Tophal, „aber du irrst. Wir sind nicht kriegerischer als die Menschen und auch für uns sind diese Tage etwas Besonderes. Ich kann dir nichts versprechen, aber es ist ebenso gut möglich, dass du keine weiteren Kämpfe dieser Art zu bestehen haben wirst, solange du dich in unserer Welt aufhältst. Außerdem ist Rûngnár groß und es gibt wunderbare, friedliche Gebiete, die -.“

„Ohne Rûngori“, unterbrach ihn Nils, und als nach kurzem Zögern immer noch keine Antwort kam, stellte er fest: „Na ja, immerhin das hat eure Welt mit der Erde gemeinsam. Zu wem gehörten diese Krieger?“

„Es war eine Patrouille der Steppenkrieger“, erklärte Torfrida. „Wir befinden uns bereits nahe des Reservates und dieses Gebiet wird von ihnen überwacht. Leuten wie uns ist es ein leichtes, ihr Misstrauen zu erwecken, daher war der Kampf unvermeidlich.“

Nils zuckte mit den Achseln. Nach den Erfahrungen der letzten Tage wollte er keine Rechtfertigung mehr hören.

„Ich dachte die Steppenkrieger sind beseitigt – von den Bergkriegern“, sagte er. „Wie können sie dann noch Patrouillen ausschicken?“

„Du meinst wegen Bihaford? Das ist nur die Hauptstadt eines Fürstentums und noch nicht einmal des größten. Es gibt aber auch ein Königreich der Steppenkrieger. Und das wurde bestimmt durch die Eroberung der Stadt aufgescheucht. Es ist anzunehmen, dass die Zahl der Wächter verstärkt wurde.“

„Daher ist es gefährlich, hierzubleiben“, mahnte Narvidur.

„Richtig“, erwiderte Torfrida. „Außerdem sind wir für heute noch nicht am Ziel.“

Das Treffen der Gegner hatte an einer Stelle stattgefunden, an dem die ausladenden Sträucher das Abknicken des Waldrandes verbargen, deshalb hatte Torfrida die Rûngori-Wächter auch erst gesehen, als sie fast vor ihnen stand. Jetzt folgten sie dem Saum des Waldes, und nachdem er einige Kurven beschrieben hatte, erreichten sie die Stelle, wo er der Straße am dichtesten kam. Die vier zogen sich ein wenig in das Unterholz zurück und beobachteten die Umgebung. Die Straße war weit und breit verwaist und auch auf den Wiesen und Hügeln konnten sie niemanden entdecken.

„Gibt es hier keine Bauern?“, fragte Nils. „Das Land sieht fruchtbar aus, aber ich sehe kein Vieh.“

„Ist hier nicht mehr erlaubt“, sagte Torfrida. „Es ist noch nicht lange her, da grasten hier unzählige Rinder, Anseln und Schafe, aber auf Geheiß des Königs der Steppenkrieger wurden die Bauern umgesiedelt.“

„Wegen des Reservates?“

„Ja.“

Nils nickte, dann zog er seine Stirn kraus.

„Warum grasten hier Amseln?“

Torfrida lächelte.

„Ja, die gibt es auch, aber ich meinte Anseln. Fleisch- und Arbeitstiere. Du wirst sie noch kennenlernen. Jetzt schau. Die Baumgruppe dort hinten, da müssen wir hin.“

„Also schlafen wir heute im Wald?“, vermutete Nils.

„Warte es ab.“

Sie wollten sich gerade auf den Weg machen, als Nils seinen Arm hochriss und zum Himmel zeigte.

„Was ist das? Es sieht aus – es ist ein Drachen!“

Die anderen hatten ihn bereits gesehen. Es war zuerst ein kleiner Schatten, aber er kam in ihre Richtung und wurde schnell größer. Dieser Anblick war für Rûngori nichts Außergewöhnliches, ganz im Gegensatz zu Nils.

„Keine Sorge“, meinte Tophal. „Er wird uns nichts tun. Hast du noch nie einen Drachen gesehen?“

Nils blickte gebannt auf das Fabelwesen und konnte zur Antwort nur den Kopf schütteln. Entweder hatte der Drache viel Zeit und vollführte verspielte Flugfiguren oder er konnte nicht gut fliegen, denn seine Route wanderte einmal nach links, dann wieder nach rechts und erneut zurück. Und auch die Flughöhe schwankte erkennbar. Im Großen und Ganzen hielt der Drachen aber seine Richtung, und er kam geradewegs auf sie zu.

„Es ist Skorumer“, erklärte Torfrida. „Er ist schon sehr alt. Vor ihm brauchen wir keine Angst zu haben.“

„Skorumer?“, fragte Nils.

„Ja, so heißt er“, erklärte Narvidur. „Er ist Mitglied unseres Rates. Du wirst ihn noch kennenlernen.“

„Ich!“

„Und schätzen. Los jetzt.“

Nils hasste es, so angetrieben zu werden, aber im Augenblick sah er keine Möglichkeit, dem zu entgehen.

Sie verließen den Wald und liefen auf die Straße zu. Nils zog unwillkürlich den Kopf ein, als sich der mächtige Schatten des Drachen über sie hinwegschob. Er konnte nicht zu ihm aufblicken, weil er fürchtete zu straucheln. Was immer Nils von ihm erwartet hatte, er wurde in jeder Hinsicht enttäuscht. Auch wenn seine Begleiter es ihm erklärt hatten, war ein Rest Misstrauen geblieben. Skorumer flog keinen Angriff, er spie kein Feuer und er stieß keine markerschütternden Schreie aus. Er tat nichts, was ein anständiger Drachen in den Sagen der Menschheit zu tun pflegt. Fast lautlos segelte sein unruhiger Schatten über sie hinweg und verschwand hinter dem Wald, aus dem sie gekommen waren. Die drei Rûngori liefen unbeirrt weiter.

Kurz vor der Straße wand sich ein kleiner Graben. Er war in dieser Jahreszeit meistens ausgetrocknet. Dort sprangen die drei Rûngori hinein, um ein letztes Mal aus der Deckung heraus die Straße zu überblicken. Allerdings war dieses Manöver vorher nicht abgesprochen worden und in seinen Schwung übersprang Nils den Graben und merkte erst auf der Straße, dass seine Freunde hinter ihm zurückgeblieben waren.

„Na, hast du etwas gesehen?“, fragte Torfrida lächelnd, als er zurückkam.

„Wolltet ihr mich auf den Arm nehmen?“, fragte Nils mit säuerlichem Gesicht.

„Es war ein Missverständnis“, meinte Narvidur. „Aber du kannst einiges lernen, wenn du unser Tun beobachtest.“

Torfrida, Narvidur und Tophal kamen aus dem Graben. Gemeinsam mit Nils überwanden sie die Straße, liefen den Hang hinauf, über die Kuppe hinweg und hielten auf eine Lücke zwischen den Bäumen des nahen Waldes zu. Dort begann wieder ein Pfad.

Sie erreichten den Waldrand jenseits der Straße ungeschoren und verschwanden in den Pfad. Nach wenigen Schritten hielten sie an, um ein wenig zu verschnaufen. Torfrida ging noch einmal zurück bis an den Waldsaum und beobachtete die freie Fläche, über die sie gerade gelaufen waren, einen Augenblick, um sicherzugehen, dass ihnen nicht doch Rûngori-Wächter folgten. Aber so weit ihre Augen reichten, konnte sie niemanden entdecken.

„Gut“, meinte sie zufrieden. „Weit und breit keine Steppenkrieger. Es sieht so aus, dass uns bis hier noch niemand verfolgt.“

Torfrida voran, gingen sie tiefer in den Wald.

Der Pfad unterschied sich nicht von dem, den sie vor der Überquerung der freien Fläche benutzt hatten. Auf dem weichen Untergrund waren ihre Schritte kaum zu hören. Auch hier wuchs das Unterholz wieder so dicht, dass sie nur wenig in den Wald hineinblicken konnten. Und weil aus diesem Grund nur wenig Sonnenlicht den Boden erreichte, wirkte er recht finster. Sie gingen schweigend hintereinander her, bis....

„Ich habe Hunger“, bemerkte Nils auf einmal. „Ich hätte mir etwas zu essen aus eurem Versteck mitnehmen sollen.“

„Wir haben auch nichts dabei“, sagte Narvidur. „Denk an etwas anderes. Du wirst noch einige Zeit durchhalten müssen.“

Das war eine Antwort, die Nils gar nicht gern hörte. Ein wenig mürrisch schritt er hinter Torfrida drein.

Der Wald schien kein Ende nehmen zu wollen. Aber immerhin stand er in ebenem Gelände, und sie brauchten nicht ermüdend auf- und abzuwandern. Plötzlich vernahm Nils über sich ein leises Rauschen, das sich so fremdartig anhörte, dass er unwillkürlich seinen Kopf einzog. Auch die drei Rûngori hatten es bemerkt und blieben stehen. Prüfend blickten sie in die Höhe und im gleichen Augenblick zog erneut ein dunkler Schatten über sie hinweg. Viel freie Sicht erlaubten die fast ineinander gewachsenen Baumwipfel nicht, aber das Wesen flog sehr tief und schien fast die Spitzen der Kronen zu berühren. Für einen kurzen Augenblick kam eine schuppige Haut ins Blickfeld. Dann verschwand der Schatten wieder und das Rauschen verebbte.

Die Gestalt in ihrem ganzen Umriss konnte Nils nicht erkennen, aber es gab keinen Zweifel, dass es wieder ein Drache war. Dieses Mal flog er in die entgegengesetzte Richtung.

„Skorumer?“, fragte Nils.

Narvidur schüttelte den Kopf.

„Nein, das war Eglynth.“

„Bei euch leben viele dieser urweltlichen Fabelwesen, habe ich den Eindruck“, meinte Nils und wunderte sich darüber, wie der Zauberer den Drachen so genau von Skorumer unterscheiden konnte, wo doch nur so wenig von ihm zu sehen gewesen war, und warum er die ersten Tage keine gesehen hatte.

„Der Eindruck täuscht“, sagte Narvidur. „Es gibt nur sechs von ihnen und es ist merkwürdig, dass uns gleich zwei an einem Tag begegnen. Es scheint so, als tut sich irgendetwas.“

„Gehört Eglynth auch zu eurem Rat?“

„Nein, Eglynth gehört sich selbst“, antwortete Torfrida rätselhaft. „Er lebt oben in den Bergen. Nur selten kommt es zwischen uns und ihm zu Begegnungen.“

„Freundlicher Art?“

„Er lässt uns in Ruhe“, meinte sie. „Sonst wären wir nicht hier. [Das war ein Hinweis auf den Ausgang früherer Zusammentreffen mit ihm.] Aber nicht alle Drachen sind friedlich. Zweien von ihnen, Aristoteles und Sokrates, sollte man lieber aus dem Weg gehen. Allerdings leben die weit im Süden und verlassen nur selten ihre Einöde.“

„Aristoteles und Sokrates?“, wunderte sich Nils.

Narvidur lachte.

„Ich wusste, dass du danach fragen würdest. Sie nennen sich tatsächlich bei den Namen dieser beiden Griechen. Zu ihren Zeiten trieben sie im irdischen Griechenland ihr Unwesen, bevor sie wieder in unsere Welt zurückkehrten. Eglynth dagegen ist friedlich, wenn auch wie sie ein Einsiedler. Ich nehme an, er hat sich über die Zustände in Bihaford unterrichtet. Lass uns weitergehen, ja?“

Die vier wanderten noch den ganzen Nachmittag hindurch durch den Wald, aber schließlich erreichten sie den jenseitigen Waldsaum.

Und wieder beobachteten sie das freie Feld vor sich. So weit sie sehen konnten, breitete sich vor ihnen eine flache, unbewohnte Graslandschaft aus, die nur wenige Büsche zu ihrem Sichtschutz bot. Das Bild wäre alles andere als aufregend gewesen, wenn sich nicht in einiger Entfernung ein blaugrauer Schleier von der einen Seite zur anderen gespannt hätte, der in der Höhe mit dem Himmel verschmolz. Er war nicht undurchsichtig, denn hinter ihm ging die Landschaft unverändert weiter, aber sie erschien verschwommen und wenig farbenfroh. Das war die Kuppel des Reservates.

Nils fröstelte unwillkürlich.

„Da wollt ihr wirklich hinein?“, fragte er zweifelnd. Trotz der späteren Ereignisse war er froh, nicht mehr dort zu sein. „Einladend sieht das nicht aus. Die Kuppel scheint nicht besonders fest zu sein, trotzdem habe ich den Eindruck, dass es schwierig sein wird, sie zu durchdringen. Irre ich mich?“

„Nein, die Mauer ist für uns unpassierbar“, entgegnete Narvidur. „Es gibt nur noch wenige Tore, die wir benutzen könnten, aber die werden überwacht und keines davon befindet sich hier in der Nähe. Dafür begegnet man in dieser Gegend nur selten Rûngori-Patrouillen. Das ist einer der Gründe, warum wir diesen Weg wählten.“

„Wenn sie undurchdringlich ist, was wollen wir dann hier? Ich nehme an, wir sind nicht den weiten Weg bis hierher gegangen, nur damit ihr mir das Reservat von dieser Seite zeigen könnt?“

„Sehr scharfsinnig“, bemerkte Narvidur mit leichtem Spott. „Warte es ab.“

Und warten mussten sie tatsächlich noch einige Zeit, denn die Rûngori wollten den Wald nicht vor Beginn der Abenddämmerung verlassen und es war erst später Nachmittag. Allerdings hatte das Warten noch einen anderen Grund, von dem Nils nichts wusste.

So sehr er sich auch bemühte, irgendetwas zu entdecken, das sie ansteuern konnten, es gelang ihm nicht. Es gab nichts, das so aussah, als würde es sich lohnen, dafür bis an diesen Ort zu wandern. Nils´ Begleiter hielten sich bedeckt und dafür gab es eigentlich keinen Grund, fand er, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu tun, was Narvidur von ihm verlangt hatte, nämlich abzuwarten. Also legte er sich auf den Rücken und döste ein.

Plötzlich hörte Nils ein dumpfes Geräusch hinter sich und schreckte auf. Ehe er sich umdrehen konnte, war da eine fremde Stimme.

„Hey, Freaks, wie lange wollt ihr denn hier noch `rumhängen? Ich warte auf euch schon länger als eine Ewigkeit. Ach so, klar ey, verstehe, genau. Keine Sorge, Leute. Es gibt keine Kriegshelden in unserem Dunstkreis.“

Nils traute seinen Augen nicht. So eine Figur konnte er sich zwar auf der Erde vorstellen, aber hier erschien sie ihm völlig fehl am Platz. Er wunderte sich, wo der Typ plötzlich hergekommen war.

„Was ist das denn?“, entfuhr es Nils.

„Ey, Bruder, gerade du solltest eine solche Frage nicht stellen, schau dich selbst einmal an“, entgegnete der Fremde. „Was gefällt dir nicht?“

Seine Stimme klang aber weniger gereizt als seine Worte.

„Ach, äh.... gar nichts. `Tschuldigung.“

Torfrida kicherte und auch Narvidur und Tophal machten nicht mehr ganz so ernste Gesichter. Vor ihnen stand die Karikatur eines waschechten Hippies aus den neunzehnsiebziger Jahren der Menschheit. Von allem, was Nils bisher an Sonderbarem in dieser Welt gesehen hatte, war er das Sonderbarste. Nils war nicht einmal sicher, ob es sich bei ihm um einen Rûngori handelte, denn aus seinem leicht geröteten, faltenlosen Gesicht blickten ihn rehbraune Augen an. Seine langen, fettigen Haare wurden von einem bunten Stirnband im Zaum gehalten und die untere Gesichtshälfte versteckte sich hinter einem mächtigen Rauschebart. Der Mann trug ein blumengemustertes, halb offenes Hemd, die schlecht gelungene Nachahmung einer Blue Jeans mit einem erstaunlich breiten Gürtel und einer gewaltigen Schnalle und über allem eine offene, blaugrüne Weste. Nur die Füße steckten in den unvermeidlichen Sandalen. Bei der hageren Gestalt dachte Nils unwillkürlich und völlig widersinnig an ein Suppenhuhn und als nächstes an ein Harley-Davidson Motorrad. Nils hatte alle Mühe, ernst zu bleiben. [Tatsächlich zeigte die Gürtelschnalle eine verunglückte Nachahmung des Harley-Davidson Emblems. Das war Nils in seiner Verblüffung aber noch gar nicht aufgefallen.]

„Das ist Maart“, stellte Narvidur den Fremden vor.

„Elvis, Leute“, verbesserte ihn Maart. „Nennt mich Elvis.“

Wie Elvis siehst du aber gar nicht aus, dachte Nils.

„Entschuldigung, Elvis“, erwiderte Narvidur schmunzelnd. „Natürlich Elvis. Ich vergesse es immer wieder. Also gut, Elvis wird uns helfen, ins Reservat zu gelangen. Heute Nacht werden wir bei ihm verbringen. Elvis, das ist Nils.“

„Aha, so sieht er also aus, euer Held. Ich habe von dir gehört, Junge. Eigentlich habe ich dich mir anders vorgestellt, Bruder, weniger unscheinbar, eher schillernder, nach allem, was über dich gesagt wird. Aber gut, schließen wir nichts aus dem Äußerlichen. Willkommen in der Welt der Verrückten.“

Deren du ein würdiger Vertreter bist, dachte Nils. Im ersten Augenblick fiel ihm nichts ein, was er auf das wirre Zeug von diesem seltsamen Kerl erwidern konnte. Dann aber:

„Was – was wird denn über mich gesagt?“

„Das, Bruder, sollen dir die anderen erzählen. Ich bin nur dafür zuständig, euch in die Dunkelzone zu schießen. Folgt mir, es ist nicht mehr weit.“

Das mit dem »Schießen« gefiel Nils überhaupt nicht. Wenn Elvis das meinte, was er darunter verstand, dann befand er sich wieder einmal in der Bredouille. Aber was blieb Nils anderes übrig, als den anderen zu folgen.

Maart, oder Elvis, sah nicht nur ungepflegt aus, er roch auch so, wie Nils feststellte, als Elvis an ihm vorüberging. Wäre Geruch sichtbar, stünde er bestimmt in einer undurchdringlichen Wolke, die jeder Atmung ein Ende setzten würde. Nils hütete sich, eine Bemerkung darüber fallenzulassen, um Elvis nicht zu reizen, aber er war sicher, dass es kein Steppenkrieger lange in seinem Dunstkreis aushalten würde. Er hatte diesen Ausdruck also schon ganz richtig verwendet, fand Nils, wenn vielleicht auch nicht in dieser Absicht. Nils konnte nicht wissen, dass Elvis der Überzeugung war, dass derjenige, den er darzustellen versuchte, so streng riechen musste. Zumindest für Nils war es in den nächsten Stunden eine ziemliche Überwindung, sich in Elvis´ Nähe aufzuhalten. Dabei sollte er nicht einmal die Möglichkeit haben, ihm aus dem Weg zu gehen. Seinen Begleitern war nichts anzumerken. Immerhin gab Torfrida gegenüber Nils später einmal im Vertrauen zu, dass auch ihr Elvis´ Gegenwart nicht immer angenehm war, was diesen Punkt betraf.

Sie verließen den Wald. Der Pfad setzte sich in die Steppe hinein nicht fort und sie mussten durch hohes Gras stapfen. Elvis hatte ihnen zwar versichert, dass sich keine Wächter in der Nähe aufhielten, aber ganz geheuer war Nils trotzdem nicht. Immer wieder blickte er sich um und, in Erinnerung an Torfridas Worte über Sokrates und Aristoteles, gelegentlich auch zum Himmel. Seine Vorsicht wurde aber durch keine rechtzeitige Sichtung irgendeiner Besonderheit belohnt. In ihrer Umgebung gab es zu dieser Zeit nichts, was man frühzeitig entdecken konnte.

Nur einmal wurden sie von einem vorwitzigen Insekt angegriffen. Nils sah es erst, als er das Brummen hörte. Weit kam das Tier nicht, denn in einer blitzschnellen Bewegung, die Nils ihm gar nicht zugetraut hätte, fing Elvis es ein. Das, was er nach einem hässlichen Knacken ins Gras schleuderte, hatte kaum noch Ähnlichkeit mit seiner ursprünglichen Gestalt eines Käfers von beachtlicher Größe. Elvis wischte seine Hand an seiner Hose ab.

„Zur Hölle mit diesen Biestern“, sagte er ungerührt und ging weiter.

Nils bemerkte, dass allmählich die Abenddämmerung einsetzte. Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden allmählich unter dem Horizont und ihre immer länger gewordenen Schatten verblassten.

„So, Leute, da sind wir“, stellte Elvis schließlich fest und blieb stehen – mitten in der Steppe.

Keiner der Rûngori machte ein überraschtes Gesicht, und Nils hatte den Eindruck, als wäre Elvis´ Hinweis nur für ihn gewesen, denn – da war nichts. Sie standen irgendwo zwischen dem Wald und der jetzt bedrohlich verfinsterten Kuppelwand. Nils entdeckte nicht den geringsten Hinweis darauf, dass es an diesem Ort etwas anderes gab als sehr viel Landschaft. Er musste allerdings auch zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wo sie überhaupt hinwollten. Vielleicht holt uns ja ein UFO ab, dachte er bissig.

„Was sollen wir denn hier?“, fragte er. „Die Kuppel ist doch dahinten. Ich dachte, wir wollen dorthin. Wollen wir etwa hier mitten in der Steppe übernachten?“

Diese Vorstellung behagte ihm nicht recht und er hätte dafür gleich mehrere Gründe anführen können, aber keinen, warum sie nicht gleich durch die Kuppelwand gingen, wenn es schon sein musste.

„Ja“, antwortete Elvis und er klang fast ein wenig gelangweilt. „Aber, Bruder, nicht hier oben. Wir gehen unter die Erde. Das wird ein geiler Abstieg. Du wirst seh´n.“

Unter die Erde? – Bevor Nils etwas erwidern konnte, fühlte er sich von einer unsichtbaren Kraft gepackt und wie irrsinnig herumgewirbelt. Er wollte schreien, aber der Laut blieb ihm im Hals stecken. Dann wurde es schwarz um ihn.

Nils lag in einem Grab. Es musste ein Grab sein. Es gab kein Licht und er konnte sich nicht bewegen. Immerhin machte ihm das Atmen – noch – keine Schwierigkeiten, aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Luft, die ihn entfernt an Elvis erinnerte, knapp wurde. Schwindelig war ihm jetzt schon. Sich wie ein Brummkreisel ins Erdreich hineinzudrehen, war nicht jedermanns Sache. Er spürte zwar keinen Schmerz, aber eine aufkeimende Panik, und er verfluchte alle, die Schuld daran hatten, dass er in diese unsinnige Welt geraten war. Gleichzeitig bedauerte er, dass er keine Gelegenheit mehr haben würde, sich furchtbar zu rächen.

In dem Fluchttunnel der Burg war er froh darüber gewesen, dass er keine Platzangst empfunden hatte, jetzt war es so weit und er wusste nicht, wie er seine Angst bekämpfen konnte. Kurz bevor er wahnsinnig zu werden glaubte, fuhr er in einer befreienden Bewegung mit seinem Oberkörper hoch und schrie. Er schlug seine Augen auf – und der Schrei erstarb. Nils blickte in die verständnislosen Gesichter von Narvidur, Tophal, Torfrida und Elvis. Hinter ihnen schob sich neugierig ein noch unbekanntes Gesicht hervor.

„Ist er es?“, fragte die Frau teilnahmslos.

„Ich bin mir nicht mehr sicher“, antwortete Elvis.

Achselzuckend wandte sie sich ab und verließ den Raum durch eine offenstehende Tür.

Nils hatte den Weg in die unterirdische Wohnung von Elvis nicht gut überstanden. Sie besaß keine Tür zur Außenwelt und niemand hatte ihm erklärt, dass Elvis und seine Frau von einer Art waren, die Türen eigentlich überflüssig machte. Elvis hatte seine Besucher mit seinen Kräften in die Lage versetzt, ihm durch das Erdreich bis in seine Wohnung zu folgen. Wieder einmal hatte niemand Nils vorbereitet, und es hatte ihn so überrumpelt, dass er sich tatsächlich in einem Grab wähnte und das Licht hinter den Lidern seiner geschlossenen Augen einfach nicht beachtete. Allmählich beruhigte er sich wieder. Also lag er doch nicht in einem Grab und er war auch sicher, keinen Traum zu durchleben. Immer noch verwirrt, blickte er sich um.

„Wie fühlst du dich?“, hörte er die besorgte Stimme Torfridas. „Du warst einige Zeit bewusstlos.“

Nils stellte fest, dass er auf einem Bett lag. Die Decke hatte sich durch sein hastiges Aufrichten verschoben. Er kratzte sich am Kopf.

„Saumäßig“, erwiderte er. „Ich dachte, ich wäre in einem Grab. Das Gefühl war schrecklich. Was sollte das? Warum habt ihr mich nicht gewarnt? Wo sind wir hier überhaupt und wie sind wir hier hinuntergekommen?“

„Es ist die Wohnung von Maart und Herlind, oder Elvis und Janis, wie sie sich selbst nennen“, erklärte Narvidur. „Sie befindet sich ein Stück unter der Erde. Elvis half uns ein wenig beim Abstieg. Von hier gibt es eine Verbindung zum Reservat. Zum Tchelasan ist es dann nicht mehr weit. Du hast Recht, wir hatten dich schlecht auf das vorbereitet, was kommt, aber wir hatten auch nicht angenommen, dass es eine solche Wirkung auf dich haben würde. Du hast empfindlicher reagiert, als wir dachten. Verzeih.“

„Na, klar“, erwiderte Nils sarkastisch. „Gibt es keinen vernünftigen Eingang nach hier unten? Eine Falltür oder einen Tunnel? Auf welche Weise sind wir überhaupt hier hierhergekommen?“

Nils blickte an sich herab, aber er konnte keinen Krümel Erde an seiner Kleidung entdecken und auch die anderen waren so sauber wie vorher, also nicht völlig, aber ziemlich.

„Ein Tunnel? Ey, Alter, das wär´ doch viel zu einfach. Echt uncool. Außerdem brauchen den doch nur Erdis.“

„Erdis?“

„Irdische Wesen“, erklärte Torfrida schmunzelnd.

„Klar, Mann, Erdis“, sagte Elvis. „Wir gehen hier stets als Lichter ein und aus. Aber, Bruder, du warst schlechter drauf, als ich dachte.“

„Als Lichter“, wiederholte Nils trocken.

„Ja, Mann. So durchgeisterst du jedes Hindernis.“

„Echt krass, Alter“, äffte Nils Elvis´ Redeweise nach und schüttelte verzweifelt den Kopf. Elvis sah in verblüfft an.

Nils fragte sich, was Elvis so am Tag wegrauchte. Zu seiner Erscheinung würde es auf jeden Fall passen. Er weigerte sich, mehr wissen zu wollen. Bei solch unsinnigen Antworten war jede Frage überflüssig. Es war der reinste Schwachsinn.

„Schon gut“, sagte Nils mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Aus dem Nachbarraum, in den Herlind, oder Janis, wie Narvidur sie genannt hatte, verschwunden war, ertönte plötzlich Musik. Nils horchte auf. Das war irre. Es war Rock ’n’ Roll. Keine Frage, sie hörte Bill Haley. Wo um alles in dieser Welt bin ich hier gelandet, stöhnte Nils innerlich auf. Offensichtlich war ihm seine Verwirrung anzusehen, denn Torfrida erbarmte sich seiner.

„Elvis und Janis sind keine Rûngori“, erklärte sie. „Es sind – ihr Menschen würdet sagen – Erdgeister.“

„Geister?“, unterbrach Nils Torfrida. „So richtig echte Geister?“

Torfrida lächelte nachsichtig.

„Ja, so richtig echte Geister. Aber wieder keine von Verstorbenen. Sie haben deinetwegen die Gestalt von Menschen angenommen. Meistens erscheinen sie aber als Rûngori, weil sie sich so unter ihnen bewegen können, ohne gleich für Aufsehen zu sorgen, wenn sie sichtbar sein wollen. Janis und Elvis sind sehr hilfsbereit und besitzen, wie du sicher bemerkt hast, eine Schwäche für den Lebenswandel einiger deiner Artgenossen zu einer bestimmten Zeit eures letzten Jahrhunderts. Die beiden haben uns für heute Nacht aufgenommen und Elvis bringt uns morgen ins Reservat. Es wird für uns hier nur ein kurzer Besuch sein. Aber ich will dich darauf vorbereiten, dass du in unserer Welt wahrscheinlich auf weitere recht eigenwillige Wesen stoßen wirst. Darum wäre es für dich zum Vorteil, wenn du zukünftig versuchst, dich nicht mehr so leicht verwirren zu lassen.“

„Du hast gut reden“, meinte Nils. „Hier ist alles so – anders. Na schön, ich will mich bemühen. Aber meinetwegen hätten sie ruhig die Gestalt von Rûngori behalten können. Sind die beiden immer so durchgeknallt? Oh, Verzeihung.“

Als er bemerkte, dass Elvis hinter ihm stand, war es schon zu spät.

„Bruder, du bist undankbar“, sagte er mit gekränkter Stimme und ging mit merkwürdig rhythmischen Bewegungen, die nicht recht zur Musik passten, zu Janis in den Nebenraum.

„Ist er jetzt beleidigt?“, fragte Nils. Ein etwas schlechtes Gewissen hatte er nun doch.

Torfrida lächelte.

„Ich glaube nicht. Solche Regungen gehören nicht zu ihren Wesenseigenschaften.“

„Trotzdem solltest du in Zukunft freundlicher sein“, sagte Narvidur.

„Oh, ist das alles verrückt“, meinte Nils und schälte sich aus seiner Decke.

Ihm war immer noch etwas schwindelig, aber mit der Hilfe von Torfrida und Narvidur gelang es ihm aufzustehen. Nils sah sich um. Torfrida hatte Recht. Nicht nur der Auftritt von Elvis passte zu den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf der Erde, auch die Einrichtung der Wohnung war stilecht. Janis kam wieder herein.

„Das Essen ist fertig“, sagte sie mit säuselnder Stimme. „Ihr werdet hungrig sein.“

Essen?, fragte sich Nils, seit wann gibt es bei Geistern denn etwas zu essen? Na da bin ich aber `mal gespannt – und nicht verwirrt.

Gemeinsam gingen sie in die Küche. Hier war es heller als nebenan. Eine ziemlich stillose Lampe, wie Nils fand, hing von der Decke. In ihrem Licht sah Nils Janis das erste Mal in ihrer ganzen Erscheinung. Ja, sie passte zweifellos zu Elvis, und zu allem anderen dort unten. Und sie war – welch Wunder – so spindeldürr, dass Nils jede Wette eingegangen wäre, dass sie niemals von ihrem Essen probiert hatte.

„Woher habt ihr den Strom?“, wunderte sich Nils. „Bisher gab es immer nur Fackeln, Kerzen oder andere offene Feuer. Hier sehe ich echtes Kunstlicht.“

Elvis lachte.

„Bruder, das ist so `was von falsch. Es ist echtes Licht und noch echter, als du glaubst. Nenne es ein echtes echtes Licht. Kein Strom, was immer das ist. Das hier sind die Kräfte Rûngnárs, Alter. Wir können sie nutzbar machen. Das kann keiner außer uns Erdgeister. Und nun setzt euch.“

Nils schüttelte den Kopf, als er sah, was Janis aufgetragen hatte. Es gab Chili con Carne, Nudeln, Weißbrot und Bier. Er entschloss sich, sich auch darüber nicht mehr zu wundern. Mit Sicherheit war das Essen nicht echt, aber wie Janis es geschafft hatte, es nicht nur für die Augen, sondern auch für den Bauch zuzubereiten, blieb ihr Geheimnis. Es schmeckte vorzüglich, wenn vielleicht auch ein wenig scharf, und es machte satt. Offensichtlich war es nur für ihre Besucher gedacht, denn weder Elvis noch Janis aßen davon und das kam Nils schon wieder ganz normal vor für Geister. Aber sie setzten sich wenigstens zu ihnen an den Tisch. Im Hintergrund spielte immer noch Musik und Nils fand nicht heraus, woher sie kam.

Den restlichen Abend geschah nichts mehr, was besonders erwähnenswert gewesen wäre. Allerdings brauchte Nils an diesem Tag auch keine Aufregungen mehr. Für ihn war er erschreckend und unglaublich genug verlaufen.

Elvis und Janis hatten zwar von dem Überfall auf die Stadt Bihaford gehört, aber es kümmerte sie wenig. Sie waren in der glücklichen Lage, dass solche Dinge sie nicht betrafen. Dass sie einigen bestimmten Rûngori gelegentlich halfen, unauffällig ins Reservat zu kommen, hatte Gründe, die sie Nils gegenüber nicht erwähnten.

Die Besucher übernachteten in dem Raum, in dem Nils erwacht war. Außer dem einen Bett, das er wieder benutzen durfte, gab es jetzt noch drei weitere, einigermaßen bequeme Lager auf dem Boden. Sie waren vor dem Abendessen noch nicht da gewesen. Wo Elvis und Janis die Nacht verbrachten, fand Nils nicht heraus. Sie tauchten erst am nächsten Morgen wieder auf. Im Bett fragte er sich noch, ob es diese Räume wohl auch gab, wenn Elvis und Janis keine Besucher beherbergten, und darüber schlief er ein.

Reise nach Rûngnár

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