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1. PISA als Wendepunkt

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„Nicht für die Schule, sondern für das Leben“ lerne man, das berühmte „non scholae“ dürfte vielen, zumindest denjenigen, die eine – so genannte – höhere Schule besucht haben, noch im Ohr klingen. Sofern es sich dabei um eine Forderung an schulisches Lernen handelt, dürfte dies wiederum vielen eher realitätsfern, wenn nicht sogar als blanker Hohn erscheinen.

Über Schule zu schimpfen, schulisches Lernen als Selbstzweck anzusehen, den Beruf der Lehrerinnen und Lehrer öffentlich zu diskreditieren, all dies zählt, nicht zuletzt vor den jeweils eigenen, guten oder schlechten, Erfahrungen mit der Schule, fast zu den Selbstverständlichkeiten der öffentlichen Meinung. Recht betrachtet, ist es jedoch alles andere als selbstverständlich.

Schulen sind ein Produkt der Moderne. Als Institution lässt sich ihre Entwicklung seit etwa 200 Jahren überblicken. Sie wurden dazu eingerichtet, die Weitergabe von Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen an die nachfolgende Generation auf eine so breite Basis zu stellen, wie dies kaum ein einzelnes Elternhaus leisten könnte. Aber in den zwei Jahrhunderten seit der Einrichtung eines flächendeckenden staatlichen Schulsystems sind dieser Institution rasch und in großer Zahl weitere Funktionen zugewiesen worden. Sie lassen sich insgesamt der Aufgabe zuordnen, gesellschaftliche Positionen zu verteilen, wozu nicht nur gehört, Berechtigungen zu bestimmten Berufsmöglichkeiten zuzuerkennen, sondern umgekehrt auch Statusansprüche abzuwehren und dieser Abwehr eine rationale, zur Ziffer geronnene Begründung zu geben, der vermeintlich objektiven Benotung. Dem entspricht eine enge Koppelung von Lern- und Leistungssituationen.

Die PISA-Studien, deren Ergebnisse seit dem Bekanntwerden 2002 eine aufgeregte Debatte über Bildung in der Bundesrepublik ausgelöst haben, rücken diese Kopplung in das Zentrum des Interesses. Die internationale Vergleichsuntersuchung PISA (Programme for International Student Assessment) wirft ein neues Licht auf Schule und Unterricht, als sie nach dem langfristigen Wissensaufbau von Schülern fragt und nicht nach kurzfristig erbrachten Testleistungen. Dies hat Folgen für das Verständnis von Leistung in der PISA-Studie: Wenn als gute Schülerleistung verständnisorientiertes Lernen, die Fähigkeit, mit neuartigen Problemen außerhalb von Lösungsroutinen umzugehen, sinnvolles Sozialverhalten und die Fähigkeit zur Selbstregulation begriffen werden, setzt dies einen anderen Unterricht voraus, als wenn Leistung mit Druck, Drill und Auswendiglernen assoziiert wird.

Dieses Leistungsverständnis hat aber das deutsche Schulsystem über lange Zeiträume geprägt. Es ist funktional in Schulen, die – anders als die Schulen im europäischen Umfeld – durch ihre Drei- bzw. Mehrgliedrigkeit einen stark selektiven Charakter haben, d. h. Bildungsprozesse zu Lieferanten für Kriterien der Statusvergabe umgestalten. Die Bedeutung von Wissensvermittlung und Kompetenzerwerb droht in solchen Schulen beständig davon überlagert zu werden, dass Situationen geschaffen werden, die Schüler nach den von ihnen erbrachten Leistungen sortieren und unterschiedlichen Schultypen, letztlich unterschiedlichen Lebenswegen zuweisen. In der einzelnen Unterrichtsstunde schlägt dieses Selektionsprinzip in der engen Kopplung von Lern- und benotungs-relevanten Situationen durch, ein aus kognitionspsychologischer Sicht wenig lernförderliches Arrangement: Lernsituationen als Prüfungssituationen bergen stets die Gefahr bloßen „Kulissenlernens“ anstatt langfristigen Wissensaufbaus.

Die Begründungen für den Selektionscharakter der deutschen Schule liegen vor allem auf drei Ebenen:

Schule wird als Instanz zur Vergabe von Berechtigungen für bestimmte soziale Positionen gesehen und dient insofern als sozialer Filter. Damit wird Bildung über ein Ausleseverfahren zum knappen Gut erklärt, um die Zahl der Konkurrenten um gesellschaftliche Statuspositionen in Grenzen zu halten. Die Kritik an der Gleichsetzung von Bildung und Prüfungsleistungen sowie daran, dass die Schule den knappen Vorrat an gehobenen Statuspositionen an dieses nur vordergründig rationale Kriterium der gemessenen schulischen Leistung knüpft, begleitet die Institution seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht.

Zum zweiten wird argumentiert, dass ohnehin vorhandene, vielleicht sogar natürliche Begabungsunterschiede unterschiedlich anspruchsvolle Schultypen erfordern. Verschiedene Begabungsniveaus brauchten unterschiedliche Förderung in leistungshomogenen Gruppen. Die Unterrichtsforschung hat hier freilich in den letzten Jahren zu einem Umdenken geführt: Vieles weist darauf hin, dass sich homogene Lerngruppen eher kontraproduktiv auswirken. Es kommt zu Anpassungsprozessen nach „unten“, wo die Herausforderung durch eine Bandbreite unterschiedlich komplexer kognitiver Verarbeitungsmuster ausbleibt.

Schließlich findet sich unter systemtheoretischer Perspektive das Argument, ein zentrales Ordnungsmuster unserer Gesellschaft sei die „gut/schlecht“-Differenz (Luhmann), die im Medium der Schule erlernt und als Erklärungsmuster auf Situationen eigenen Erfolgs und Scheiterns übertragen wird. Binäre Codes dieser Art seien grundlegend für unsere Kultur, sodass es vor allem darum gehe, beide Codewerte richtig zuzuteilen, nicht aber darum, für möglichst viele ein Erreichen des Positiv-Wertes sicherzustellen. Das Ziel eines möglichst hohen Bildungsgrads für möglichst viele Individuen gehört dieser Auffassung zufolge dann zu den systematischen „Selbstillusionierungen“ des Systems, das nur über die möglichst ausgeglichene Zuordnung beider Werte funktioniere.

Eine Bemerkung zur Verwendung des Begriffs der „Selektion“ ist gleich eingangs nötig: Im deutschsprachigen Raum trägt dieser Begriff das Zeichen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Gleichwohl hat er sich im wissenschaftlichen Sprachgebrauch in Bezug auf die Funktionalität von Schule durchgesetzt, mit einer kleinen Variante in der Verbform: Statt „selektieren“ wird das klanglich etwas mildere „selegieren“ bevorzugt. Der ebenfalls verwendete Begriff der „Allokation“ ist weniger gebräuchlich. Wir lehnen uns in diesem Buch an die übliche Begriffsverwendung an, nicht ohne dabei an dessen Geschichte zu erinnern.

Die Schule des 19. Jahrhunderts konnte es sich nicht nur leisten, dass Teile der Schülerschaft mit geringen Qualifikationen ausschieden, sie musste sogar planmäßig „Bildungsverlierer“ erzeugen, damit es Personen gab, die schwere, schlecht bezahlte Arbeit verrichteten. Solche Arbeitsplätze fallen zunehmend weg, der Bedarf an gut ausgebildeten, zu selbständigen Entscheidungen fähigen Arbeitskräften wächst. Problemlösungskompetenzen werden zur wichtigsten Ressource. Ein hoher Bildungsgrad der Bevölkerung wird zum Standortvorteil. Gleichzeitig werden Schulversager gesellschaftlich immer weniger finanzierbar. Politisch birgt dies das Risiko einer weitergehenden Spaltung der Gesellschaft, deren ausgegrenzte Gruppen von Lebensmöglichkeiten ausgeschlossen werden.

Aber auch auf der Ebene individueller Lebensführung wird ein Schulsystem, das für viele Absolventen Bildungserfahrungen mit der Erfahrung persönlichen Scheiterns verknüpft, zum Problem. Ein positives Selbstkonzept kann dann häufig nur über eine betonte oder sogar aggressiv vorgetragene Abkehr von dieser ganzen „Welt der Bildung“ erhalten bleiben. PISA hat gezeigt, dass knapp ein Viertel der 15-Jährigen einen Text nicht sinnverstehend lesen kann und Lesen bzw. alles, was Gegenstand von Unterricht ist, automatisch aus dem Spektrum möglicher Freizeitbeschäftigungen aussondert. Hier deutet sich eine Spaltung der Gesellschaft an.

Auch aus diesem Grund finden sich im pädagogischen Bereich verstärkte Anstrengungen, Bildung zu etwas zu machen, das möglichst viele Menschen erreicht. Deshalb wird verstärkt darüber nachgedacht, wie ein Unterricht aussehen kann, der anspruchsvolle Aufgaben mit individueller Förderung verbindet, an vorhandene Interessen anknüpft und darauf zielt, Neugier und Lernfreude zu erhalten, Hierfür gibt es zahllose Beispiele, die bereits in vielen Schulen Praxis sind. Einige ihrer Charakteristika werden am Ende des Buches vorgestellt (s. Kap. 6).

Da wir der PISA-Studie, wie gesagt, eine besondere Bedeutung als Dokument einer gewandelten Auffassung von Lernen und Leistung zumessen, ist zunächst ein kurzer Rückblick auf die zentralen Ergebnisse dieser Studie sinnvoll. Diese lassen sich für Deutschland in fünf Punkten zusammenfassen (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001):

1 Von den 32 teilnehmenden Ländern nehmen die deutschen 15-Jährigen den Platz 22 im Leseverständnis und den Platz 21 in Mathematik und Naturwissenschaft ein, d. h., sie rangieren im unteren Mittelfeld.

2 Von allen teilnehmenden Staaten weist Deutschland die größte Bandbreite an Schülerleistungen auf.

3 Dennoch liegen die guten Leistungen nicht im internationalen Spitzenbereich. Die große Streuung kommt also nicht von den Spitzenleistungen, sondern vielmehr durch besonders schwache Leistungen am unteren Ende der Skala zustande.

4 Das erreichte Kompetenzniveau bildet die soziale Schichtzugehörigkeit ab. In keinem anderen Land ist die Kopplung von sozialer Herkunft und erworbenen Kompetenzen so groß wie in Deutschland. So finden sich beispielsweise Kinder aus Facharbeiterfamilien zu weniger als 20 % in Gymnasien.

5 Für Kinder aus Migrationsfamilien erweist sich fehlende sprachliche Förderung als Hürde, die zur Benachteiligung über die gesamte Schulzeit hinweg führt.

Auf diese Weise produziert das deutsche Schulsystem eine im internationalen Vergleich besonders große Gruppe von Risikokandidaten – die 25 % der Schüler, die einen Text nicht sinnverstehend lesen können, haben natürlich Schwierigkeiten auch in allen anderen Fächern. Der Anteil der Jungen, die angeben, dass sie in der Freizeit nie etwas lesen, liegt mit 52 % deutlich über dem OECD-Mittel von 40 %. Bei den Mädchen liegt er mit 29 % über dem OECD-Mittel von 23 %. Dem deutschen Schulsystem scheint es also besonders schlecht zu gelingen, bildungsrelevante Motivationen zu fördern.

Ein Grund dafür dürfte in der Organisation schulischer Abläufe und dem darin implizierten Verständnis von Lernen liegen. Dass Lernen auch Spaß machen darf, gehört in Deutschland fast schon zu den Tabuthemen, darf zumindest nicht laut ausgesprochen werden, wenn der Sprecher sich nicht in die Ecke der „Kuschelecken“-Pädagogen gestellt sehen will. Dagegen formuliert ein schwedischer Schulleiter ganz unbefangen: „Die Kinder sollen sich in der Schule wohl fühlen. Die Schule ist ein Ort, wo Kinder leben und nicht nur lernen sollen.“ Und er begründet dies mit dem Satz: „Wir meinen, was wir für unsere Kinder tun, das tun wir für unsere Zukunft, hierin sind sich Lehrer, Eltern und politisch Verantwortliche einig“ (Schaak 1996).

Schule könnte im Rückblick der Erwachsenen etwas Wertvolles, eine wichtige und gute Erfahrung gewesen sein. Dass in Deutschland dieser Rückblick bei vielen mit gemischten Gefühlen oder sogar Erbitterung verbunden ist, bleibt über die Jahrzehnte so konstant, als sei es ein Naturgesetz und ist wohl auch ein Motiv für die geringe Achtung, die dem Lehrerberuf entgegengebracht wird. Fast scheint es, als würden in Deutschland die Erfahrungen, die jeder Einzelne in der Schule machte, in der Summe zu einer Art struktureller Bildungsfeindlichkeit führen. Dies hat auch Folgen für die Diskussion von Bildungsreformen. Häufig stoßen offenere und stärker an den Bedürfnissen von Schülern orientierte Unterrichtsformen bei Älteren auf vehemente Ablehnung, so als würde damit das einstige Leiden an der Schule noch nachträglich seines Sinns beraubt.

Eine weitere Erklärung dafür, warum es dem deutschen Schulsystem besonders wenig gelingt, die anfänglich ja durchaus vorhandene Lernmotivation ihrer Schüler aufrechtzuerhalten, dürfte auch in der Segmentierung unseres Bildungssystems in verschiedene Schulformen zu suchen sein. Bereits die ersten, noch gemeinsam verbrachten Jahre in der Grundschule sind von der anstehenden Zuweisung der Schüler an unterschiedlich prestigebesetzte Schulformen überschattet. Eine so frühe Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Bildungsgänge je nach der erbrachten Leistung ist eine Spezialität der deutschsprachigen Länder: Sie erfolgt nach der 4. Klasse außer in Deutschland nur noch in einigen Kantonen der Schweiz, während sich andere Kantone für eine sechsjährige Primarschulzeit entschieden haben. Österreich weist wahlweise nach der 4. oder nach der 8. Klasse seine Schüler verschiedenen Bildungsgängen zu. In den meisten anderen Industrienationen werden die Schulpflichtigen nicht schon nach der 4. Klasse, sondern erst ab der 7., 8. oder 9. Klasse auf Schulen mit unterschiedlichem Anspruchsniveau aufgeteilt. Integrierte Schulsysteme sind die Regel, was nicht ausschließt, dass in ihnen unterschiedlich anspruchsvolle Schulzweige zu finden sind, in denen die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihrem individuellen Lerntempo gefördert werden.

Freilich bestand zunächst die Erwartung, dass gerade ein Schulsystem wie das deutsche mit unterschiedlichen Schulformen und Anspruchsniveaus besonders gut geeignet sein sollte, unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Begabungen gerecht zu werden. Tatsächlich zeigen nun jedoch die internationalen Vergleichsstudien, dass auf der Basis der vertikal gegliederten Schulstruktur der Aspekt der Förderung eher zu kurz kommt – eher entsteht das Problem der „Abwärtsmobilität“: Formal ist das deutsche Schulsystem zwar auf Durchlässigkeit in beiden Richtungen angelegt, empirisch ist jedoch „vielfach belegt, dass ein Wechsel der Schulform in den meisten Fällen einen Abstieg aus einer anspruchsvollen in eine weniger anspruchsvolle Schulform bedeutet ...; mit anderen Worten: ‚Aufsteiger‘ kommen wesentlich seltener vor als die so genannten ‚Rückläufer‘. Abstufungen werden von den Betroffenen in aller Regel als Misserfolge oder sogar als Scheitern erlebt und sind psychisch nicht einfach zu verarbeiten“ (Schümer/Tillmann/Weiß 2002, S. 209).

Zu den Funktionen von Schule gehörte seit dem 19. Jahrhundert beides: die Anhebung des allgemeinen Niveaus von Bildung und zugleich die Erzeugung von sozialer Differenz durch deren unterschiedliche Qualität. Das Interesse des Bürgertums an einem gegliederten Schulsystem entsprang diesem Bedürfnis nach sozialer Distinktion. Der egalitäre Humbold‘sche Gedanke, wonach ein Tischler ebenso Griechisch und Latein gelernt haben solle wie der Gelehrte, der aber ebenfalls Tische anzufertigen gelernt haben müsse, ließ sich im 19. Jahrhundert ebenso wenig durchsetzen wie im 20. der Einheitsschulgedanke, der gleichwohl das gesamte Jahrhundert begleitete.

Die Konstruktion der traditionellen Schule antwortete auf einen gesellschaftlichen Bedarf an Ungleichheit: Wo unterschiedlich gut ausgestattete Positionen zu vergeben sind, ist es sinnvoll, die Zahl der Konkurrenten klein zu halten, indem man andere Mitbewerber möglichst früh schon aus dem Felde schlägt. Diese Entscheidung, die Leistung des Einzelnen zum Kriterium zu machen, von dem sein Status abhängt, beruht nach wie vor auf einem breiten Konsens. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, lautet die Devise. Sie verdeckt, dass sich dieses Prinzip nicht uneingeschränkt durchsetzt: Zu keinem Zeitpunkt hat soziale Herkunft aufgehört, die Lebenschancen des Einzelnen massiv zu beeinflussen, sie fungiert jedoch nur noch als verdecktes Selektionskriterium.

Zur Umsetzung des postulierten Leistungsprinzips wurden im 19. Jahrhundert Schulen flächendeckend eingeführt. Wie gut Kinder und Jugendliche im Vorhinein definierte Leistungen zu erbringen vermögen, wurde als das zentrale Kriterium für die Verteilung sozialer Positionen akzeptiert, wobei es vor allem um die Aufnahme und Reproduktion kognitiven Wissens und um die allgemeine Bereitschaft, geforderte Leistungen zu erbringen, ging. Sicher hat sich der gesellschaftliche Bedarf an Erzeugung, in der Konsequenz dann auch Selbstzuschreibung gesellschaftlicher Ungleichheit nicht verringert. Zur Disposition steht gegenwärtig aber, ob es sinnvoll ist, dies an frühe Enttäuschungserfahrungen in Lernsituationen zu knüpfen. Insbesondere der frühe Zeitpunkt erscheint als sinnlos, wenn es nicht mehr darum gehen kann, über eine ganze Lebensspanne reichende Identifikationen mit einem Berufsbild und einer sozialen Schicht aufzubauen. Heute wird erkennbar, dass die selektive Schule die Schule einer statischen Gesellschaft war, in der soziale Rollen noch ein für alle Mal verteilt wurden.

Die enge Verknüpfung von Bildungsprozess und Selektionsprozess in der Schule führt – unter anderem aus Gründen technischer Fragen der Überprüfbarkeit und des Messbarmachens komplexer Fähigkeiten – zur zunehmenden Reduktion der Bildungsvorstellungen. Die Überlagerung von Bildungs- durch Selektionserfahrungen bedeutet für Schüler in der Regel eher strategische Anpassung an jeweilige Leistungserwartungen anstatt aktive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Die Frage nach der Bedeutsamkeit des Gelernten für das eigene Welt- und Selbstverständnis verflüchtigt sich dabei. Dies ist im Verlaufe des 20. Jahrhunderts immer wieder unter kultur- bzw. gesellschaftskritischer Perspektive beschrieben und kritisiert worden: als „Überbürdung“ mit totem, nicht anwendungsfähigem Wissen und „Halbbildung“, als Reduktion des Bildungsanspruchs auf Unterwerfungsrituale und Scheitern am Kernauftrag der Schule, nämlich der Bildung des Individuums als Entfaltung von Fähigkeiten und Entwicklung von Orientierungen, aber auch der „Bildung des Bürgers“ als Befähigung der Heranwachsenden zu Selbstbestimmung und politischer Partizipation. Instrumentalisierung von Bildungsprozessen, Immunisierung gegen ihre Inhalte, der Verlust ihrer subjektiven Bedeutsamkeit: Nicht die Hilfe bei der Entfaltung persönlicher Befähigungen sei das Geschäft von Schule, sondern deren Beschneidung zwecks Erzeugung von Loyalität und Anpassungsbereitschaft, die Bildung des politisch mündigen Staatsbürgers werde der Ausbildung der jeweils auf dem Arbeitsmarkt benötigten Qualifikationen geopfert. Diese Kritik an der Unterordnung der Bildung unter die Gesetze politischer Herrschaft und ökonomischer Rationalität begleitet den pädagogischen Diskurs des gesamten 20. Jahrhunderts.

Mit dem Nationalsozialismus wurde zudem der Beweis angetreten, dass das gut ausgebaute und gegliederte Schulsystem nicht in der Lage war, die politische Katastrophe zu verhindern. Deutlich wird damit, dass es nicht der Organisationsgrad eines Bildungssystems ist, der Barbarei verhindern kann. Ist dieser organisatorische Entfaltungsgrad schon nicht die hinreichende, so ist er allerdings die notwendige Bedingung politischer Mündigkeit, zu der etwas anderes hinzutreten muss: Bildungserfahrung als gute Erfahrung damit, sich in zunehmendem Maße seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen und sich damit auseinander setzen zu können, wie andere denken.

Dieser Vorstellung einer möglichst guten Bildung für möglichst alle wird entgegengehalten, dass es sich dabei um eine menschenfreundliche Illusion handelt, die beschäftigungspolitischen Realitäten nicht standzuhalten vermag. Was, so fragen besorgte Beobachter, geschähe denn, würde man Bildungsbeschränkungen aufheben und tatsächlich jede und jeden optimal fördern – dem ganzen Spektrum seiner oder ihrer Fähigkeiten entsprechend und nicht verengt auf allein die kognitive Leistung. „Von einem bestimmten Punkt an gerät jede Maßnahme zur Erhöhung der Chancengleichheit in Widerspruch zu sich selbst, erhöht ein Zuwachs an Chancengleichheit in erster Linie die Konkurrenz um eine begrenzte Zahl erstrebenswerter Berufspositionen, wird Lernen zu einem Kampf um Berechtigungsscheine und bleibt Bildung im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung auf der Strecke“ (Dresselhaus 1997, S. 235) – so lautet der Einwand.

Richtig an diesem Einwand ist, dass es auf lange Sicht weiterhin eine enge Verknüpfung zwischen erreichtem Bildungsstand und allgemeinen Lebenschancen bis hin zu Lebenserwartung und Gesundheitsrisiken geben wird. Wir erleben dabei jedoch in zunehmendem Maße eine Entkoppelung von Bildungsabschluss und beruflicher Position. Bestimmte Aufgaben waren lange Zeit mit dazu hinführenden Bildungsgängen fest verknüpft. Nun ist es eher so, dass das Bildungssystem auf die durchgängige Offenheit und den Wechsel von Aufgaben und Anforderungen vorbereiten muss, und zwar auf allen Ebenen. Alle Schulabgänger, gleich welcher Schulart, müssen über Kompetenzen wie etwa die Fähigkeit, sich in neue Problemlagen hineinzudenken, neues Wissen zu erwerben, sich mit sozialen Lernprozessen auseinander zu setzen, verfügen. Der Schulabschluss ist zwar nach wie vor eine Art Berechtigungsausweis, aber zunehmend nur mehr im Sinne der Minimalvoraussetzung. Entscheidender ist der Erwerb der genannten Qualifikationen, die zum Teil Bestimmungen des traditionellen Bildungsbegriffs aufnehmen, zum Teil eher pragmatische Handlungskompetenzen sind, fast schon Überlebensstrategien. Umso problematischer wird die Verlegung von Entscheidungen über Art und Umfang des Bildungsgangs in die Kindheit, d. h. in das letzte Grundschuljahr. Nicht nur, dass möglicherweise bereits hier Chancen verbaut werden: Für viele Kinder fungiert Schule als wichtiger Weichensteller auch für die Möglichkeit, spätere Bildungsangebote wahrzunehmen. Verdirbt sie die Lust darauf, weil wenig gute Erfahrungen mit Fragenstellen und Lernen, Erklären und Zuhören gemacht wurden, so werden diese ja höchst affektbesetzten Enttäuschungen nach Verlassen der Schule schwer zu revidieren sein.

Der Aufbau des Buches folgt nun dem eben in Kürze dargestellten Gedankengang und versucht, die einzelnen Punkte zu entfalten. In Kapitel 2 geht es um eine Darstellung der historischen Entwicklung d. h. der Herausbildung des heutigen mehrgliedrigen Schulsystems. Diese Darstellung erfolgt in drei Schritten: In einer kurzen historischen Skizze wird die Begründung eines staatlichen Schulwesens in Deutschland im Zuge des Umbruchs der napoleonischen Zeit und der aufklärerisch-bildungstheoretischen Absichten Wilhelm von Humboldts umrissen. Seine Entwicklung mündete Ende des 19. Jahrhunderts in Schulkämpfen, welche die Bildungspolitik bis zum Ersten Weltkrieg antrieben (Kapitel 2.1), aber auch in einer Gegenbewegung zu der rigiden Schule der Jahrhundertwende, der Phase der Reformpädagogik (Kapitel 2.2). Auseinandersetzungen um die Gestalt der Schule in einer demokratischen Gesellschaft bestimmten aber auch die Weimarer Republik und die Rekonstruktion des Schulwesens nach 1945 (Kapitel 2.3).

Im dritten Kapitel werden die Begründungsmuster für schulische Selektion und deren Kritik diskutiert: Es sind dies sozioökonomische Begründungsmuster (Kapitel 3.1), Bezugnahmen auf den Begabungsbegriff (Kapitel 3.2) sowie systemtheoretische Überlegungen zur gesellschaftlichen Bedeutung der „gut/schlecht“-Differenz (Kapitel 3.3).

Das 4. und 5. Kapitel diskutieren unter der Diagnose des Veraltens der deutschen Schule die empirisch festzustellende zunehmende Dysfunktionalität schulischer Selektion, und zwar mit Bezug auf die sozialen Veränderungen der letzten 30 Jahre (Kapitel 4) sowie in lernpsychologischer Hinsicht mit Bezug auf eine Vielzahl neuer bzw. wieder entdeckter Forschungsergebnisse über die Grundgesetze menschlichen Lernens (Kapitel 5).

Dies mündet in die Frage nach Alternativen: In Kapitel 6 wird dementsprechend eine Übersicht über derzeit bereits vorhandene deutsche wie internationale Praxismodelle alltäglichen Umgangs mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen im Unterricht gegeben, Modelle, die interessanterweise oftmals unter schwierigsten Ausgangspositionen, etwa in so genannten sozialen Brennpunkten, Gestalt gewonnen haben. Im Abschlusskapitel (Kapitel 7) soll schließlich unter dem Titel des Abschieds von der selektiven Schule die Notwendigkeit der Diskussion um die heutige Bedeutung des Bildungsbegriffs unterstrichen werden – mit dem Plädoyer, individuelle Bildung als gesellschaftliche Aufgabe zu betrachten.

Lernen und Leistung

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