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2. Selektion durch Bildung im 19. und 20. Jahrhundert

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Das dreigliedrige Schulsystem – also Haupt-, Realschule, Gymnasium – ist im internationalen Maßstab eine Spezialität deutschsprachiger Länder. Daran ändert auch die begriffliche Kosmetik einer Einteilung in Primarstufe, Sekundarstufe I und Sekundarstufe II nichts, die eine Gleichheit der Bildungssysteme weltweit suggeriert (vgl. Schümer 2001, S. 425 f.). Ein einheitliches Bildungsangebot für alle Schüler erstreckt sich damit in Deutschland nur über die ersten vier (in Berlin: sechs) Grundschuljahre. Soweit darüber im Rahmen der Wissenschaft diskutiert wird, besteht Konsens, „dass diese frühzeitige Festlegung der Bildungswege zu einer hohen sozialen Selektivität führt. Durch zahlreiche Erhebungen konnte festgestellt werden, dass bei der frühen Differenzierung nach dem 4. Schuljahr die Bildungserwartung des Elternhauses ein wichtiger Entscheidungsfaktor für die Wahl der Schulform ist. Die Forderung des Grundgesetzes nach Gleichheit der Bildungschancen kann so nicht erfüllt werden“ (Dresselhaus 1997, S. 36). Denn Eltern aus den so genannten „bildungsfernen“ Schichten engagieren sich in der Regel weniger für die Schulkarriere ihres Kindes, ökonomisch gut gestellte Eltern setzen sich oft auch gegen die Empfehlungen der Grundschule für die Wahl eines möglichst hochwertigen Bildungswegs ein.

Seit ab den 70er Jahren vehement, aber folgenlos über die mangelnde Chancengleichheit des bundesdeutschen Bildungssystems diskutiert wird, besteht weitgehende Einigkeit über die folgenden drei Kritikpunkte:

 Die Noten aus der Grundschulzeit können Leistungen in der weiterführenden Schule nur unzureichend prognostizieren; dies gilt vor allem für einen so frühen Zeitpunkt wie nach der vierten Klasse.

 Die Aufteilung der Schüler auf die verschiedenen Schulformen orientiert sich nur vordergründig am unterschiedlichen Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler. Auffällig ist die starke Entsprechung von sozialem Status der Eltern und erreichtem Bildungsabschluss.

 Zwar sind die verschiedenen Schulformen als für einander „durchlässig“ angelegt. Ein Wechsel der Schulform findet für Schülerinnen und Schüler jedoch – wenn überhaupt – häufiger in Gestalt von Abstufungen statt, „mit anderen Worten: ‚Aufsteiger‘ kommen wesentlich seltener vor als die so genannten ‚Rückläufer‘“ (Schümer u. a. 2002, S. 209).

Damit verlieren die verschiedenen Schulformen ihren Charakter, einfach nur unterschiedlich anspruchsvolle Bildungsangebote bereitzuhalten, sondern modellieren das Selbstbild und die Erwartungen der Schüler an das eigene Leben. „Abstufungen werden von den Betroffenen in aller Regel als Misserfolge oder sogar als Scheitern erlebt und sind psychisch nicht einfach zu verarbeiten“ (ebd.). Immer stärker bedeutet zudem eine negative Bildungskarriere nicht nur Ausschluss von bestimmten beruflichen Möglichkeiten, sondern von gesicherten Arbeitsverhältnissen überhaupt.s

Diese Kopplung von sozialem Status und Bildungsniveau ist sicher nicht allein ein deutsches Phänomen. Aber anders als in anderen Ländern hat sie sich bruchloser seit den Anfängen unseres Schulsystems im 18. Jahrhundert durchgehalten. Vorstöße, hieran etwas zu ändern, finden sich in den letzten 200 Jahren immer wieder, sie scheiterten aber zugleich immer aufs Neue daran, politisch nicht gewollt zu sein. Geht man bis zum 18. Jahrhundert zurück, so finden sich bereits hier und noch vor der Einführung eines staatlichen Schulsystems in Grundzügen die uns vertrauten drei Schulformen in Gestalt von „Bauern-“, „Bürger-“ und „Gelehrtenschulen“. Nach einer Ära der Bildungsreform, die für uns mit dem Namen von Wilhelm von Humboldt verknüpft ist und in der ein in wesentlichen Zügen einheitliches Bildungsangebot für alle entwickelt wird, tritt mit der Restaurationsphase nach 1848 wieder ein dreigliedriges Schulsystem in Kraft und bleibt bis auf wenige Modifikationen bis heute erhalten.

Jedoch gerade dadurch, dass es sich in wesentlichen Zügen durchhält, verändert es über einen so langen Zeitraum hinweg seinen Charakter – zumal es von dramatischen Traditionsbrüchen gekennzeichnet ist. In einer traditionellen Gesellschaft mit starken Standesunterschieden und einer nur geringen Aussicht, den Stand, in den man hineingeboren wurde, jemals zu verlassen, hat ein gegliedertes Schulsystem eine ganz andere Funktion als in einer Gesellschaft frei flottierender Statuszuweisungen. Soziale Selektion durch Bildung hat damit einen Funktionswandel durchlaufen:

 Traditionell war der Bildungsgrad eines Individuums eher ein Ausdruck seiner sozialen Herkunft. Für die Gesellschaft der Moderne, d. h. seit dem 19. Jahrhundert, gilt zunehmend, dass sozialer Status über Bildung produziert wird. Schule wird zur „Dirigierungsstelle“ (Schelsky). Bildung bestätigt nicht nur, sondern erzeugt zunehmend soziale Differenz. Sie wird zum sozialen Filter: Wer durch das Bildungssystem hindurchfällt, wird in der Regel die Kränkung des geringeren sozialen Status damit quittieren, dass er oder sie sich nicht weiter den Angeboten eines Systems aussetzt, das diese Kränkungen erzeugt hat – dem Bildungssystem. Dies gebietet allein schon die Selbstachtung. Dieser nahe liegende Selbstschutz erschwert es dann zusätzlich, später aus der Position der Bildungsverweigerung noch auszubrechen.

 Die Verschiedenheit der sozialen und kulturellen Ausgangslagen wird durch das Schulsystem eher verstärkt als aufgefangen: Wer Deutsch nicht als Muttersprache spricht, wer andere kulturelle Orientierungen mitbringt, hat es schwer im Unterricht und bekommt bei uns wenig Hilfe, diese Schwierigkeiten zu bewältigen. Unser Bildungssystem ist (im Gegensatz zu denen vieler anderer Länder) nicht darauf eingerichtet, die wachsende Heterogenität des sozialen und kulturellen Hintergrunds auszugleichen, da es an seiner traditionellen Funktion festhält, solche Verschiedenheiten durch Zuweisung des Einzelnen an unterschiedliche Schulformen eher zu verstärken.

 Noch im 19. Jahrhundert mussten planmäßig geringwertige Qualifikationen erzeugt werden, da sonst die große Menge stupider und schwerer Arbeit von niemandem geleistet worden wäre. Durch die Rationalisierung anspruchsloser und monotoner Arbeit sind viele dieser Berufe verschwunden. Gleichzeitig hat sich der Zusammenhang zwischen Schulabschluss und beruflicher Position gelockert. Gute Bildungsabschlüsse garantieren nicht mehr automatisch die gut bezahlte Stellung, genauso wenig automatisch kann man davon ausgehen, dass ein geringwertiger Abschluss – wie in vergangenen Jahrhunderten – die bescheidene, aber gesicherte Existenz am unteren Rande der Gesellschaft ermöglicht: Er kann zum Ausschluss aus der Arbeitsgesellschaft überhaupt führen.

Alle drei Gesichtspunkte sprechen dafür, dass das selektive Schulsystem die Funktion längst eingebüßt hat, die Gesellschaft in ihrem Status quo zu stabilisieren, indem sie jedem „seinen Platz“ entsprechend seinen Fähigkeiten und Begabungen zuweist. Die Ergebnisse von PISA haben deutlich gemacht, dass eine Abstufung innerhalb unseres Bildungssystems häufig dazu führt, dass man überhaupt aus ihm herausfällt: Wenn knapp ein Viertel aller 15-Jährigen Texte nicht sinnverstehend lesen können, bedeutet dies, dass eine derartig große Gruppe nicht mehr in das gesellschaftliche, von Schriftkultur geprägte Selbstverständnis eingebunden ist, ein Teufelskreis, denn die damit verknüpfte Einbuße an Selbstvertrauen hält davon ab, solche Defizite später auszugleichen.

Bereits bei seinem Aufbau vor 200 Jahren wurde die Einführung eines neuen flächendeckenden Schulsystems für alle mit starken politischen Erwartungen und Befürchtungen befrachtet und blieb über das ganze 19. Jahrhundert hinweg Gegenstand vehement geführter öffentlicher Auseinandersetzungen. So auch im 20. Jahrhundert. Von Anfang an erwarten die einen von der öffentlichen Schule, dass sie den charakteristischen Modernitätsrückstand Deutschlands gegenüber dem europäischen Ausland beheben hilft, andere erhoffen sich eine soziale Angleichung durch Milderung klassenspezifischer Unterschiede, wieder andere die Legitimation solcher unterschiedlichen sozialen Statuspositionen durch die unterschiedlichen Bildungsgänge eines gegliederten Schulsystems.

Es ist evident, dass je nach Zielsetzung äußere Organisation und innere Gestaltung von Schule und Unterricht anders aussehen werden. Und es ist auch klar, dass je nach politischer Wortführerschaft im Meinungsstreit diese Entwürfe von Schule und Unterricht wechseln. Insofern ist eher erstaunlich, wie klar von Anfang an wenige Alternativen die Diskussion beherrschen, Alternativen, die bis jetzt die bildungspolitischen Auseinandersetzungen kennzeichnen:

 Eine gemeinsame Schule für alle oder ein Schulsystem, das die sozialen Schichten abbildet?

 Ein Unterricht, der individuelle Leistungs- und Begabungsunterschiede betont, der nicht nur fördert, sondern auch ausschließt, oder ein Unterricht, der integriert?

 Ein Bildungsverständnis, das eher materiales Wissen betont, reichhaltige stoffliche Kenntnisse in den verschiedenen Fächern oder eher formale Fähigkeiten des Wissenserwerbs, das, was wir heute „Schlüsselkompetenzen“ nennen?

Und von Anfang an gesellt sich auf der Metaebene dem die Frage hinzu, ob dies überhaupt echte Alternativen sind oder ob es hier nicht eher um eine Entscheidung zwischen pädagogischem Wunschdenken und Alltagshandeln, egalitären Illusionen und pragmatischer Einsicht in die Grenzen pädagogischer Handlungsmöglichkeiten geht. In Deutschland, anders als in anderen Ländern, ist diese Frage offen geblieben, da jede Antwort unter prinzipiellen Ideologieverdacht gestellt wurde. Wir haben genügend Wissen über eine Schule, die gegliedert, selektiv und in erster Linie auf die Vermittlung von Unterrichtsstoffen ausgerichtet ist. Da das, was politisch nicht gewollt oder nicht durchsetzbar war, auch weitgehend der empirischen Überprüfung entzogen ist, haben wir wenig gesichertes Wissen über den Realitätsgehalt der Alternativen.

Diese Aufspaltung in zwei gegensätzliche Entwürfe von Schule beherrscht die Einrichtung des deutschen Schulsystems sozusagen vom ersten Tage an und soll hier kurz nachgezeichnet werden.

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