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3.Positive und negative Religionsfreiheit
ОглавлениеFallbeispiel 1:
Der neue Chefarzt Dr. Freimut am Städtischen Krankenhaus in M. nimmt daran Anstoß, dass entsprechend einem Stadtratsbeschluss Patienten bei ihrer Aufnahme, unter Hinweis darauf, dass die Frage nicht beantwortet zu werden brauche, danach gefragt werden, welche Konfession sie haben und ob sie einen Besuch des Krankhausseelsorgers oder der Krankenhausseelsorgerin wünschen. Dr. Freimut möchte dies zunächst mit der für die Seelsorge an diesem Krankenhaus zuständigen Pfarrerin Katharina Klug besprechen.
Was wird Pfarrerin Klug dazu sagen?
a)Das Grundrecht des Art. 4 hat nicht nur eine positive, sondern auch eine negative Komponente, die historisch gesehen zunächst im Vordergrund stand.
Exkurs zur geschichtlichen Entwicklung:
Im Augsburger Religionsfrieden (1555) kam es zu einer Gleichstellung des katholischen und evangelischen Bekenntnisses. Anerkannt war hier aber nur das Recht der Landesherren auf Konfessionswahl und auf Festlegung des Bekenntnisstandes (ius reformandi). Die einzelnen Untertanen hatten der Landesreligion anzugehören (cuius regio eius religio); abweichende Konfessionen konnten verboten, deren Anhänger vertrieben oder auch toleriert werden. Nur in Ansätzen war für die Untertanen „Religionsfreiheit“ insoweit anerkannt, als sie unter bestimmten Bedingungen in ein Land ihrer Konfession auswandern durften (ius emigrandi). Der Westfälische Friede (1648) ging einen Schritt weiter, indem er auf das öffentliche exercitium religionis des „Normaljahres“ 1624 abstellte und die Reformierten als dritte Religionspartei anerkannte. Aus dem Emigrationsrecht der Anderskonfessionellen und derjenigen, die 1624 kein Recht zur öffentlichen Religionsausübung hatten, erwuchs das Recht zu bleiben und ihren Glauben wenigstens in nicht öffentlicher Form (Hausandachten) ausüben zu können; Besuche des öffentlichen Gottesdienstes in benachbarten Gebieten ihrer Religion waren erlaubt. Die Anerkennung einer individuellen Religionsfreiheit mit Glaubens- und Gewissensfreiheit für jedermann erfolgte dann zuerst in Preußen im Allgemeinen Landrecht von 1794 (§§ 1 ff. II 11 ALR). Allerdings war nur ein Kirchenübertritt, kein völliger Kirchenaustritt möglich. Letzteres wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesetzlich geregelt. Allerdings blieb auch nach dem ALR die Religionsausübung weiterhin abgestuft. Nur die drei anerkannten Konfessionen hatten das Recht der öffentlichen Religionsausübung, einschließlich des Rechts auf Kirchturm und Glockengeläut (§ 25 II 11 ALR). Andere Konfessionen sowie Sekten hatten den Status „geduldeter Kirchengesellschaften“, denen nur die freie Ausübung von „Privat-Gottesdiensten“ gestattet war (§ 22 II 11 ALR).
Ähnlich war die Rechtslage in Bayern nach Anerkennung einer individuellen Glaubens- und Gewissensfreiheit, zuerst durch die Amberger Resolution vom 10. November 1800, durch das Toleranzedikt vom 26. August 1801 und das Religionsedikt vom 10. Januar 1803. Das Religionsedikt vom 18. Mai 1818 (RE) kannte wie das ALR die öffentliche Religionsausübung nur durch die drei anerkannten Konfessionen (§ 28 RE), während die anderen Glaubensgemeinschaften „Privat-Gesellschaften“ waren (§ 32 RE) – mit der Befugnis der freien Ausübung ihrer „Privat-Gottesdienste“ (§ 33 RE) ohne Glockenrecht (§ 35 RE).14
Umfasst ist von Art. 4 sowohl die Freiheit, religiös zu sein, aber auch areligiös oder gar antireligiös. Garantiert ist nicht nur das Recht, eine religiöse Überzeugung zu äußern, und bestimmte kultische Handlungen vorzunehmen, sondern auch das Recht, keine religiöse Überzeugung zu äußern und kultischen Handlungen fern zu bleiben.15 Mit anderen Worten: Geschützt ist die Freiheit zu glauben oder auch nicht zu glauben, einen Glauben zu bekennen oder ihn zu verschweigen, sich von ihm loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, ihn auszuüben oder auch nicht auszuüben. Der Kirchenaustritt, die Möglichkeit, Schüler von der Teilnahme am Religionsunterricht abzumelden16, die Befugnis staatlicher Lehrkräfte, nicht gegen ihren Willen Religionsunterricht erteilen zu müssen17, die Möglichkeit der Verweigerung der Angabe der Konfessionszugehörigkeit in bestimmten Fällen (z. B. bei der Aufnahme in ein Krankenhaus)18 finden hier ihre Grundlage. Gemäß Art. 140 GG/136 Abs. 3 WRV besteht ein behördliches Fragerecht mit korrespondierender Auskunftspflicht nur, wenn davon Rechte und Pflichten auch im staatlichen Bereich abhängen (z. B. die Konfessionsangabe bei der Meldebehörde im Hinblick auf die Verpflichtung zur Zahlung der Kirchensteuer) oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert (z. B. Volkszählung19).
b)Zu schwierigen Abgrenzungsproblemen kann es kommen, wenn positive und negative Religionsfreiheit aufeinandertreffen. Als Beispiel sei hier der sog. Schulgebets-Fall angeführt: Das Bundesverfassungsgericht hat – unter Aufhebung eines Urteils des Hessischen Staatsgerichtshofes20 – entschieden, dass das allgemeine Schulgebet im Grundsatz auch dann verfassungsrechtlich unbedenklich sei, wenn ein Schüler oder dessen Eltern der Abhaltung widersprechen. Deren Grundrecht der negativen Religionsfreiheit sei jedenfalls dann nicht verletzt, wenn über die Teilnahme am Gebet frei und ohne Zwänge entschieden werden könne. Die bei Beachtung des Toleranzgebotes regelmäßig vorauszusetzende Freiwilligkeit sei aber dann nicht mehr gesichert, wenn der Schüler nach den Umständen des Einzelfalles der Teilnahme nicht in zumutbarer Weise ausweichen könne. Es dürfe keinesfalls zu einer Diskriminierung des oder der Andersdenkenden kommen. In diesem Fall hätte die negative Religionsfreiheit Vorrang.21 Bei Kollisionen von positiver und negativer Religionsfreiheit ist, wie auch bei sonstigen Grundrechts- oder Verfassungskollisionen, eine Abwägung zwischen dem Inhalt der verschiedenen widerstreitenden Rechtsgüter (hier: positive und negative Religionsfreiheit) vorzunehmen und diese zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen. Die Freiheit, etwas anderes oder nichts zu glauben, umschließt jedenfalls nicht die Freiheit, andere mit staatlicher Hilfe an der Entfaltung ihres Glaubens zu hindern.
c)Die Freiheiten des Art. 4 gelten nicht nur für den einzelnen selbst, sondern auch für die Religionsgemeinschaften als solche. Damit sind diese selbst grundrechtsfähig und insoweit auch berechtigt, Verfassungsbeschwerde wegen Grundrechtsverletzungen zu erheben. Als Gemeinschaften, als Gemeinde der Gläubigen, haben also auch sie den Freiheitsanspruch auf Glaubensüberzeugung, Glaubensbekenntnis und Glaubensbetätigung. Dies gilt auch für Vereinigungen, die mit Kirchen oder Religionsgemeinschaften organisatorisch oder institutionell verbunden sind, aber auch für andere selbstständige oder unselbstständige Vereinigungen, „wenn und soweit ihr Zweck die Pflege oder Förderung eines religiösen Bekenntnisses oder die Verkündung des Glaubens ihrer Mitglieder ist“.22 Dabei ist bei der Frage, was im einzelnen Religionsausübung ist, das Selbstverständnis dieser Religionsgemeinschaften im besonderen Maße zu beachten23; andererseits darf dieses – im Hinblick auf zwingende staatliche Sicherheits- und Gefahrenabwehrerfordernisse gegenüber extremistischen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften – nicht zu einer „Hypertrophie“24 des Grundrechts der Religionsfreiheit führen.25
Geschützt ist aber auch eine nur vereinzelt auftretende Glaubensüberzeugung, die von den offiziellen Lehren der Kirchen und Religionsgemeinschaften abweicht.26 Wer beispielsweise überzeugt ist, ihm sei durch eine Glaubensvorschrift jede Leistung eines Eides – einschließlich einer Fassung ohne religiösen oder transzendenten Bezug – untersagt (vgl. etwa Matth. 5, 33–37), kann als Zeuge vor Gericht unter Berufung auf Art. 4 die Eidesleistung verweigern, auch wenn diese Überzeugung nicht die Mehrheitsauffassung seiner Religions- oder Glaubensgemeinschaft ist. Aus dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hat der Gesetzgeber die Konsequenz gezogen und den Zeugen im geltenden Prozessrecht die Möglichkeit einer „eidesgleichen Bekräftigung“ eröffnet. Die Möglichkeit einer Verweigerung der Eidesleistung unter Berufung auf religiöse Gründe hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen auch auf den Amtseid von Mandatsträgern ausgedehnt.27