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Kapitel 10 – Marinus betrauert gute Freunde

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„Anna, hast Du meine Krawatte gesehen?“ rief Marinus Happinger seiner Frau zu, die in ihrem schwarzen Kostüm im Flur stand und wartete, bis endlich auch er fertig angezogen war. Sie wollten oder besser gesagt, sie hatten an diesem Tag die traurige Pflicht, zur Beerdigung eines guten Freundes nach München fahren.

„Auf dem Bügelbrett!“ rief Anna zurück. „Und bitte beeil‘ dich, wir müssen los!“

Beerdigungen waren Marinus ein Graus.

Zwei Jahre zuvor war sein Cousin Wilfried durch einen Treppensturz im eigenen Haus ums Leben gekommen. Vor einem Jahr hatte er sich von Stefan verabschieden müssen, der ihm in der Jugend ein guter Freund gewesen war und der später auch sein Trauzeuge wurde. Stefan war an einem Gehirntumor gestorben. Kurz darauf musste Marinus dann auch noch erfahren, dass Dieter, mit dem er seinerzeit in München das Abitur gemacht und dann Jura studiert hatte, verstorben war. Ihn hatte der Lungenkrebs hinweggerafft, obwohl er nie Raucher war. Und jetzt Franz, der sich beim Tennisspiel plötzlich ans Herz gegriffen hatte, zusammenbrach und auf dem roten Sand sein Leben aushauchte.

Alle waren sie, wie Marinus, Mitte Fünfzig gewesen.

Der Tod hatte sie nacheinander so früh und so überraschend aus dem Leben gerissen, dass es Marinus gar nicht hatte fassen können. Bei den Beerdigungen war er gewesen, weil man seinen Freunden nun einmal die letzte Ehre erweist. Auch jetzt ging er mit Anna einzig aus diesem Grund auf die Beerdigung.

„Steht dir gut, der dunkle Anzug mit der schwarzen Krawatte auf dem leuchtend weißen Hemd“, meinte Anna.

Marinus winkte ab.

„Zum Glück muss ich dieses Trauergewand nur hin und wieder mal tragen“, sagte er.

Während der Fahrt sprach er mit Anna über das unheimliche Phänomen, dass man kurz hintereinander mehrere gleichaltrige Freunde verliert.

„Ich komme mir vor, wie ein Soldat an der Front, der erlebt, wie erst der Kamerad an seiner Linken und dann der an seiner Rechten von Kugeln und Granaten getroffen tot zu Boden sinken. Du kennst doch das Lied <Ich hatt` einen Kameraden, einen bess`ren find`st du nicht>?“

Marinus sang es leise weiter vor sich hin.

<Eine Kugel kam geflogen: Gilt' s mir oder gilt es dir?

Ihn hat es weggerissen, Er liegt mir vor den Füßen

|: als wär's ein Stück von mir :|>

Der letzte Krieg in Deutschland war mehr als fünfzig Jahre vorbei. Das Lied aber hatte die Zeit überdauert. Auch Anna kannte es.

Die Beerdigung war am Münchner Südfriedhof nahe bei Neuperlach.

Man hätte sich über die Schönheit dieses hügelig angelegten Friedhofs mit den Wegen rund um einen idyllischen See freuen können, wenn der Anlass des Besuchs nicht so traurig gewesen wäre.

Agnes, die Witwe, und die drei Kinder, die jetzt Halbwaisen waren, weinten bitterlich, als die schwarz uniformierten Friedhofsangestellten die Urne mit Franz` Asche im Grab versenkten. Der Pfarrer las aus der Bibel (2. Samuel 14,14), dass wir am Ende alle sterben müssen und nur wie das Wasser sind, welches auf die Erde gegossen wird und nicht wieder eingesammelt werden kann; dass wir aber in Gott weiter leben werden. Marinus dachte bei diesen Worten an Thich Nhat Hanh, den Dichter und buddhistischen Lehrer, der das Leben mit einer Welle verglich, welche aus der Stille des Ozeans entsteht, vom Wind gepeitscht mächtig heranwächst und dann immer kleiner und schwächer werdend nach einer gewissen Zeitspanne wieder in der Stille des Ozeans aufgeht.

Wie ähnlich doch die Vorstellungen waren, mit denen sich hier die Christen und dort die Buddhisten trösteten, wenn es ans Sterben ging. Hier wie dort wurde geglaubt, dass das den Frieden und zugleich das Leben symbolisierende ruhige Wasser ewig bleibt, während die die Wirren der irdischen Existenz und die zeitliche Begrenzung symbolisierende Welle nur kurz entsteht und wieder vergeht. Diese Sichtweise gab Hoffnung.

Marinus dachte zurück an die Erlebnisse, die ihn mit seinem Freund Franz verbanden. Leben und Sterben gehörten untrennbar zusammen, waren lediglich zwei Seiten einer Medaille.

Es war nur eine Frage der Zeit, wann auch er sich als Welle wieder im großen stillen Wasser verlaufen und darin aufgehen würde.

Die am Grab gesprochenen Worte aus der Bibel fand Marinus durchaus stimmig. Am Grab des Freundes hätte er freilich andere Worte des Trostes gewählt. Mit dem von ihm geschätzten Benediktinerpater und Zen-Meister Willigis Jäger hätte er davon gesprochen, dass der Tod uns zurück in unser wahres Sein führt: in ein Sein, welches Geburt und Tod nicht kennt. Und er hätte gesagt, dass Sterben letztlich nichts weiter ist, als das Ablegen der Form, in der wir jetzt existieren.

Aber Marinus war sprachlos in dieser Stunde. Sobald das Sterben eine ihm nahestehende Person betraf, wenn dieses Sterben also sein Herz zu sehr berührte, blieb er stumm, so wie jetzt am Grab seines Freundes Franz.

Der Pfarrer war inzwischen am Ende seiner Ansprache angelangt. „Wir beten für uns selber und für alle Lebenden, und besonders für den Menschen aus unserer Mitte, der als erster dem Verstorbenen vor das Angesicht Gottes folgen wird“, sprach er. Vermutlich hoffte ein jeder, er möge nicht der nächste sein. Marinus drückte Annas Hand, fühlte, wie sie den Druck sanft erwiderte.

Einen Abschied von dieser Welt – jetzt schon? Nein – das konnten sie sich beide nicht vorstellen, schon ihrer Kinder wegen nicht.

ANWALT HAPPINGER

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