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Kapitel 2 – Anna Happinger beim Großeinkauf

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Marinus Happinger hatte das Haus morgens um sieben in Richtung München verlassen. Es erwartete in dort vor dem Oberlandesgericht in der Prielmayerstraße pünktlich um acht Uhr sein Mandant. Die Berufungs-Verhandlung in einem hochkarätigen Bauprozess stand an.

Anna Happinger erledigte an diesem Dienstag gleich nach dem Frühstück die Einkäufe für die bevorstehende Woche. Sie musste dazu in das drei Kilometer entfernte Reding fahren, denn in Aufferberg, wo sie wohnten, gab es nur ein paar Bauernhöfe und Landhäuser, aber keine Geschäfte. Marinus und Anna hatten sich ganz bewusst für ein Haus im Außenbereich entschieden, auch wenn sie dafür etwas weitere Wege in Kauf nehmen mussten und zwei Autos brauchten. Das war eben der Preis für die Traumlage. Für Anna war es an diesem Dienstag die übliche Einkaufstour. Erst war sie zum Metzger gefahren, dann zum Bäcker und zuletzt fuhr sie noch zu dem weit außerhalb von Reding gelegenen Supermarkt. Anna Happinger war ganz entgegen der in den Supermärkten sonst üblichen Anonymität dem Verkaufspersonal bestens bekannt. Sie wurde namentlich begrüßt, seitdem sie wegen ihrer häufigen Großeinkäufe positiv aufgefallen war.

Tatsächlich brauchte sie fast immer zwei große Einkaufswagen, um die für die große Familie benötigten Lebensmittel von den Regalen zur Kasse und zum Auto zu befördern. Es waren ja immerhin acht Personen, die sie zuhause zu versorgen hatte. Selbst wenn ihre Mutter und die kleineren der fünf Kinder keine starken Esser waren, kam immer eine große Menge an Lebensmitteln zusammen. Wer die zierliche, blonde Frau nicht kannte und das Pech hatte, an der Kasse hinter ihr warten zu müssen, rätselte, warum zum Teufel jemand wie sie solche Hamsterkäufe tätigte.

Auch an diesem Tag war es ein gewaltiger Warenberg, den Anna zur Kasse schob. Im Supermarkt war zu dieser Stunde viel los. Als sie die Waren Stück für Stück auf das Fließband legte, spürte sie die Ungeduld der hinter ihr stehenden Kunden. Anna konnte daran nichts ändern, und was nicht zu ändern war, nahm sie mit Ruhe und Gelassenheit.

Zum Schluss spuckte die Kasse einen unglaublich langen Streifen aus.

„Macht hundertdreiMarkzwölf, Frau Happinger“, rief die Kassiererin weithin hörbar, als wäre das Ergebnis von allgemeinem Interesse.

Anscheinend hatte sie vom Filialleiter die Anweisung bekommen, den Rechnungsbetrag laut und deutlich zu sagen. Unwillkürlich fiel Anna der von den Ulknudeln Ingolf Lück und Hella von Sinnen gespielte Fernseh-Spot ein, mit dem mehr Unbefangenheit beim Thema HIV und Aids erzeugt werden sollte. Lück steht an der Kasse des Supermarktes und versteckt die bunten Präservative verschämt unter den anderen Einkäufen. Die hinter ihm stehenden Kunden sollen sie nicht bemerken. Die gänzlich unsensible Kassiererin aber greift gezielt nach den Präservativen im Korb, hebt sich hoch und ruft der Kollegin an der Kasse gegenüber ganz laut zu: „Hey Tina, wat kosten die Kondome?“

Anna fand sich damit ab, dass es an der Kasse eines Supermarktes so etwas wie Diskretion nicht gab, und es hatte ja auch etwas Gutes. Kunden, die sich mit dem Hören und mit dem Lesen der Kassenzettel schwer taten, waren dankbar für eine laute und deutliche Ansage. „Beim Einkaufen ist man halt nicht allein“, dachte sich Anna, und so als hätte dies noch einer Bestätigung bedurft, vernahm sie hinter sich eine knarzig-schrille Frauenstimme: „Is des a Wirtin? Ko de ned im Großmarkt eikaffa?“

Anna drehte sich langsam um und schaute der zaundürren, verhärmten Gestalt, die so etwa um die achtzig sein mochte, direkt ins Gesicht.

Die Alte kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, aus denen sie, wie es schien, jederzeit weitere giftige Pfeile abschießen konnte. Jetzt aber wartete sie gespannt auf Annas Reaktion. Aber Anna sagte nichts. Sie lächelte.

Das war aber anscheinend so ungefähr das Letzte, was die Alte ertragen konnte.

Mit ihren knöchernen, zittrigen Händen umklammerte sie den Griff des Einkaufswagens, auf den sie sich stützte, und stieß mit ihrer geballten negativen Energie die Worte hervor: „Schau vor, und schau dass d`weida kummst!“

Anna hielt das in der Tat auch für das Beste. „Lass die Alte reden, wer weiß, was ihr fehlt und wie viele Jahre ihr noch vergönnt sind?“ dachte sie. Sie zahlte mit einem Hunderter und einem Zwanziger. Die hinter ihr Wartenden und allen voran die griesgrämige Alte wären vollends durchgedreht, wenn sie jetzt noch angefangen hätte, passende Münzen aus dem Geldbeutel zu suchen, um endlich auch das viele Kleingeld loszuwerden, das sich seit den letzten Einkäufen angesammelt hatte.

„Is aba a Zeit wordn!“ schimpfte die Alte hinter Anna her, als die schon auf dem Weg zum Ausgang war. Anna hörte es, aber sie hatte weder Zeit noch Lust, darüber nachzudenken, welches Schicksal die Frau derart gebeutelt haben mochte, dass sie auf ihre alten Tage so vergrämt und feindselig war.

Sie erinnerte sich an den in vergleichbaren Fällen hilfreichen Satz: „Was kümmert es die stolze Eiche, wenn sich eine Wildsau an ihr reibt?“ Der Vergleich der Alten mit einer Wildsau passte zwar nicht ganz, aber das war jetzt auch schon egal.

Geschickt bugsierte sie ihre voll beladenen Einkaufswagen, den einen ziehend und den anderen schiebend, durch die Ladentüre und weiter zum Parkplatz. Am Auto lud sie alles in Taschen, schob die leeren Wagen zurück zu ihrem Standort vor dem Supermarkt, zog rasch die Pfandmünzen und beeilte sich, zurück zum Auto zu kommen. Auf dem Weg nachhause wollte sie noch bei der Gärtnerei Triebel vorbeifahren, um frischen Salat und Gemüse zu besorgen sowie einen Sack Futterrüben für die Pferde.

Die Einkaufstour war zeitraubend. Als sie die Gärtnerei verließ, war es schon kurz vor 11 Uhr. In ein bis zwei Stunden würden die Kinder mit einem Mordsappetit von der Schule heim kommen und auch Marinus befand sich nach dem Gerichtstermin in München bereits auf dem Nachhauseweg. Alle würden sie als Erstes fragen: „Was gibt`s denn heute zu essen?“ und gleich darauf wäre ihre nächste Frage: „Wann essen wir?“.

Das Mittagessen würde zur rechten Zeit auf dem Tisch stehen – dafür wollte Anna sorgen.

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