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Kapitel 4 – Anna Happinger und der Pferdeflüsterer

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„Endlich Papa! Wir sind schon am Verhungern!“ war das Erste, was Marinus hörte, als er gegen halb zwei Uhr zum Mittagessen heim kam.

„Entschuldigt bitte“, sagte er, „da war ein Mandant …“, weiter kam er nicht.

„Beeil` dich bitte“, rief Anna ihm zu, „das Essen ist schon fast kalt.“

Für das Händewaschen und Umziehen brauchte Marinus nur zwei Minuten.

Endlich saß auch er an seinem Platz am Tisch. „Also auf geht`s – Tischgebet!“ sagte er. Aus der Kinderecke war ein „Auch das noch!“ zu hören, welches aber wieder einmal niemandem konkret zugeordnet werden konnte. Das Wort „Amen“ ging in dem gleich darauf wie ein Schlachtruf ertönenden „Guten Appetit!“ unter. Und dann wurde es still.

Es war diese gefräßige Stille, die sich über die Stube legte, wenn es der ganzen Familie schmeckte. Bei Annas Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat war es besonders still.

Wieder einmal waren sie ihr ganz ausgezeichnet gelungen.

Nach dem schmackhaften Essen zog Marinus sich zurück.

Er machte sein Mittagsschläfchen, sein „Pisolino“, wie er es gerne nannte. Hin und wieder verwendete er italienische Wörter und Sätze für etwas, das er ebenso gut auf Deutsch hätte sagen können. Ihm machte das Spaß und die andern lernten so ganz nebenbei ein paar Worte Italienisch, so jedenfalls stellte er sich das vor. Nach dem Pisolino nahm er draußen auf der Terrasse noch rasch einen Espresso und gegen halb vier war er wieder in der Kanzlei. Wegen des Baulärms wäre er am liebsten zuhause geblieben, aber im Büro erwartete ihn pünktlich um vier der erste bestellte Mandant, und es musste auch noch ein Schriftsatz fertig werden an diesem Tag.

Anna hatte an diesem Nachmittag ein paar Stunden für sich allein. Sie überlegte, ob sie lesen oder einfach nur die Ruhe genießen und ihren Gedanken freien Lauf lassen sollte. Selten genug hatte sie dazu Gelegenheit, aber heute war ihre Mutter bei einer Nachbarin zum Kaffeeplausch eingeladen und auch die Kinder waren außer Haus. Das Buch, das auf dem kleinen Tischchen neben der Couch lag, trug den Titel „Der Pferdeflüsterer“.

Der Roman von Nicholas Evans war erst kürzlich erschienen und gleich ein Bestseller geworden. Anna hatte bisher nur den Klappentext des Buches gelesen. In der offenbar dramatischen Geschichte mit Happy End ging es um die Körpersprache der Pferde, also um eines ihrer Lieblingsthemen. Der Romanheld Tom, ein „Pferdeflüsterer“ aus Montana, schafft das schier Unmögliche. Mit großem Einfühlungsvermögen und endloser Geduld bringt er das nach einem Reitunfall traumatisierte und nicht mehr zu bändigende Pferd Pilgrim soweit, dass es menschliche Annäherung wieder zulässt. Das bei dem Unfall schwer verletzte Mädchen Grace befreit er damit aus einer Depression. Graces Mutter ist von Tom hingerissen. Sie bewundert und begehrt ihn. Auch er fühlt sich zu ihr stark hingezogen, gibt seinen Gefühlen aber nicht nach, weil er ihre Ehe nicht gefährden will.

Ein wirklicher Held, dieser Tom.

Anna griff nach dem Buch, legte es aber wieder weg.

„Es läuft mir nicht davon. Morgen oder übermorgen werde ich es lesen“, entschied sie. Sie ging zum Kühlschrank, in dem sie noch einen Rest Prosecco entdeckte. Er war am Vorabend übrig geblieben. „Mmhh, Champagner“, dachte sie, nahm die Flasche und ging nach draußen. Seitdem einer von Marinus‘ besten Mandanten, ein sehr erfolgreicher Bauunternehmer, jedes Getränk, das alkoholhaltig war und sprudelte, als „Champagner“ bezeichnete, bedienten sich auch die Happingers dieser aufwertenden Bezeichnung.

Jetzt am späten Nachmittag hatte sich die Sonne durchgesetzt und versprach Wärme. Anna rückte sich auf der Terrasse eine Liege zurecht. Der „Champagner“ prickelte im Glas. Sie setzte sich, lehnte sich weit zurück und beobachtete die kräftig aufsteigenden Bläschen. Schnell lösten sie sich auf, wie alles Gegenwärtige sich fortwährend auflöste und von einem Moment zum anderen nur noch Erinnerung war.

Auch die vielen schönen Momente, die sie in den vergangenen Jahren gemeinsam mit Marinus prickelnd erlebte, waren vergangen. Musste die Gegenwart sich am Vergangenen messen lassen? War es nicht vielmehr so, dass die jugendliche Unbeschwertheit im Laufe der Zeit nachließ, dass sie abgelöst wurde von den Pflichten, die das Leben einem auferlegte?

Anna zog es vor, an diesem Nachmittag in den schönsten Erinnerungen zu schwelgen.

Da war kein Tag ohne die prickelnden Momente der Leidenschaft und der Zärtlichkeit gewesen. Heitere Stunden waren es auch, in denen sie sich wie verspielte Kinder benahmen und über lustige Bettgeschichten lachten. Und da war immer wieder auch die überwältigende Freude gewesen, wenn sie ein Kind erwartete, wenn es dann zur Welt kam und wenn es gesund war. Fünfmal hatte sie das schon erleben dürfen und sich jedes Mal gemeinsam mit Marinus die schönste Zukunft für das Neugeborene ausgemalt.

Anna dachte auch zurück an die Tiere, die sie lieb gewonnen hatte, und von denen viele nur noch in ihrer Erinnerung lebten.

Da war die Freundschaft, die sie als Kind mit einer jungen Schäferhündin namens „Lissy“ geschlossen hatte, die fremden Leuten gehörte. Wie sehr hätte sie sich im Haus der Eltern ein Tier gewünscht; doch die Situation hatte es nicht erlaubt. Erst als sie in Marinus einen Partner fand, der zum Glück Tiere mochte, und als sie von der Großstadt hinaus aufs Land gezogen waren, konnte sie ihre Tierliebe ausleben. In den 25 Jahren ihres Ehelebens hatten sie Hunde, Katzen, Pferde und einmal sogar Ziegen. An alle diese Tiere dachte Anna. Alle diese geliebten Wesen winkten ihr zu. Anna hatte sie glücklich gemacht. Als die Tiere in diesem Moment der Erinnerung alle in einer Reihe vor ihr standen und vor Freude zu lachen begannen, obwohl sie das doch gar nicht können, wachte Anna auf. Für einen kurzen Moment war sie eingenickt, hatte aber das Sektglas wie zuvor in der Hand. Das Prickeln im Glas hatte nachgelassen.

Wieder eine Metapher!?

War es nicht auch in ihrer Beziehung zu Marinus so, dass das Prickeln mit den Jahren allmählich nachgelassen hatte?

Anna war Realistin. Es war so. Sie machte sich da nichts vor.

Aber gab es irgendetwas, das sich im Laufe der Zeit nicht verändert hatte?

Nun, vielleicht war es ihre Liebe, die vom Herzen kommende Liebe.

An den Fortbestand dieser Herzensliebe hatte sie immer geglaubt und jetzt glaubte sie mehr denn je daran.

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