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Teil 2. Kapitel 2.

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Zuflucht Erde

2.1. Memphis / Nebraska (USA)

Artemis landet an einem See in der Nähe von Memphis / Nebraska. Er fühlt sich sehr schwach, als er auf dem weichen Boden aufschlägt. Für Menschen ist er quasi unsichtbar. Nur ein gallertartiger Klumpen aus Restenergie, mit einer (selbstgebildeten) Außenhaut aus Kobalt, Rhodium und einem Gemisch aus verschiedenem harten und weichen Gestein. Er löst diese Schutzhülle auf, als er den Boden berührt, und nimmt seine ursprüngliche gallertartige Form wieder an, die besser geeignet ist, um mit der Umgebung Kontakt aufzunehmen.

Artemis weiß nicht, dass die anderen überlebenden Cantara den Kampf gegen die Xorx schon lange erfolgreich überstanden haben. Er ist weit weg von seinem Heimatplaneten, und er wird diesen Planeten Erde nutzen, um sich hier neu einzurichten, wenn die Lebensbedingungen das erlauben, und danach sieht es wirklich aus.

Zunächst bleibt Artemis wie betäubt liegen. Er "atmet" Sauerstoff und Stickstoff. Er nimmt Verbindung mit dem Grün der Wiese und den Nährstoffen im Boden auf. Er freut sich, als ein Regenschauer über das Land fegt, und nimmt das Süßwasser in sich auf. Artemis kommt langsam wieder zu Kräften.

Es gibt hier auch Vögel, die versuchen an diesem Gallertklumpen zu picken, aber das lassen sie schnell sein, denn die Stromschläge beim berühren dieser vermeintlichen Nahrung sind äußerst schmerzhaft.

Es gibt hier Felder, es gibt hier Wald und es gibt hier ein stehendes Gewässer. Dort findet Artemis Schwebeteilchen, kleine Krebse, Fliegenlarven, Kalk, Moose und Algen. Die Pflanzen enthalten Säfte und ätherische Stoffe, Chlorophyll und mineralische Substanzen. Nahrung gibt es hier genug, und es gibt auch Sonnenstrahlen, die Energie liefern.

Die nächsten zwei Wochen verbringt er an diesem See. Er staunt über den Wechsel von Tag und Nacht. Das Wissen ist zwar in seinen Erbinformationen enthalten, aber er hat die Dunkelheit der Nacht und die damit einhergehende Temperaturänderung noch nie erlebt. Auch die Taubildung ist ihm fremd, die sich in den frühen Morgenstunden erfrischend über ihn legt.

Es gibt hier ein reichhaltiges Maß an Vegetation und Tieren, und er nimmt Verbindung dazu auf. Er erkundet diesen Mikrokosmos und entwickelt langsam ein Gefühl für diese fruchtbare Erde unter ihm, für Spurenelemente, für Käfer und für pflanzliche Lebewesen und ihre Art der Kommunikation. Immerhin ist hier alles neu, denn sein historisches Gedächtnis erzählt ihm von ganz anderen Tieren und einer ganz anderen Vegetation.

Er ist jetzt hier auf der Erde angekommen, und er wird das Beste aus der Situation machen. Vielleicht bietet sich die Möglichkeit, in einigen hundert oder auch tausend Jahren zu seinem eigenen Planeten zurückzukehren, wenn davon überhaupt noch etwas übrig ist. Er, oder einer seiner Nachkommen, die er problemlos durch Zellteilung abspalten kann, wenn er wieder zu Kräften gekommen ist. Bei seiner Gattung ist das eben anders, als bei anderen hochentwickelten Lebewesen. In seiner Gattung gibt keinen Mann und keine Frau. Jeder Cantara ist ein gleichgeschlechtliches Wesen, das sich jederzeit vermehren kann, wenn dies als notwendig erachtet wird. Daran ist im Moment aber nicht zu denken.

Erst nach zwei Wochen macht er sich auf den Weg, um andere Lebensformen kennenzulernen. Er ist vorsichtig. Er verwandelt sich wieder in eine Wolke aus Gasen und Wasser und läßt sich mit dem Wind treiben.

Er sieht auf seinem Weg seltsame Gefährte. Landmaschinen, Boote, Hubschrauber und Autos, und er nimmt Kontakt zu diesen Stoffen auf. So etwas hat er schließlich noch nie zuvor gesehen, und in seinen Erbinformationen ist so etwas nicht gespeichert. Immerhin begreift er, dass so eine Landmaschine auch ihm gefährlich werden könnte. Ein Pflug würde ihn glatt in viele Teile zerschneiden, wenn er zwischen die Messer gerät. Nun ja, nicht in seiner jetzigen gasförmigen Gestalt, aber als gallertartiger Klumpen, der seine Urform ist.

Er besucht die Stadt Memphis, manchmal gasförmig, manchmal dockt er sich irgendwo an, unsichtbar für die Bewohner dieses Planeten, und er staunt. Was er sieht, ist mit seinen Erbinformationen nicht vereinbar. Er sieht zum ersten Mal Menschen, die sich völlig von dem unterscheiden, was er als Urform dieser Spezies gespeichert hat. Er sieht zum erstenmal ein Imbissrestaurant und er schlüpft hinein.

Er nimmt Kontakt auf zu den Spezies, die er hier vorfindet. Menschen, Tiere, Insekten. Er probiert die Speisen, die es hier gibt, und die Bedienung wundert sich, weil sie den Tresen mit einem vollen Teller verläßt, und plötzlich mit einem leeren Teller vor dem Gast steht. Sie bekommt gewaltigen Ärger.

Artemis schaut sich diese Auseinandersetzungen an. So etwas kennt er ja auch nicht. Diese Art von Streit, und er beginnt sich an der Theke zu bedienen. Er sucht Kontakt zur Küche, beginnt von den Fritten und dem heißen Fett zu naschen. Er nimmt Salatblätter und Fleischklopse in sich auf.

Es ist eine fremde Welt, die sich da zeigt, und Artemis sucht den Kontakt zu all diesen Stoffen und den Energieströmen, die zwischen Menschen und Tieren hin- und herlaufen.

Es gibt hier Kakerlaken, Fliegen, Schimmelpilze, vereinzelte Hunde und hunderte mikroskopisch kleiner Erkältungsviren. Es dauerte nicht lange, dann kennt er ihre Sprache und ihre Form der Verständigung, und er wundert sich, warum diese Menschen es nicht schaffen, sich mit den anderen Lebewesen in deren Sprache zu verständigen. Diese Menschen sind äußerst simpel gestrickt, trotz dieser Bauwerke und dieser technischen Hilfsmittel, die sie da entwickelt haben.

Artemis versteht schon bald diese Laute, welche die Menschen verwenden. Er hat zwar keine Ohren, aber empfängt die Atemstöße, die Absonderungen des Schweißes, die Wärmeabstrahlungen und die elektromagnetischen Impulse, die von den Gehirnen und Körpern dieser Menschen ausgehen, und er kann schon bald mühelos verstehen, was sich die Menschen da in ihrer Sprache zuwerfen. Immerhin erkennt er diese Gattung als eine Spezies, die in ihrem Lebensraum eine Führungsposition beansprucht. Nun ja. Es gibt konkurrierende Arten, aber zwischen Insekten, Viren und den Menschen besteht eine Art Symbiose, wie ein Kreislauf des Lebens.

Artemis ist vorsichtig. Er schlüpft zunächst nicht in die Körper der verschiedenen Arten. Er beobachtet nur.

Dieses Lokal ist für Artemis eine reine Fundgrube. Es ist mit einer Tankstelle verbunden, und hier fahren viele Gefährte ein- und aus. Lastwagen, Pickups, Limousinen, Motorräder.

Er hat keine Ahnung, was das bedeutet, aber er lernt sehr schnell. Er kriecht schon bald in die Köpfe dieser Menschen und sieht sich in ihren Gehirnen um. Es ist wie ein Buch. Ein Fundus von Wissen, und Artemis spürt noch andere Dinge auf. Impulse, die Zuneigung, Aufmerksamkeit, Liebe, Gleichgültigkeit, Neugier, Hass, Angst, Neid, oder Gier ausdrücken. Auch das ist ihm fremd, und er nimmt das erstaunt zur Kenntnis.

Da ist noch etwas, das er bereits von den Tieren seiner Heimat kennt. Diese Menschen können Gerüche und Geschmacksrichtungen unterscheiden. Sie verfügen über Tast-Sensoren und ein Sehvermögen. Die Gattung hat Muskeln und ein Skelett. Im Verhältnis zu anderen Spezies ist das Gehirn viel größer ausgebildet, auch wenn das im Vergleich zu den Cantara als sehr gering zu bezeichnen ist. Diese Gattung hat von allem etwas, aber das reicht dieser Spezies offenbar, um einen Anspruch über ihren Herrschaftsanspruch über ihren Planeten zu begründen.

Diese Menschen sind ganz anders als sein Volk der Cantara, das beinahe ausgelöscht worden ist, und auch ganz anders, als alles, was er aus seiner Heimat kennt. Er vergleicht das mit all seinen Erbinformationen, und er kommt zu dem vorläufigen Schluss, dass ihm diese Spezies in ihrer heutigen Entwicklungsstufe nicht gefährlich werden kann.

2.2. Die Reise durch Amerika

Es gibt hier Gefährte, die von den Menschen als Motorhome bezeichnet werden. Fahrende Blechkästen, in denen es nicht nur Möbel gibt in Form von Gestühl, wie bei einem Lastwagen, es gibt dort auch Kühlschränke, Matratzen, einen Kocher und vor allem Nahrung.

Als einer dieser Camper von der Tankstelle auf den Parkplatz fährt, folgt Artemis der kleinen Gruppe aus drei Personen. Er hat schon gelernt, dass es bei den Menschen weibliche und männliche Exemplare gibt. Er sieht ihnen beim Pissen zu. Er beobachtet ihre spezifischen Körpersprache, nein, er nimmt sie amüsiert zur Kenntnis. Es gibt auch Kinder in verschiedenen Größen, manche mit hohen, fast piepsigen Stimmen, manche geradezu kleinwüchsig.

Auch die Kleidung, die sie tragen ist seltsam. Wozu braucht man so etwas? Aber Artemis kriecht in die Körper dieser Menschen und er spürt, dass sie diese Stoffe brauchen, um sich vor Kälte und Hitze zu schützen. Dann gibt es da noch etwas, was er zuerst nicht begreift. Die Kleidung ist ein Signal. Sieh her. Beachte mich. Nimm mich zur Kenntnis. Sei aufmerksam zu mir. Bewundere mich. Ich will mich ver-mehren. Manche drücken noch etwas ganz anderes aus. Ich bin sehr lässig. Ich bin cool. Du kannst mir nichts. Wieder andere explodieren geradezu vor Aggression und Verdrängung. Sie haben eine mächtige Aura um sich gelegt. Er studiert diese Signale aufmerksam. Diese Wesen sondieren auch Körpergerüche ab, welche ähnliche Signale signalisieren, oder sie sprayen sich mit seltsamen Duft- und Lockstoffen ein.

Nun also verfolgt er diese kleine Gruppe aus drei Personen. Sie sprechen anders, als die anderen Menschen hier. Nein, nicht immer, nur dann, wenn sie sich miteinander unterhalten. Sonst sprechen sie die Sprache der Anderen, aber irgendwie ungeübt, und es gelingt ihnen nicht alles so auszudrücken, wie sie es wollen, obwohl sie diese Sprache ziemlich gut beherrschen. Nur die Körpersprache ist dieselbe, und sie kennzeichnet diese Gruppe aus als Menschen, so wie die anderen. Er hat auch schon festgestellt, dass Menschen eine unterschiedliche Hautfarbe haben, und dass dies manchmal eine soziale Rangordnung symbolisiert.

Für Artemis ist das eine neue Information, und nachdem die kleine Gruppe gegessen und sich frisch gemacht hat, folgt er ihnen in dieses Motorhome, das sich kurz darauf in Bewegung setzt.

Artemis hat schon mitbekommen, dass diese kleine Gruppe etwas macht, was sie als Urlaub bezeichnet. Die Eltern des Kindes erfüllten sich einen lang gehegten Traum, einmal quer durch die USA zu reisen. Die Nebenstraße hier hat die Nummer 66, nicht zu verwechseln mit der legendären historischen Route 66, die von Chicago nach Los Angeles verläuft. Sie waren in New York gestartet, waren auf der Interstate 80 quer durch Michigan gefahren, über Cleveland, Chicago und im Süden der großen Seen, die Kanada und die USA voneinader trennen. Sie hatten Omaha passiert und sie sind jetzt auf dem Weg nach Chayenne, Salt Lake City und Sacramento bis zu ihrem Ziel in San Franzisco. Dort werden sie einen Flieger besteigen und zurück nach Deutschland fliegen. Artemis findet das alles sehr spannend.

Er nimmt diese Reise als willkommenes Geschenk, um mehr von diesem Planeten zu lernen. Er dockt sich einfach an diese Stoffe an, die von den Menschen als Kleidung bezeichnet werden. Unsichtbar. Er lebt von den Salzen, die von den Menschen ausgeschieden werden, von Aminosäuren, von ihrer Wärme, von Fett und von in Zellen abgelagertem Wasser, von ihrem Urin, dem Speichel, dem Kot und den Schuppen, die er als abgestorbene Haut identifiziert, von den Gasen, die sie absondern, aber auch von der Umgebungs-Luft. Für Artemis sind das alles nur Zell- und Energieformen, die ihn am Leben erhalten. So etwas wie Ekel ist ihm fremd. Er begreift schnell, dass die Menschen das anders sehen als er, und auch das erstaunt ihn. Die Menschen haben zu ihrer Körperlichkeit und zu ihrer Umgebung eine seltsam gestörte Verbindung. Sie waschen sich mit Seife, um ihren Schweiß loszuwerden. Sie putzen sich die Zähne, um ihren Atem frisch zu machen, sie waschen sich mehrfach am Tag ihre Hände, angeblich, um sie von Schmutz zu befreien, oder beträufeln sich mit Duftstoffen, die sie Parfüm und Rasierwasser nennen.

Manchmal gehen sie in eines der Motels entlang dieser über 5.000 Km langen Fernstraße, nur um ausgiebig warm zu duschen. Sehr oft verlassen sie die Interstate 80, um kleine Orte und Städte, Seen oder Flusslandschaften anzufahren. Mit Hilfe des von ihnen genutzten Navigationsgerätes ist das sehr bequem, und Artemis kann diese elektronische Hilfe schon nach kurzer Zeit entschlüsseln.

Die Eltern des Mädchens machen aber auch etwas, was Artemis als Akt der Fortpflanzung erkennt. Sie tun das nur heimlich, wenn ihre Tochter bereits schläft, und Artemis beobachtet sie dabei. Er kriecht in ihre Köpfe und in ihre Körper und sieht die männlichen Samenzellen, die in die Vagina der Frau gespritzt werden. Er sieht auch, wenn die Frau geschlechtsreif wird, und er sieht, dass sie täglich Pillen schluckt, um die Fruchtbarkeit zu verhindern. So dumm ist das nicht, findet er. Es schützt vor einer ungehemmten Vermehrung. Er versteht anfangs nur nicht, warum sie das heimlich tun. Zellteilung und Zellvermehrung ist doch der normalste Vorgang auf der Welt. So etwas, wie Scham ist ihm fremd.

Artemis begleitet diese Gruppe, bis sie in Frisco ankommen, und dort beschliesst er, ihnen in dieses Flugzeug zu folgen, das sie nach Berlin bringen wird, mit Zwischenlandung in New York und Paris.

Noch etwas ist völlig neu. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind durch etwas gekennzeichnet, das sie Geld nennen. Manchmal sind das Scheine, manchmal Münzen, und manchmal Plastikarten, die sie Credit Card nennen. Artemis kann schnell lesen, was diese Chipkarten gespeichert haben. Es ist ein Leichtes, diese Magnetkarten zu entziffern, und er kann problemlos Kontakt aufnehmen zu Konten und Banken, zu Computern und Sicherungssystemen. Es sind einfach nur Systeme aus zusammengesetzten Nullen und Einsen. Völlig Simpel.

Artemis findet auch schnell heraus, dass diese Familie reichlich von dem besitzt, was hier als Geld bezeichnet wird. Die Eltern des Kindes sind selbständige Broker. Er hört ihre Telefonate mit. Er sieht, was sie auf ihren Laptops eintippen, wenn das Kind schlafen gelegt worden ist. Er kriecht in ihre Köpfe und beobachtet sie bei ihren Geschäften, denn obwohl sie Urlaub machen, können sie nicht von ihren Geschäften lassen, und dann werden große Summen hin- und hergeschoben, von dem, was diese Menschen Geld nennen. Nicht nur das. Aktien, Wertpapiere, Kommissionen, Obligationen, Rohstoff-Optionen. Es gibt einen intensiven Handel mit Gütern, die den Menschen offenbar wertvoll sind. Man kann sie auf dem Rechner nicht sehen, aber Artemis kann die Zahlen sehen, die da hin- und hergeschoben werden, um etwas zu machen, das sie profit nennen.

Artemis kann die Zusammenhänge noch nicht komplett verstehen, aber er lernt.

Er beobachtet die Eltern auch bei ihren Telefonkonferenzen, die sie hin und wieder mit Anlegern führen. Sie investieren nur selten eigenes Geld. Sie verwalten das Geld anderer, um es zu vermehren, wie sie nicht müde werden zu versichern. Für diese Arbeit kassieren sie eine Gebühr, Spesen und einen Bonus. Aber ja, es kommt auch vor, dass sie eigenes Geld investieren. Er beobachtet sie bei ihren Geschäften. Er hört ihre Ratschläge mit, wie Firmengruppen aufgekauft, zerschlagen und in Einzelteilen wieder veräußert werden. Er hört von Optionen auf viele Tonnen von Reis, Mais und Weizen, die es noch gar nicht gibt, aber er begreift schnell, was eine Spekulation ist. Diese Menschen verdienen ihr Geld damit, das vorhandene Geld auf der Welt umzuverteilen, so dass Reiche noch reicher werden. Er hört aber auch von Verlusten. Das scheint so etwas zu sein, das schlimme Schmerzen verursacht.

Die Eltern des Mädchens verstehen sich als ehrenwerte Makler und Händler, die ihre Kunden nicht über den Tisch ziehen. Er hört, dass es Menschen gibt, die das ganz anders sehen. Menschen, die keine Skrupel haben, ihre Kunden finanziell auszunehmen, bis zum Bankrott. Über Zuverlässigkeit von Anlageberatung wird mit den Investoren immer wieder gesprochen, und die Eltern des Mädchens haben sich einen Ruf aufgebaut, die Interessen ihrer Klienten zu schützen. Das ist ihr Kapital, wie sie sagen. Der Vertrauensvorschuss, den man braucht, wenn man Anleger berät, oder ihr Geld verwaltet. Sie scheinen Erfolg damit zu haben, denn während ihrer Tour durch Amerika können Sie nur übers Telefon eine ganze Reihe von neuen Kunden akquirieren. Es gibt da offenbar ein Netz an Informanten und Informationen, das die Reputation dieser Geschäftsleute als zuverlässig und ehrlich am Leben erhält. Er sieht das, wenn er in die Computer kriecht, und Informationen aufruft, die sie Webseiten nennen. Heimlich, und zu Zeiten, in denen diese Menschen schlafen. Er bekommt aber auch mit, dass sie ihre Geschäfte oft am Rande der Legalität abwickeln, was auch immer das heißt.

Artemis beobachtet, aber er urteilt nicht. Diese Menschen sind für Ihn nur Wirte, an die er sich andockt, wie an einen Hund, eine Pflanze, einen Stein oder eine Gaswolke. Er versucht ihre Welt zu verstehen, die sein neuer Lebensraum sein wird. Es gibt Millionen dieser Spezies. Auf eine Million mehr oder weniger kommt es aber nicht an. Artemis greift nicht ein. Nicht in diesem Stadium. Diese Welt bietet ihm Bedingungen zum überleben und durch Zellteilung ein neues Volk zu gründen, und er wird irgendwann dafür Sorge tragen, dass dies auch so geschieht.

Er begreift aber auch, dass dieses Geld, was da hin- und hergeschoben wird, in dieser Gesellschaft eine enorme Bedeutung hat. Es verleiht Macht und Ansehen, nun ja, und auch Annehmlichkeiten, wie Komfort und Luxus. Auch die Eltern des Mädchens sind nicht davon frei. Sie tragen goldene Uhren und wertvollen Schmuck, was sie aber in einem im Wohnmobil eingebauten Safe verstecken, wenn sie sich unter Menschen mischen, die viel weniger besitzen, um keine Begehrlichkeiten zu wecken, oder andere Menschen nicht zu Diebstählen oder Überfällen zu verleiten. Artemis staunt.

Er lernt, dieses Mädchen zu lieben. Es ist das einzige Kind dieses Ehepaars. Katharina ist ein kleiner Wirbelwind. Sie wird von ihren Eltern meist liebevoll Kathy gerufen. Zuweilen sagen sie Katharina, dann spürt Artemis, jetzt ist dicke Luft. Manchmal erfolgt nur eine Ermahnung, die sich in dem einen Wort manifestiert: "Katharina".

Sie ist selbstbewusst, vorlaut, gerissen, aber auch verblüffend offen und herzlich. Sie weiß, wie sie begehrte Streicheleinheiten erhält, oder irgendwelche Dinge, die sie sich in den Kopf gesetzt hat. Sie hat eine eigene Kamera und sie hat einen eigenen Laptop. Sie fotografiert alles und jeden und speichert die Bilder hinterher auf ihrem Rechner ab. Sie hat sogar einen mobilen Drucker in ihrem Mobilhome, und Kathy liebt es, diese Bilder auszudrucken und das ganze Wohnmobil damit zu bekleben, nicht immer zur Freude ihrer Eltern.

Artemis lernt von Kathy vor allem eins. Witz, Esprit, Charme, Phantasie und die Fähigkeit zu Späßen und Albernheiten, bis hin zu Tollkühnheiten. Einiges kannte er bereits aus der Tierwelt seines Planeten, vor allem bei Jungtieren im Welpenalter, aber die sprühende Ideenwelt, die Kathy da umweht, ist für Artemis neu.

Einmal fahren sie durch einen kleinen Ort, wo ein Fest angekündigt ist. Kathy überredet ihre Eltern mit allen Tricks, drei Tage hier in ziemlicher Langeweile auszuharren, nur um dieses Fest zu besuchen. Das Szenarium geht vom anschmiegen, lachen, Geschichten-Erfinden, Spiele-Spielen, dem Wunsch, jetzt unbedingt Skateboard zu fahren, oder einen frischen Erdbeer-Milchshake zu trinken, dem Verstecken des Zündschlüssels, bis zum Vortäuschen einer Übelkeit. Am Ende fügen sich die Eltern, obwohl dieser Stopp so nicht geplant war. Manchmal sehen sie sich an, zwinkern, oder schauen kurz weg, um leise zu lachen. Sie durchschauen dieses Spiel, aber Kathy ist ihr Liebling, ihr Augenstern. Artemis erkennt darin die unendliche Geduld, Aufopferung und Fürsorge, die er auch von Tiermüttern im Umgang mit ihren Jungtieren kennt. Später wird er lernen müssen, dass nicht alle Eltern so fürsorglich zu ihren Kindern sind.

Artemis sieht bei dem nachfolgenden Event zum ersten Mal Bullenreiten. Er kriecht in diese Tiere, um sie zu spüren. Er sieht ein Riesenrad und er sieht Schaubuden mit Zuckerwatte, Marsh-Mallows und Lose. Es gibt ein Bierzelt und Artemis sieht spät am Abend, was dieses vergorene Getränk mit den Menschen macht. Da hat sich die kleine Familie längst in ihrem Wohnmobil verkrochen, aber Artemis geht noch einmal aus, um die Menschen zu studieren.

Auch wenn Artemis hier viel Herzlichkeit erfährt, was auf dem flachen Land in den USA vielleicht noch typisch ist, so sieht er auch hier soziale Unterschiede. Es gibt Arbeiter und Angestellte, die harsch angeraunzt werden. Es gibt eine Hackordnung, und auch hier bestimmt das Geld eindeutig das Laben der Gemeinschaft.

Sie überqueren auf ihrer Fahrt die Rockys und sie besuchen den Tahoe National Forrest. In Frisco bleiben sie noch zehn Tage, dann geben sie den Camper zurück, und lassen sich mit einem Taxi zum Flughafen bringen. Einen Großteil ihres Gepäcks lassen sie einfach da. "Verschenkt das", sagen sie der freundlichen Dame an der Mietwagenrezeption. Irgendjemand wird sich über Westernhüte, nagelneue Roller Blades, kaum gebrauchte Koffer, Kleidung und Spielzeug freuen. "Kann man alles wiederbeschaffen", erklären die Eltern ihrer Tochter.

Hier in dieser Mietwagen-Filiale beschließt Artemis, sich zu teilen. Er hat in den letzten Wochen genug Kräfte gesammelt, dass er dies jetzt gefahrlos tun kann. Er spaltet zwei Teile ab, die jetzt auch alle Erbinformationen der Cantara in sich tragen, und er gibt ihnen den Rat, dem Fluss des Geldes zu folgen, und immer mit ihm vernetzt zu bleiben, um die Erfahrungen auszutauschen.

Artemis weiß nicht, wie weit dieses Europa entfernt ist. Es wird vielleicht unmöglich sein, sich auf solche Entfernungen mit der Energie der Cantara auf direktem Weg zu verständigen, aber er hat begriffen, dass Computer und Smartphones eine Kommunikation über den gesamten Globus ermöglichen. Er hat seinen Nachkommen diese Fähigkeit mitgegeben, diese technischen Geräte effektiv zu nutzen. Es wird einfach sein, stets miteinander vernetzt zu bleiben.

Die Reise hatte 3 Monate lang gedauert. Artemis ist ungefähr die Hälfte davon mitgefahren. Er hat längst gelernt, dass es auf diesem Planeten eine Zeitrechnung gibt, und dass Tag und Nacht sich abwechseln, anders als bei seinem Heimatplaneten.

Jetzt also sitzt Artemis mit diesen drei Menschen im Flieger nach Berlin. Unerkannt und ohne Ticket. Er ist gespannt auf diesen neuen Erdteil, den die Menschen Europa nennen.

2.3. Folge dem Geld

In den nächsten Wochen wird Artemis viel lernen. Er ist stets vernetzt mit seinen beiden Spähern, die in Frisco geblieben sind.

Sie docken sich einfach an die verschiedenen Menschen an. Sie besuchen Golfplätze, Reitturniere, Tennisplätze, Gestüte, Farmen, um sich mit der Spezies der Wohlhabenden und Reichen vertraut zu machen.

Sie dehnen ihren Radius aus, bis nach Sacramento und ins Silicon Valley und nehmen Kontakt auf zu den Bossen der Hih-Tech-Unternehmen. Sie besuchen Los Angeles, mit den Beverly Hills und den Filmstudios in Hollywood.

Es ist eine regelrechte Parallelwelt, die sie da vorfinden. Eine Welt der Reichen, gewiss, aber auch eine Welt der Snobs, der Macht, der Unterwerfung anderer, der Konkurrenz, und sie lernen wieviel Bedeutung tatsächlich dieses Geld über den Menschen hat. Nicht nur das. Einige dieser Menschen haben die Macht über wesentliche Kommunikationsmittel, die sich wie ein Netz über den Globus spannen.

Eine höchst interessante Erfahrung. Sie kriechen auch in die Großcomputer und beobachten diesen Fluss von ständigen Informationen und Energien.

Sie tauschen sich mit Artemis regelmäßig aus, denn Artemis hat in derselben Zeit ganz andere Erlebnisse, und sie beschließen, sich jetzt in bestimmten Abstännden immer neue Wirte zu suchen, um dieses System noch besser zu verstehen, und vielleicht die Kontrolle darüber zu erhalten.

Sie verstehen aber auch, dass diese Menschen, in deren Köpfe sie da kriechen, nach dem Verständnis der Cantara eine Spezies sind, die man zähmen muss, wenn man auf diesem Globus ein Gleichgewicht der Arten herstellen will, denn das ist eine Aufgabe, die im Erbgut der Cantara verankert ist.

So leicht ist das nicht. Sie sehen in den Computern, dass es diese Spezies auf dem ganzen Globus gibt. Was können drei Überlebende der Cantara da machen?

So gibt Artemis die Losung aus, vorerst weiter zu beobachten, und das Problem, dass sie da sehen langsam, bedächtig und nachhaltig anzugehen. Sie haben ja Zeit. Noch kann ihnen diese Spezies nicht gefährlich werden. Absolute Tarnung und Unsichtbarkeit ist die Vorraussetzung des Überlebens der letzten Überlebenden der Cantara.

2.4. Die neuen Kontakte des Artemis

Zurück zu Artemis, der ganz andere Erfahrungen macht.

In Berlin zieht Artemis mit der Familie in ihr großes Haus ein. Es gibt hier viele Zimmer mit unendlich vielen Dingen, wie Wasserhähne, Betten, eine Waschmaschine oder eine Mikrowelle. Einiges hatte Artemis schon auf der zurückliegenden Reise kennengelernt. Es gibt ein Kindermädchen, was jetzt dafür Sorge trägt, dass Kathy wieder in die Schule geht und den Lernstoff nachholt, den sie versäumt hat. Es gibt sogar einen Chauffeur und einen Gärtner, und er sieht, dass sich die Eltern bald wieder verabschieden. Sie haben einen Job, bei dem Reisen zum Handwerk gehört. New York, Tokio, Frankfurt, London. Überall, wo es große Börsen gibt, an denen das Geld umgesetzt wird, um sich zu vermehren. Dass Geld sich vermehren kann, ist etwas, was Artemis zunächst nicht begriffen hat. Das ist doch nur tote Materie, und manchmal nur ein ideeller Wert. Inzwischen weiß er, dass es sich nur um eine fiktive Vermehrung handelt, und dass diese Vermehrung nichts zu tun hat mit Zellvermehrung, oder auch mit dem, was den Familien zum Leben bleibt. Nun, bei einigen schon, bei den meisten jedoch nicht, aber dies ist Artemis zunächst nicht bewusst. Einige wenige Wochen reichen nicht für den kompletten Durchblick, und es gibt so unendlich viel zu lernen.

Er wird bald mehr wissen von diesem Geld, wenn er die ersten Berichte seiner beiden Späher erhalten wird.

Artemis lernt vor allem, dass Urlaub und Arbeit für die Eltern zwei Lebensbereiche sind, die nicht unbedingt vermischt werden. Sie haben jetzt Aufgaben. Sie wollen neues Geld verdienen. Sie wollen reisen. Sie brauchen die Kontakte, und die Bestätigung, erfolgreich zu sein.

Katharina bleibt alleine Zuhause, in Begleitung des Kindermädchens, das nun die Rolle der Ersatzmutter übernimmt und dem Chauffeur, dessen Aufgabe es ist, Einkäufe zu erledigen und das Kind zur Schule, in den Sport, oder zum Reitunterricht zu fahren.

Nachdem die Eltern abgereist waren, sieht Artemis, dass Kathy wirklich ihren eigenen Kopf hat. Manchmal geht sie zu diesen Reitstunden, manchmal zum Sport, aber nicht immer, dann schwänzt sie diese Stunden. Sie liebt es, mit der U-Bahn zu fahren, und sie hat dort offenbar eine ganze Menge Freunde, die das genauso halten.

Artemis lernt zum ersten mal eine Gang aus Jugendlichen kennen. Er lernt andere Gangs kennen, und er lernt, dass sich diese Gangs untereinander befehden. Es geht manchmal um einen Ehrenkodex, manchmal um Geld und Macht und Imponiergehabe. Manchmal ist das äußerst rigide, über Erpressung bis hin zur nackten Gewalt. Das Geschehen bedroht ihn nicht, er findet das spannend, und er beobachtet das Geschehen, neutral, wie er sein kann, als ein Studierender.

Kathy ist in einer Gruppe, zu der mehr als fünfzig Kinder gehören. Sie sprechen von Haus aus unterschiedliche Sprachen, und sie stammen aus unterschiedlichen Ländern, aber sie benutzen untereinander ein Kauderwelsch, das aus mehreren Sprachen zusammengesetzt ist. Es gibt viele Worte, welche nur diese Kinder benutzen. Andere verstehen den Inhalt jedoch nicht. So können sich die Kids untereinander verständigen, und sie zeigen sich damit zugleich, wir alle sind ein Teil desselben Clans. Einige der Kinder leben vom Diebstahl, aber nicht alle.

Ein Großteil dieser Kinder ist irgendwie nach Deutschland eingewandert. Sie haben ihre Eltern verloren oder verlassen, und sie haben sich zu einer Schutztruppe zusammengeschlossen. Ein Teil der Kinder lebt sogar in den Tunneln der U-Bahn. Sie fühlen sich hier zu Hause, und kennen den Fahrplan in- und auswendig. Sie kennen die Schächte. Sie kennen die Signale. Sie wissen, wann sie Schutz suchen müssen, wenn einer dieser Züge auf sie zurollt, ja, sie haben sogar eine eigene Schule gegründet, weil sie keine Papiere haben, die ihnen den Besuch einer regulären Schule erlauben, die von den Menschen geführt wird, die da oberhalb der U-Bahnröhren leben.

Dank seines Gespürs findet Artemis bald heraus, dass es solche, oder ähnliche Gruppen auch in Paris, London, New York und anderen Städten gibt, aber die Gruppen haben grenzübergreifend keinen Kontakt. Sie agieren nur lokal und regional, völlig unabhängig voneinander.

Katharina ist eines dieser Bandenmitglieder, die den Kontakt nach Aussen herstellen, und welche die Gruppe immer wieder mit Informationen und Geld versorgen. Sie ist eine sehr geschickte Diebin, und wird von der Bande bevorzugt für heikle Aufgaben eingesetzt, wo es um viel Geld und ein hohes Risiko geht. Artemis staunt. Dieses kleine Mädchen hat ein Doppelleben. Zu Hause mimt sie die brave und fleißige Tochter, aber tatsächlich liebt sie den Nervenkitzel. Sie ist dabei so geschickt, dass sie noch nie erwischt wurde.

Die Gruppe wird von zwei weißen Jugendlichen geführt. Der eine wird Robert gerufen, oder kurz Roy. Er ist ein wahres Multitalent und ein hervorragender Organisator. Auch er hat Witz und die Fähigkeit, viele anstehende Probleme über Lachen und Späße zu lösen. Er ist für die Kids, wie ein Ersatzvater. Manchmal milde, manchmal sehr energisch und bestimmt. Der andere wird Spek genannt. Er heißt eigentlich Winfried Broseke, aber das sagen nur ein oder zwei der Jugendlichen, wenn sie unter sich sind. Spek ist eben Spek, und er hat die Leitung von ein paar Kids, die besonders geschickt sind. Sie trainieren gemeinsam in einer Kampfschule Karate, Taekwondo und Kickboxen, und sie sind in einem Kampf Mann gegen Mann ziemlich gefährlich. Sie sind eine Schutztruppe und sie greifen manchmal ein, um die anderen Kids ihrer Gruppe vor Übergriffen zu bewahren. Sie besorgen aber auch Geld. Illegal erwirtschaftetes Geld, und sie sind richtig gut darin, andere Gangs abzuzocken. Kathy macht bei diesen Touren nur manchmal mit. Sie läßt sich nirgendwo fest verplanen. Sie hat ihren eigenen Kopf, sie ist bereits jetzt eine Art Unterchefin, die andere gut anleiten kann, trotz ihrer jungen Jahre. Sie behält fast stets den Überblick, und sie steht treu auf der Seite ihrer Bandenmitglieder.

Dieser Spek ist eine besondere Hausnummer. Obwohl noch jung an Jahren, ist er der geborene Teamplayer. Er kann ruhig sein und zuhören. Er kann vor Wut explodieren. Er führt eine Art Regime, und er ist der ungekrönte König in seinem Bereich der Aktivitäten. Seine Truppe kann sich aber auch hundertprozentig auf ihren Anführer verlassen. Er steht zu ihnen. Er haut sie heraus, wenn es notwendig ist. Er kann aber auch regelrecht brutal werden, wenn es darum geht, sich gegenüber anderen Gangs durchzusetzen. Dabei ist Spek äußerst erfindungsreich in der Auswahl seiner Methoden und Mittel. Er ist schwer durchschaubar, und man muss immer mit ihm rechnen. Spek könnte eine große Karriere als Mafiaboss vor sich haben, aber er sieht seine Aufgabe im Schutz von Schwachen. Dabei kann Spek sehr kooperativ sein. Er teilt sich mit Roy die Aufgaben, und sie reden sich nicht gegenseitig hinein.

All das ist für Artemis neu und aufregend. Auch das ist eine Parallelgesellschaft, die er bisher nicht kannte.

Er lebt eine Weile unerkannt bei diesen Kindern. Manchmal im Tunnel, manchmal oberirdisch. Er erlebt Konflikte. Er erlebt Schiebereien. Er erlebt Diebstähle und Messerstechereien. Er erfährt, was ein Überlebenskampf bedeutet, der aus Nahrung, Kleidung, Zuneigung und gegenseitigem Schutz besteht, und auch etwas, was als Bildung oder Wissen bezeichnet wird. Er sieht aber auch, was Armut heißt. Er lernt den Begriff der Freundschaft kennen, und so etwas wie einen geheimen Code. Roy sagt dazu Aufgabe, oder auch ethische Verpflichtung. "wir haben eine Aufgabe...", sagt er dann, denn das sind nicht nur kriminelle Kids. Sie besitzen einen strengen Ehrenkodex. Sie haben sich verpflichtet, sich gegenseitig zu schützen, um gemeinsam zu überleben, und zugleich, um ausgewählten anderen Kids Schutz zu bieten, die auch am Ende der Armutsskala stehen.

Sie haben Kontakt zu anderen Kindern und Jugendlichen, die irgendwo in Berlin leben, zusammen mit ihren Eltern, und die in normale Schulen gehen. Öffentlich und ganz legal. Einige dieser Kinder werden von ihnen sogar unterstützt. Dann, wenn es Auseinandersetzungen mit anderen Kids gibt, so dass sie Hilfe brauchen, dann, wenn sie ihre Chancen, oder etwas, was Roy den Lebenstraum nennt, ohne die Gruppe nicht hätten ergreifen können. Eines dieser Kinder ist Beatrice, oder kurz Bea genannt. Bea galt bereits in jungen Jahren als Wunderkind. Schauen wir deshalb ein paar Jahre zurück.

Bea war schon im Kindergarten aufgefallen durch ihre melodische Stimme und ihr gutes Gehör. Irgendwann hatte sie mit ihrer Mutter vor einem Musikladen gestanden. Sie hatte all die Instrumente betrachtet. Sie hatte viele Fragen. Dann war der Inhaber aus dem Laden gekommen, um eine Zigarette zu rauchen, und als er Bea so stehen sah, fragte er sie, ob sie nicht mal reinkommen wolle. Bea hatte die Instrumente betrachtet und vorsichtig über die Saiten gestrichen. Der Verkäufer hatte die glänzenden Augen gesehen, und hatte ein Etui mit einer 1/16 Zoll Geige geöffnet, sie gestimmt und ihr erklärt, wie man die Geige hält. Bea war damals gerademal vier Jahre alt gewesen. Sie hatte ihre Eltern überredet, ihr diese Geige zu Weihnachten zu schenken. Sie war gebraucht, und kostete damals 200 Mark. Viel Geld für eine Vierjährige. Viel Geld für die Eltern, die sich finanziell gerade so über Wasser halten konnten.

Die Großeltern steuerten einen Teil dazu bei, und nun zeigte die vierjährige ein erstaunliches Talent. Sie sang immer, wenn sie ihr Instrument versuchte zu spielen, und es gelang ihr schon bald, die anfangs nur quitschenden Töne des Instruments zu verwandeln. Sie nahm die Mutter manchmal an die Hand und besuchte den Ladeninhaber. Sie überredete ihn, ihr ein paar Handgriffe und Techniken zu zeigen. Innerhalb von nur einem Jahr konnte sie einfache Kinderlieder spielen, und als es im Kindergarten ein Adventskonzert geben sollte, bat sie darum, die Kinder auf der Geige zu begleiten. Das war der Tag, wo sie vielen Eltern als ein Talent auffiel, das man fördern müsse. Die Eltern von Bea hatten gleichwohl kein Geld für eine Musikschule, und deshalb sprach die Kindergärtnerin mit den anderen Eltern, ob sie ein paar Mark in einen Fonds zahlen wollten, so dass Bea ab und zu eine Übungsstunde bekommt. Das war nicht nötig, weil eine der Mütter selbst Geige spielte, und sich anbot, Bea zu unterrichten. Bea machte schnell Fortschritte, die Geige wurde ausgetauscht gegen eine 1/10 Geige und als sie in die Grundschule kam, wurde

Artemis lernte Bea kennen, da war sie sieben. Sie spielte inzwischen auf einer 1/4 Geige, und spielte inzwischen mit ihre Lehrerin Duette. Sie würde ihre Lehrerin wohl bald an Können überflügeln.

Inzwischen hatte Bea auch die Kids im Untergrund kennengelernt. Es war auf einem der U-Bahnsteige. Sie kam gerade vom Geigenunterricht. Ein Paar Kinder pöbelten sie an und versuchten ihr die Geige zu entreißen. Katharina stand ein Stück weiter, zusammen mit drei ihrer Freunde. Sie sah das, und griff spontan ein, um Bea zu schützen. Das war der Beginn ihrer Freundschaft.

Artemis besucht diese Bea. Er wohnt ihrem Unterricht bei, und er nimmt diese Schwingungen in sich auf, die von dieser Musik erzeugt werden. Er kennt Schwingungen, die von Wind, Regen, dem Rascheln der Blätter, den Rufen von Tieren oder den Flügelschlägen der Vögel entstammen. Er hat auf seiner Reise quer durch die USA Musik gehört, die aus dem Radio kam. Er hat Musikgruppen mit ihren Instrumenten gesehen. Hillbilly, Gospel, Hiphop, Country und Western, aber diese Musik von Conny ist einzigartig. Diese Schwingungen sind einzigartig. Artemis ist sich sofort darüber im Klaren, dass man dieses Talent fördern muss.

Diese Bea ist ein ernstes Kind, aber sie ist mit einer Begeisterung für ihre Musik gesegnet, die Artemis tief beeindruckt. Das ist wahre Hingabe, wahre Liebe zu einer Ausdrucksform, die andere Menschen in gewaltige Schwingungen versetzen kann. Kurz: Bea geht ganz in ihrer Musik auf, aber sie vernachlässigt auch nie ihre neuen Freunde in ihrer Kindergruppe. Mit Katharina verbindet sie inzwischen ein enges Band.

Katharina bittet ihre Eltern, eine Patenschaft zu übernehmen, um Bea den Unterricht an einer richtigen Musikschule zu finanzieren. Sie würde im Gegenzug gerne auf die Tennisstunden verzichten. Das wäre sowieso nicht ihr Ding. Das Reiten wollte sie indes nicht aufgeben, und sie dürften immer gratis in eines der Konzerte gehen, das Bea in Zukunft geben würde.

So kam es, dass Bea in der anerkannten Schule einer Berliner Musikerin unterkam, die früher selbst die erste Geige bei den Berliner Philharmonikern spielte, bis durch einen Unfall der rechte Arm und die Schulter mehrfach gebrochen wurden, so dass sie damit aufhören musste.

Dann gibt es noch einen Jungen, der heißt Leon Mendez. Er hat einen spanischen Vater und eine dänische Mutter. Sie leben in Berlin, und auch Leon hat sich dieser Gruppe angeschlossen. Er ist ein äußerst interessantes Kind, aus der Sicht von Artemis. Ähnlich wie Katharina, ist Leon hellwach. Er spricht das Deutsch fließend, aber er kennt auch die Grundzüge in Spanisch und Dänisch. Das hat er von seinen Eltern gelernt. Er hat auch gelernt, sich schon in jungen Jahren selbstständig durch die Röhren der U-Bahn zu bewegen. Zunächst nur in den Zügen und auf den Bahnhöfen, später, nachdem er Roy und Kathy kennengelernt hat, auch zu Fuß, durch die Röhren und seitlich davon abgehende Schächte. Er schafft es immer wieder, von Zuhause auszubüchsen, und weil beide Eltern arbeiten, ist er an den Nachmittagen unbeaufsichtigt, so dass er seinem Hobby unkontrolliert frönen kann. Er hat schon früh im Umgang mit anderen Gangs gelernt, dass man sich schützen muss. Er hat sich eine richtige Truppe aus guten Freunden zugelegt, die oberhalb der U-Bahnwelt kaum einen Schritt alleine machen, zum eigenen Schutz, und er hatte irgendwann auch diese Gruppe der U-Bahnkids um Roy kennengelernt.

Obwohl alle diese Kids der Bande ungewöhnlich sind, erlebt Artemis, dass einige dieser Kids als Alphatiere geboren wurden. Roy, Spek, Kathy, Bea und Leon sind eindeutig Menschen, die durch ihren genetischen Code bereits auserwählt sind, um andere Menschen zu führen, und in ihrem Leben etwas Großartiges zu leisten.

Artemis schlüpft manchmal in die Köpfe von Roy und Spek. Er hat inzwischen ständigen Kontakt zu Bea und Kathy. Er begleitet Leon ein paar Wochen lang, und dann fällt er einen Entschluss.

2.5. Der neue Wirt

Artemis könnte so weiter leben, wie bisher. Unerkannt und unsichtbar, und er wird irgendwann sterben. Er hat zwar noch einige Jahrhunderte vor sich, aber insgesamt ist seine Zeit begrenzt.

In diesen Kids sieht er ein Potenzial, dessen er sich bedienen kann. Menschen, denen Freundschaft über alles geht. Menschen mit Weitblick und sozialer Verantwortung. Menschen, die schon jetzt einen Führungsanspruch in sich tragen. Wenn er dieses Potenzial unter seine Kontrolle bringt, dann hat Artemis vielleicht die Chance auf diesem Planeten etwas zu bewegen. Nicht sofort, aber Artemis hat ja Zeit.

Er weiß inzwischen auch, dass dieses Geld die Welt und das Denken der meisten Menschen beherrscht. In diesen Kids sieht er etwas anderes. Die Bereitschaft, zu teilen. Artemis weiß inzwischen aber auch, dass zu den Aufgaben, die sich gerade in seinem Kopf entwickeln gehört, über notwendige Geldmittel zu verfügen, um auf dieser Welt etwas zu bewegen.

Es ist ein Wagnis. Ein Neuanfang. Er wird dafür Sorge tragen, dass diese Menschen ihren Wurzeln treu bleiben. Auch das wird vielleicht nicht ganz einfach, aber Artemis ist zuversichtlich.

Artemis kann durch Zellteilung neue Nachkommen zeugen, jetzt, wo er wieder bei Kräften ist, und er wird dies wohl bald wieder tun, aber er braucht so etwas, wie einen sicheren Ausgangsort, wie eine Heimat, oder wie einen Wohnort, von dem er aus sicher operieren kann. Er beschließt, in den Kopf und in den Körper dieses Jungen einzuziehen, der Leon Mendez genannt wird. Er könnte im Wald leben, oder irgendwo auf den Plantagen, die von den Menschen angebaut werden, er könnte in Viren schlüpfen, oder in die Körper von Fliegen, aber er sucht die Nähe dieser Spezies, die versucht, sich den Planeten untertan zu machen. Das gelingt ihnen nur partiell. Sie haben zwar Mittel gegen Insekten, Bakterien und Viren entwickelt, aber gegen diese winzig kleinen Lebewesen sind sie letztlich machtlos. Artemis hat das bereits festgestellt. Gegen die Quadrilliarden Insekten ist kein Kraut gewachsen, und die Viren verändern sich schneller, als die Menschen Immunstoffe entwickeln können. Insekten und Viren und Insekten leben aber auch von den Menschen. Es ist ein Kreislauf. Die Menschen verstehen diese gegenseitige Abhängigkeit nur nicht. Nun ja, einzelne schon, die sich mit dem Immunsystem der Menschen oder mit Virologie beschäftigen.

Dennoch hat es diese Spezies geschafft, die Welt gewaltig zu verändern. Das hat Artemis begriffen. Sie sind zu einer Gefahr für das Leben auf dem Planeten in der jetzigen Form geworden.

Einer der Gründe für die Wahl von Leon ist, dass dieser Leon zu seinen Freunden eine besondere Beziehung pflegt, die von gegenseitiger Rücksicht und Achtung geprägt wird. Er ist kein Schläger. Er stiehlt nicht ungehemmt, und nur, um die anderen Kinder zu unterstützen. Er ist hilfsbereit, direkt und offen, auch wenn er seinen Eltern nicht ehrlich sagt, was er an diesen Nachmittagen treibt, wenn er unbeaufsichtigt ist, und Leon hat immer warme Hände, die Wohlgefühl vermitteln, wenn sie dich berühren. Außerdem ist Leon jung und formbar, und er verfügt über die Fähigkeit sich in Sprache auszudrücken. Artemis hat schon mitbekommen, dass die Sprache bei Kindern im allgemeinen unfertig ist, aber das stört ihn nicht. Er wird schon dafür sorgen, dass dieser Junge schnell lernt. Vor allem, dass er lernt, den Maximen der Cantara zu folgen.

Also zieht Artemis eines Nachmittags in den Körper von Leon, und er macht sich dort breit. Für Artemis ist dies zunächst ein Experiment. Er kann jederzeit aus diesem Körper wieder ausziehen, aber er kann diesem Jungen auch einen Teil seiner Kraft geben, um ihn in seinem Sinn zu beeinflussen und zu steuern. Er kann die Augen, Ohren, Geschmacksnerven, den Tastsinn, und die verbale Sprache des Jungen nutzen, um noch viel mehr von der Welt zu erfahren.

Er hat diesen Jungen bewusst ausgewählt. Er hätte auch in die Köpfe von Kathys Eltern einziehen können, oder in einen ihrer Geschäftspartner, in den Gärtner, in den Körper von Kathy, Bea, Roy, oder in einen x-beliebigen Politiker oder Wirtschaftslenker, aber nein, dieser Junge scheint ideal und Artemis hat Zeit. Er kann seinen Wirt auch jederzeit verlassen, und einen neuen wählen, wenn er nur will.

Für Leon wird diese überraschende Symbiose zu einem Energieschub. Er beginnt besser zu sehen, zu hören und zu riechen. Er entwickelt eine enorme Reaktionsschnelligkeit, ein gewaltiges Organisationstalent und ein Gespür für alles, was ihn umgibt. Er nimmt Kontakt zu Ratten, Mäusen und Vögeln auf und beginnt mit ihnen zu sprechen. Er knüpft Kontakte zu einigen wenigen Fledermauskolonien, die sich in einigen Schächten der U-Bahn niedergelassen haben, und er wird in der Schule so gut, dass die dort gestellten Aufgaben locker und leicht erledigt. Er könnte ohne weiteres ein Schuljahr überspringen, aber er hat an den Nachmittagen so viele selbstgestellte Aufgaben, dass er seine Energie in der Schule darauf beschränkt, dass hier zwischen den verschiedenen Interessengruppen Frieden herrscht. Leon entwickelt sich zu einem genialen Mediator, zu einem Strippenzieher, der Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen steuert, oder auch ausschaltet, weil er seinen Frieden haben will. Er kann diese Gruppen schon bald aufeinander hetzen, wenn ihm das dient. Er lernt vor allem, die Sprache so zu benutzen, dass er andere Menschen in seinem Sinn beeinflussen kann.

Artemis beobachtet das ganze Geschehen, und die Entwicklung dieses Jungen, und er lächelt. Dieser Junge ist für ihn wie ein Quell neuen Wissens. Was er sieht, das gefällt ihm.

Leon entwickelt Qualitäten, die ihm helfen, seine Aufgaben besser zu bewältigen. Er versteht Tiere nicht nur, sondern er lernt, sich mit ihnen in ihrer Sprache zu unterhalten, egal ob Libelle, Biene, Vogel oder Hund. Das geht soweit, dass Leon lernt, sich in Tiere zu verwandeln, zu denen er einmal Kontakt aufgebaut hat. Eine Fähigkeit, die Artemis diesem Jungen aber erst nach vielen Jahren gestattet, in denen sich dieser Junge bewähren muss. Leon lernt aber sehr schnell eine Sprache, von der er nie zuvor gehört hat. Ein seltsames Gemisch von Lauten und Elektroimpulsen, das ihm erlaubt, Kontakt zu anderen Kulturen aufzunehmen. Dieses Gemisch ermöglicht ihm, fremde Sprachen im Handumdrehen zu erlernen. Leon sieht auch die Ströme von Energie, die er aussendet, wenn er diese Laute anstimmt. Als Drittes erhält er ein unglaubliches Gespür für die Empfindungen von Menschen, deren geheime Wünsche und Gedanken. All das geschieht nicht sofort, sondern das ist ein langsamer und zäher Prozess. Die zuletzt genannte Eigenschaft ist es vor allem, die aus Leon später einen genialen Scout machen wird. Schließlich lernt er, den Raum zu überwinden. Es ist nicht so, dass er wie bei einem GPS eine bestimmte Strasse in New York oder in Singapur eingeben kann, und dann automatisch dorthin geführt wird. Er muss den Ort schon kennen, dann öffnet sich vor ihm ein Tunnel, durch den er rasend schnell fliegt, bis er dort ist, wo er hin will. Er löst sich bei dieser Fahrt in seine Atome auf, angetrieben nur durch die Energie, die Artemis dem Jungen zur Verfügung stellt.

Diese Eigenschaften entwickeln sich Stück für Stück, damit Leon sie mit Bedacht anwendet, ohne sie zu missbrauchen. Ein Teil dieser Fähigkeiten ist in dem Jungen bereits verankert, ein Teil liefert Artemis dazu. Er hat erkannt, dass er dieser Spezies seine gewaltigen Kräfte nicht unbegrenzt zur Verfügung stellen darf, weil diese Menschen in ihrer Art unvollkommen sind. Macht verführt dazu, solche Kräfte ungehemmt anzuwenden und zu missbrauchen. Das ist das Letzte, was Artemis im Sinn hat. Er will diesen Menschen in seinem Sinn beeinflussen, so dass er sich der Philosophie der Cantara unterordnet. Dieser Junge soll ein Wächter des Lebens werden.

Da ist noch etwas, was Leon zunächst nicht versteht, aber es ist von Anfang an da. Wenn er nicht weiter weiß, dann tut sich vor ihm eine Art Tunnel auf, in den er hineinschlüpfen kann, wie in die Röhren der U-Bahn. Er findet dort eine Stimme, die mit ihm spricht, ihm Mut zuredet oder ihm Lösungen vorschlägt. Diese Stimme spricht in diesem Kauderwelsch aus Lauten, das nicht menschlicher Natur ist, und das aus nichts anderem besteht als reiner Energie.

Früher hat Leon noch nie etwas von solchen Kräften gespürt. Sie sind ganz plötzlich über ihn gekommen, wie ein unerwartetes Geschenk, das man auspackt, um es dann sorgsam und für immer in Besitz zu nehmen. Stück für Stück, aber auch seine Gedächtnisleistung ist enorm angestiegen. Er kann sich problemlos Ereignisse, Details, Gesichter und Zahlen merken. Er entwickelt ein ungeheures Gespür für die Analyse von Situationen und die Fähigkeiten von einzelnen Personen.

Artemis hat ihm nur einen Bruchteil seiner eigenen Kraft zur Verfügung gestellt, aber der Junge nutzt diese Energie sehr effektiv. Es gelingt ihm, Teile seines Gehirns zu aktivieren, die zuvor völlig brach gelegen haben. Viel mehr muss zunächst nicht sein, findet Artemis, und er hat immer die Kontrolle darüber, was der Junge tut. Er ist es, der Leon erlaubt, seine Fähigkeiten zu erweitern und auf der Leiter der Möglichkeiten einige Stufen hinaufzuklettern.

Leon befreundet sich eng mit Roy, Kathy und Bea. Er lernt Spek kennen und begleitet ihn hin und wieder auf seinen Raubzügen. Er lernt sich im Gewühl der Menschen so unscheinbar zu machen, dass er anderen Menschen unauffällig folgen kann, um sie zu beschatten.

Artemis hilft Leon bei all diesen Tätigkeiten. Er ist sich sicher, dass aus diesem Jungen einmal etwas Großes werden wird. Auch für Artemis ist diese Symbiose von Vorteil. Er bedient sich der Sinne dieses jungen Leon. Artemis lernt unter anderem Freude, Angst, Gleichgültigkeit oder Anspannung zu fühlen. Eine höchst interessante Erfahrung. Er nimmt diese Impulse in sein historisches Gedächtnis auf, und wird sie an seine Nachkommen weitergeben.

Leon wiederum erlernt die Fähigkeit, Talente aufzuspüren, und ihnen in ihrer Entwicklung zu helfen. Mit elf Jahren ist Leon bereits ein geschickter Drahtzieher, der viele Fäden in seiner Hand vereint. Wir Menschen sagen dazu ein Wunderkind, das die Facetten der sozialen Interaktion und der Fähigkeit, sich verständlich auszudrücken, spielend beherrscht.

Weil dieser Junge Artemis zu so vielen Erkenntnissen verhilft, beschließt Artemis sich erneut zu teilen, und seine Nachkommen in die Kopfe von Bea, Roy, Spek und Kathy zu schicken, damit sie dort beobachten, und diesen Menschen helfen, ihre menschlichen Fähigkeiten weiter zu entwickeln, als sie das aus eigener Kraft tun können. Artemis kann ihnen jederzeit weitere Kräfte zur Verfügung stellen, wenn er nur will.

Die Kinder dieser Menschen werden Mutanten sein, und Kräfte in sich tragen, die größer sind, als bei normalen Menschen. Sie werden vor allem lernen, den Codex von Artemis' Volk zu übernehmen.

2.6. Reisen mit dem Wirt und weitere Zellteilungen

2.6.1. Leon verbirgt die Freundschaft zu Bea und Katharina Zuhause nicht. Bea, Katharina und seine Freunde aus seiner Kindergartenzeit sind oft bei ihm Zuhause. Das bringt ihm viele Vorteile. Bea bringt auch manchmal ihre Geige mit, und spielt den Freunden vor. So kann Leon leicht erklären, was er an den Nachmittagen und den Wochenenden so treibt. Über Roy, Spek und die Kids im Berliner Untergrund spricht er allerdings nicht. Die Eltern müssen nicht alles wissen. Der Vater ist Lehrer für spanisch und französisch an einer Berliner Eliteschule für Kinder von Diplomaten. Die Mutter ist Dozentin für Anthropologie an der Universität. Sie unterstützen das, was sie glauben, was Leon da treibt. Sie erkennen schnell, dass er ein besonderes Gespür dafür hat, Bea bei ihrer jugendlichen Karriere zu fördern, und sie wissen, dass er in seiner Schule als eine Art Genie gilt, der locker eine Klasse überspringen könnte. Es macht sie stolz. Die Zensuren freuen sie, und die Lehrer sind hochzufrieden, weil dieser Schüler ein echter Teamplayer ist, der Konflikte in der Klasse spielend in eine sachliche Streitkultur verwandeln kann. Sie denken, dass dies ihre Gene sind. Alle Eltern sind stolz, wenn sich das eigene Kind prächtig entwickelt. Sie bekommen auch mit, dass Kathy und Leon zusammen kommen, als sie 14 sind, und auch das finden sie gut. Vielleicht ein bisschen früh, aber so ist das in dieser die Zeit, in der sie leben. Sie wissen natürlich von Kathys Eltern. Gegen wohlhabende Eltern ist nichts einzuwenden. Irgendwie passen Leons Freunde wirklich gut zusammen, jedenfalls die, von denen Leons Eltern wissen. Es ist eine gute Truppe, und Freundschaft muss man unterstützen, wenn das die richtigen Freunde sind. Daran haben die Eltern keinen Zweifel.

Während Kathy, Roy und Spek ihrem Berlin und ihrer Gruppe aus Kindern und Jugendlichen regional verbunden sind, macht Beatrice schnell Karriere. Bea gibt Konzerte in Berlin, Dresden, München und Wiesbaden. Sie gewinnt Nachwuchswettbewerbe und wird von den Berliner Philharmonikern gefördert. Für Bea ist das ein Sprungbrett für eine internationale Karriere. Das erste Konzert hat sie zusammen mit den Berliner Philharmonikern in der Karnegie Hall in London. Später folgen Paris, Mailand, Barcelona, New York, Mexiko City und Tokio. Sie fliegt nach Peking, und Sydney. Sie hat Bewunderer ihrer Kunst in Moskau, Kapstadt und San Franzisko.

Leons Eltern genehmigen, dass Leon seine Freundin Bea in den Ferien zu ihren Auslandsreisen begleitet. Bea zahlt. Leon, der seinen Freunden mittlerweile als genialer Scout zählt, reist mit Bea zu vielen ihrer Auftritte.

Ein Schlüsselerlebnis für Bea und Leon ist, als sie in den Sommerferien zusammen nach China und in die Mongolei fahren. Sie sind gerademal sechzehn. Für Leon öffnet sich eine Art kulturelles Zeitfenster, und er wieder Zuhause ist, beginnt er im Internet zu recherchieren.

Zwei Jahre später hat Bea ihr Abitur in der Tasche. Bea hat eine Reihe von Auftritten in Süd- und Mittelamerika, und Leon begleitet sie in den Sommerferien auf ihrer Konzertreise. In Chile, Bolivien und Peru spüren die Beiden in einer Musikpause das auf, was Leon als die "Seele der Musik" bezeichnet. Manchmal sagt er auch "das Geheimnis der Musik" dazu. Es ist eine Mischung aus nativen traditionellen südamerikanischen Klängen, der europäischen höfischen Musik der Gotik, der Renaissance, des Barock und der Romantik, und ihrer einmaligen Technik und dem Klang ihrer Geige.

Leon und Bea entdecken diese Klänge im Bergland von Bolivien und Peru. Bea spielt vor Flamingos, Andenkamelen, Käfern, Gräsern oder Schneefeldern. Sie lernt, die Oberfläche von Seen in Kräuselbewegungen zu versetzen, oder Gräser in Wellenbewegungen, wie sie sonst nur der Wind erzeugt. Bea lernt sogar, mit ihrer Musik Lawinen auszulösen oder wilde Tiere zu zähmen.

Sie spielt vor Hochzeitern und auf Karnevalsfeiern. Sie entdeckt einen Panflötenspieler, den sie sofort verpflichtet, um mit ihm zusammen die Musik der Anden einzufangen. Sie nimmt ihn einfach mit zu ihren nächsten Konzerten in Santiago de Chile, Buenos Aires und Montevideo, und überredet ihre Konzertagentur, dort Zusatzkonzert-Termine zu buchen für diese neue Synthese zwischen den nativen indianischen Volksweisen und Beas europäischem Musikverständnis. Bea und Armando rufen in Süd- und Mittelamerika wahre Begeisterungsstürme hervor. Die Welle schwappt schon sehr bald auf die USA, Europa und Asien über.

Bea besitzt inzwischen mehrere Meistergeigen. Eine davon bezeichnet sie als ihre "Zaubergeige", weil sie in ihren Händen Klänge erzeugen kann, die weit über das sonstige Repertoire einer Geige hinausgehen. Bea kann damit Stimmungen erzeugen, die Menschen in einen Taumel versetzen. Glücksgefühle, tiefe Trauer, Andacht oder explosive Wut. Bea ist mit dieser Geige wie eine Zauberin, welche die Gefühle der Menschen lenkt und sie tausendfach verstärkt. Es ist ihre bevorzugte Geige für diese neue Art der Musik.

Leon begleitet Bea allerdings nicht über die ganze Tour. Nach den Auftritten in Buenos Aires und Rio verlässt er Bea und kehrt nach Peru zurück. Eine innere Stimme sagt ihm, dass er sich der Geschichte von Peru widmen müsse, die als Wiege der Hochkulturen der südamerikanischen Indianer gilt.

Er besucht diverse Museen. Er besucht Maccu Piccu, die Felsenburg der Inkas in 2.350 Metern Höhe, und die alte Inkahochburg Cusco, die unter den Inka-Herrschern zuletzt eine Ausdehnung von 50 Hektar hatte.

Artemis begreift, dass hier eine der Wiegen der Menschheit steht, und dass in Peru noch viel mehr zu finden sein muss, verborgen unter Bergen von Erde und dichtem Urwald.

Und jetzt spürt Leon mit der Hilfe von Artemis Dinge auf, die sein ganzes Leben und seine Zukunft prägen werden. Leon entdeckt die Überbleibsel einer antiken Königsstadt von der Kultur der Peruche, von der bisher noch nie jemand gehört hat, und er entdeckt mehrere Goldminen.

Er weiß nicht, dass Artemis ihm diese Funde erst ermöglicht hat, Artemis, der glaubt, die Zeit sei reif, diesem Jungen und seinen Freunden jetzt einen Grundstock an Vermögen zur Verfügung zu stellen, um ihren Anspruch auf Durchsetzung der Maxime der Cantara zum Erfolg zu verhelfen.

Die Ausbeute aus der Ersten seiner Goldminen bringt Leon in das Vermögen seiner Freunde in Berlin ein, und mit diesem Geld gründet er zusammen mit seinen Freunden fernmündlich eine "interkulturelle Stiftung für Kultur und Kommunikation". Diese Stiftung wird in Peru schon bald eine besondere Rolle spielen.

Leon lernt aber auch, ganz in der Natur aufzugehen. Er lernt Tiere kennen, mit denen er sich nie zuvor beschäftigt hat, wie Milben, Tausendfüssler oder Fadenwürmer. Er lernt Heilkräuter kennen, und zwischen den verschiedenen Kartoffelsorten der Anden zu unterscheiden. Seltsamerweise wird Leon nie krank, obwohl es hier tausenderlei Gefahren gibt. Er sammelt Beeren und Blüten. Artemis zeigt ihm, welche Blätter, Rinden oder Früchte er essen muss, um Abwehrstoffe zu entwickeln und sein Immunsystem zu stärken. Er lernt die indianische Sprache, und er perfektioniert das Spanisch, das er von seinem Vater gelernt hat.

Artemis tut in Südamerika noch viel mehr, aber davon weiß Leon nichts. Er löst sich manchmal von Leon los, um später wieder in ihn hineinzuschlüpfen. Er nimmt Kontakt zu all den Arten auf, die er hier vorfindet. Adler, Kormorane, Fische, Gürteltiere, Insekten. Er lernt ihre Eigenschaften kennen, ihre Art, sich zu vermehren, ihre Schutzmechanismen, aber auch ihre Fressgewohnheiten, ihre Gifte, ihren Geruchssinn, ihre Art der Verständigung durch Farben, Gerüche, Elektroimpulse, Schallwellen. Viele dieser Arten sind dem Menschen weit überlegen, findet Artemis, weil sie einzigartige Fähigkeiten besitzen, oder weil sie besonders anpassungsfähig sind. Andere Arten können nur unter bestimmten Bedingungen leben, die ihnen von Licht, Nahrung, oder der Zusammensetzung von Wasser, Erde und Luft geboten werden. Sie sind hochspezialisiert und gehen ein, wenn sich der Lebensraum nur geringfügig verändert. Innerhalb des Lebensraums hat jede Spezies ihre wichtige Stellung im Ordnungsgefüge. Es ist ein Kreislauf. Eine gegenseitige Abhängigkeit. Das Aussehen, die Größe und die Form der einzelnen Gattungen unterscheiden sich von dem Leben auf dem Planeten Cantara, aber im Grunde ist der Kreislauf der Natur nicht anders als das, was Artemis in seinem historischen Gedächtnis gespeichert hat.

Es ist hier anders, als in den Städten, und an den Tankstellen, die er in den USA kennengelernt hat, oder auch in Berlin, in den U-Bahnschächten und den Wohnsiedlungen, voll von Dingen, die vom Menschen gemacht sind, und voll von Menschen, die dicht gedrängt auf engem Raum zusammenleben. Hier gibt es fast keine Menschen. Der Mensch ist nur ein verschwindend kleiner Baustein im Naturkreislauf. Es ist eine andere Welt. Anders auch als die Naturparks, die Artemis in den Rocky Mountains kennengelernt hat, und die weitgehend durch den Menschen geprägt sind. Das wird Artemis auf dieser Reise bewusst. Es gibt hier einen erhaltenswerten Zustand. Ein Gleichgewicht der Arten. Artemis fühlt sich sehr an seinen Heimatplaneten erinnert, bevor dieser Vernichtungsschlag der Xorx-Krieger alles zerstört hat.

Seine ersten Funde aus der historischen Königsstadt bringt Leon zu den archäologischen Museen in Lima und in La Paz. La Paz deshalb, weil sich die Indios in Bolivien einmal in einem Befreiungskrieg gegen die weißen Herrscher erhoben haben, und in Bolivien am ehesten für eine Unterstützung des indianischen Erbes zu denken ist. Lima deswegen, weil alle Grabungen in Peru von den zuständigen Archäologischen Stellen genehmigt werden müssen. Er entfacht dort einen wahren Begeisterungssturm. Noch nie hat jemand Artefakte aus dieser Zeit gesehen, und vor allem nicht in diesem Erhaltungszustand. Knochen, Zähne, Ziegel mit unbekannten Schriftsymbolen und ein massives Goldgefäß mit Sonnensymbolen, das Zeugnis für eine hochentwickelte Kultur ist.

Während das Alter der Stücke noch genau untersucht wird, ist Leon schon wieder unterwegs. Zunächst noch heimlich, unerkannt und ohne Genehmigung. Diesmal hat er die Hilfe einer jungen Archäologin mit dem Namen Mila, die er in Bolivien kennengelernt hat, und sie lernen auf ihrer Reise einen jungen begabten indianischen Führer kennen, der ihnen hilft, weitere Funde zu sichern. Leon spürt zugleich, dass da noch viel mehr ist. Mauerreste, ein Kanalsystem, Tongefäße, Schmuck, und die Reste antiker Waffen.

Inzwischen ist das Alter der Scherben, der Knochen und des Gefäßes bestimmt, und es ist sicher, dass die Stadt mindestens 3.200 Jahre alt ist. Auch das ist eine Sensation. Bisher galt die Stadt Caral im Westen Perus als älteste antike Stadt, etwa von 2.630 vor Christus, also vor über 4600 Jahren. Sie hatte damals eine Einwohnerzahl von rund 300 Menschen. Die nächstälteste bekannte Kultur war die der Moche, die etwa 800 nach Christus zerfallen war. Es gab eine lange unerforschte Zeitspanne zwischen diesen beiden Kulturen von fast 2000 Jahren. Die ersten Artefakte, die Leon den Archäologen zur Verfügung stellt, die deuten auf eine eigenständige und bedeutende Kultur. Diese Funde sind das lange gesuchte Bindeglied zwischen zwei Hochkulturen der Anden.

Leons zweiter Fund, den er nach seiner Rückkehr nach Lima den dortigen Archäologen präsentiert, ist eine noch größere Sensation. Er bestätigt die ersten Untersuchungsergebnisse, und Artemis hilft Leon dabei, die Regierungen von Bolivien und Peru zu überzeugen, Gelder für eine gemeinsame Ausgrabung zu bewilligen. Ein Vertrag wird aufgesetzt. Bolivien ist bereit, sich finanziell zu beteiligen. Leon hat die Stelle als Vertreter seiner Stiftung gefunden, und er ist erst bereit, die Lage der Fundstelle preiszugeben, wenn ein Vertrag regelt, was mit den möglicherweise zu erwartenden Gewinneinnahmen geschieht. Peru ist natürlich mit von der Partie, weil die Grabungsstelle in Peru liegt.

Als die ersten Infrarotaufnahmen die wahre Größe dieser antiken Stadt aufzeigen, sind die Archäologen von den Socken. Die Stadt muss mehrere zehntausend Menschen beherbergt haben, wenn nicht gar hunderttausend. Sie ist für damalige Verhältnisse riesig und zeugt für die Macht und den Reichtum des Reiches. Warum bloss hat man früher noch nie etwas davon gefunden?

Leon selbst sichert seiner Stiftung jetzt mehrere Grundstücke im Umfeld der alten Königsstadt. Warum soll er nicht ausnutzen, was ihm da quasi in den Schoß fällt. Er denkt dabei nicht an persönlichen Reichtum, sondern er denkt als der Teamplayer und der Scout, der er ist. Er wird alle möglichen Gewinne mit seiner Clique teilen, und er wird zu erwartende Gewinne für soziale Zwecke einsetzen. Wie, das weiß er am Anfang auch noch nicht.

Artemis teilt sich erneut, und er schickt jeweils einen seiner Nachkommen in die Köpfe der Archäologin Mila und von Nakoma, jenem jungen indianischen Führer. Er sorgt dafür, dass sie Geheimnisse bewahren und sich zu Wächtern des Lebens entwickeln. Er verhilft Nakoma zugleich zu Kräften der Cantara, so dass Nakoma schon bald einen ähnlichen Energieschub verspürt, wie seinerzeit der junge Leon.

Artemis und sein junger Nachkomme, der jetzt in Nakomas Körper lebt, sind ab sofort über ihren Energiestrom miteinander vernetzt.

Auch Milas Sinne schärfen sich deutlich, aber Artemis verschenkt seine Fähigkeiten nicht unbegrenzt. Einer seiner Nachkommen wird vorerst nur als Wächter in Milas Kopf sitzen und ihre menschlichen Eigenschaften verbessern, wie Leistungsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, oder die Fähigkeit zur Analyse.

Artemis teilt sich noch einmal, und er schickt seinen Nachkommen diesmal in den Kopf von Claudio da Silva, den Leiter der archäologischen Abteilung in Lima, der für die Auswertung, Restaurierung und den Fundus aller ausgegrabenen Schätze der Königsstadt zuständig ist. Mila wird die Chefarchäologin vor Ort. Sie koordiniert alle Ausgrabungen und den sicheren Transport der Fundstücke, aber auch die Beschaffung und Verwendung von Geldern und den Schutz der Ausgrabung.

Leon übernimmt den Vorsitz der neu gegründeten Firma, die sich der Ausgrabung der Königsstadt verschreibt. Zwischen den Staaten von Peru, Bolivien und der Stiftung gibt es jetzt einen neuen Vertrag, demzufolge alle künftigen Einnahmen aus der Ausgrabung zu je einem Drittel zwischen den beteiligten Instituten aufgeteilt werden.

Leon verkauft dieses Goldgefäß aus seinem ersten Fund jetzt an das archäologische Museum in Lima und erhält dafür 150.000 Euro. Sicher ist der archäologische Wert weit höher anzusetzen, aber Leon schenkt diesen Mehrwert dem Museum und erhält für sein Entgegenkommen viel Bereitschaft, mit ihm in Zukunft auf ehrlicher Basis zusammenzuarbeiten. Das ist nicht zu unterschätzen, findet Leon. Freundschaft ist nie zu unterschätzen. Alle anderen Funde, die er zusammen mit Mila und Nakoma entdeckt hat, bringt er in den Fundus des gemeinsamen Unternehmens ein, dazu zählen diverse Knochenstücke, Zähne, aber auch Scherben, Gold- und Kupfermünzen und einige Goldbleche, die offenbar von militärisch hohen Rängen getragen wurden, um Kleidungsstücke zusammenzuhalten, und den jeweiligen Rang zu demonstrieren. Auch diese Geste wird ihm hoch angerechnet.

Der Erlös aus dem Goldgefäß wird Leon zusammen mit seinem Goldfund aus der Mine helfen, Fäden zu spinnen und die Kontrolle über die Ereignisse in Peru zu behalten.

Die UNESCO wird die Fundstätte schon bald als Weltkulturerbe einstufen. Wir müssen hier nicht über weitere Details reden, aber die beteiligten Kräfte beginnen mit der Ausgrabung.

Leon bleibt zunächst in Peru. Er wird hier dringend gebraucht. Er kabelt seinen Eltern, dass er die Schule jetzt abbricht. Vielleicht nur ein Studienjahr, wer weiß. Jetzt wird er hier gebraucht. Von seinen Telefonaten nach Deutschland weiß er, dass die Eltern von dieser Entscheidung zwar mächtig geschockt sind, aber dass sie auch mächtig stolz auf ihren Sohn sind, und ihm alles Gute wünschen.

Die antike Stadt, die zunächst noch ohne Namen ist, wird auf Vorschlag der Chefarchäologen schon bald "Sonnenstadt" oder auf spanisch Ciudad del Sol genannt, weil es dort so viele Artefakte mit Sonnensymbolen gibt.

Der erst 16-jährige Leon und die um vieles ältere Archäologin Mila verlieben sich ineinander. Es ist ein seltsames Feuer, was den Berliner Leon und die viel ältere indianische Archäologin vom Volk der Aymara miteinander verbindet. Eine Liebe, die von Artemis unterstützt wird, spürt er doch, dass diese Beziehung gemeinsame Kinder hervorbringen, und auch das Volk der Cantara erhalten und vermehren wird.

Als Leon ein halbes Jahr Später nach Berlin zurückfliegt, teilt sich Artemis erneut. Er lässt seinen Nachkommen im Körper von Leon, aber er selbst zieht dort aus, und er bleibt zunächst in der Ausgrabung. Er wird dort ein vorläufiges Zuhause finden und über den Fortgang der Arbeiten wachen. Er hat schon mitbekommen, dass die Ausgrabung Dutzende von Goldsuchern und Gaunern ermuntert hat, sich illegal auf die Suche nach antiken Artefakten zu machen, die gutes Geld versprechen. Das ist ein gefährliches Potenzial, das er unter Kontrolle bringen muss, wenn er Leon und Nakoma weiterhelfen will. Es gibt noch andere "Goldgräber", die ebenso gefährlich sind. Private Unternehmer, geldgierige Politiker, Militärs. Mila und Nakoma brauchen den Schutz von Artemis in den nächsten Monaten dringender als je zuvor.

2.6.2. Zurück in Berlin bespricht sich Leon mit dem neuen Stiftungsrat, der aus vier Aufsichtsratsmitliedern besteht, aus Leon selbst, aus Kathy, Roy und Spek. Außerdem gibt es fünf beratende Direktoren, darunter ist auch die Geigenvirtuosin Bea. Ziel ist zunächst der Aufbau eines autonomen Jugend- und Musikzentrums in Berlin, das den Jugendlichen in Berlin und Brandenburg offen stehen soll, und das ihre Musik, ihre Lebenseinstellungen und ihre Jugendkultur aufnehmen wird. Eine weitere Aufgabe ist die Integration und der interkulturelle Austausch zwischen Völkern und Kulturen, aber ohne dass eine Kultur die andere domestizieren soll. Der Stiftungsrat findet ein Gelände vor den Toren von Ostberlin. Die Leitung erhält die Unterstützung der Stadt, und die Freunde beginnen die ersten Gelder aus dem peruanischen Goldfund in den Ausbau des Geländes zu investieren. Dritte Aufgabe ist es schließlich, die Ausgrabung in Peru zum Erfolg zu führen, und in den Anden ein indianisches Zentrum zu bauen. Mila und Nakoma werden auf Vorschlag von Leon als die beiden letzten beratenden und operativen Direktoren der Stiftung bestellt, um die südamerikanischen Aktivitäten zu koordinieren.

Auf Leon warten so viele Aufgaben, dass er beschließt, die Schule ganz abzubrechen. Er kann notwendiges Wissen jederzeit auf dem Abendgymnasium nachholen, wenn er will. Es gibt heftige Diskussionen mit den Eltern, die dem Geist des Bildungsbürgertums verhaftet sind, und es gerne sehen würden, wenn ihr Sohn ordentlich studiert, aber Leon setzt sich durch. Vielleicht hilft ihm auch, dass er bereits jetzt einer der Direktoren der Stiftung ist, dass er der Stiftung enorm viel Geld mitgebracht hat, und dass er große Ziele hat, die er verwirklichen will.

Die Eltern beugen sich schließlich seiner Hartnäckigkeit und seinen guten Argumenten.

2.6.3. Leon ist längst vernetzt mit Nakoma in Peru, und sie beschließen bereits im Winter, rund um die Ausgrabung eine Stadt zu bauen, ein indianisches Kulturzentrum und ein Hotel zu errichten. Sie brauchen dazu nicht einmal zu telefonieren. Die Kräfte von Artemis machen es ihnen möglich, diese Energie in Form einer Gedankenübertragung auszutauschen. Sie waren zunächst verblüfft, wie einfach das ist, aber inzwischen haben sie sich daran gewöhnt, und praktizieren diese Fähigkeit, die sie auch geheimhalten, weil das sonst nur unnötige Fragen aufwirft.

Die an der Ausgrabung beteiligen Archäologen sind fast alles Weiße, aber Mila und Nakoma haben sich dafür ausgesprochen, ausschließlich indianische Arbeiter einzustellen. Die Staaten Peru und Bolivien sind ohnehin einverstanden, denn indianische Arbeiter gelten als billige Arbeitskräfte. Nakoma weiß aus eigener Anschauung um die untergeordnete Stellung der Indios in diesem Land. Er nimmt die Gelegenheit wahr, um seinem Volk der Quechua in Peru langfristig zu einer gesellschaftlichen Stellung zu verhelfen, die von Anerkennung geprägt ist. Die Ausgrabung wird ihm dabei helfen. Er weiß, es wird nicht einfach werden. Jede Gruppe, die in Südamerika einen Anspruch auf demokratische Rechte einfordert, ist der Gefahr der Zerschlagung durch das Militär ausgesetzt.

Der Ruhm, der sich dank der Einbindung der UNESCO entfalten wird, die wird sich auf die Stellung der Indios in diesem Land allerdings positiv auswirken, wenn man die Öffentlichkeit geschickt ausnutzt. Dafür wird er sorgen, und er ist sich in diesem Ziel mit Mila und mit Leon einig. Er hat aber auch erkannt, wie gefährlich die Situation ist, wenn sie solche Schätze ausgraben, und die Gier von Tausenden von Glücksrittern entfachen. Er sorgt dafür, dass die Indios unter seiner Leitung eine kleine Schutztruppe zusammenstellen, um drohende Übergriffe bereits im Vorfeld zu erkennen und Diebstähle zu verhindern. Das dient nicht zuletzt ihrem eigenen Schutz, denn Gerüchte und Unterstellungen sind schnell in die Welt gesetzt, wenn man einen unliebigen Beteiligten loswerden will, der von diesem Kuchen ein Drittel kassiert. Allein der Vorwurf der Unterschlagung kann dafür sorgen, dass die Beteiligten für Monate oder Jahre hinter Gittern verschwinden. Mila übernimmt die Aufgabe, dass jedes gefundene Stück detailliert erfasst und katalogisiert, und dass jeder investierte Dollar auch ordentlich verbucht wird.

Die Ereignisse in Peru haben Leons Weg vorgezeichnet. An ein Studium ist in dieser Situation nicht zu denken. Er hat jetzt ganz konkrete Aufgaben, und er ist sich sicher, dass er die Anforderungen dank seines Gespürs und seiner Intelligenz auch meistern wird. Er weiß ja nicht, dass Artemis ihm dabei helfen wird. Als Leon im nächsten Frühjahr wieder nach Peru reist, bereitet er das Feld für einen Hotelkomplex, der in den nächsten Jahren entstehen soll, und eine Verbindungsstraße nach Cusco, um die Arbeiten sehr viel schneller und effektiver durchzuführen als bisher. In der Ausgrabung selbst arbeiten inzwischen hunderte von Menschen, die ein Zuhause brauchen. Leon weiß, dass hier eine neue Stadt entstehen wird. Vorerst brauchen die Arbeiter und die Archäologen aber feste Hütten, weil das Leben in Zelten auf Dauer unbequem ist. So entsteht eine Art Goldgräberstadt.

Nakoma ist zwar kein ausgebildeter Archäologe, aber er findet schnell Zugang zu den Techniken und er berät sich regelmäßig mit Mila, die sich schon bald auf das ungewöhnliche Gespür von Nakoma verlassen kann, wie bei einem hochtalentierten Scout, einem Hellseher, oder einem Wünschelrutengänger. Sie selbst erhält von den Wächtern des Lebens eine organisatorische Fähigkeit, die ihr hilft, alle anstehenden Aufgaben zu bewältigen und aufkommende Konflikte im Keim zu ersticken. Das schürt zwar manchen Neid, aber Mila wird auf ihre Weise unantastbar, allein durch ihren genialen Führungsstil und das sichere Gespür, wo man graben muss, um etwas wertvolles zu finden. So findet sie auch in den beteiligten Ministerien immer ein offenes Ohr, denn dank Mila beginnen sich die Kassen der Finanzminister von Peru und Bolivien zu füllen, nun ja, auch die Kassen der Stiftung in Berlin, wenn auch zunächst nur auf dem Papier, solange wie nicht erste Verkäufe Bares in die Kassen spülen.

Nakoma hat keine Ambitionen auf Ruhm, und er überlässt Mila freiwillig den Verdienst, als geniale Wissenschaftlerin zu gelten. Er selbst bezieht inzwischen als beratender und operativer Direktor der Stiftung ein Gehalt, das weit über dem liegt, was die Indios der Anden sonst verdienen. Dabei hat er nicht einmal eine schulische Ausbildung, aber er initiiert jetzt für die Indios der Ausgrabung eine Freiwilligenschule, in der Rechnen, Schreiben und Lesen gelehrt, und in der die überlieferten Geschichten der Indianer gesammelt und weitergegeben werden. Auch die Musik der Anden und die indianischen Traditionen sind Teil dieser Gemeinschaft. Zusammen mit den Funden aus der Ausgrabung ist diese Freiwilligenschule der Grundstein für die Entwicklung eines indianischen Zentrums im Nordosten von Peru. Nakoma selbst ist auch einer der Lernenden.

Am Ende dieses Sommers sichert sich Leon weitere Grundstücke rund um die Ausgrabung, sowie ein langgestrecktes Tal aus dem Besitz des Staates Peru, das mehrere Tagesreisen entfernt liegt. Er lässt die Grundstücke und seine nähere Umgebung auf den Namen der Stiftung eintragen und die Stiftung ist auf diese Weise plötzlich zum Eigentümer mehrerer Goldadern geworden, von denen sonst noch niemand etwas weiß.

Diesmal bringt er über 200 Kilo Gold in die Hauptstadt Lima, eröffnet dort auf den Namen der Stiftung ein Konto und überweist einen Teil des Sechsmillionen Euro starken Erlöses direkt nach Berlin.

Leon hat inzwischen eine Ménage à Trois. Kathy in Berlin, Mila in Peru. Aus den Beziehungen entstehen später mehrere Kinder, und damit hat sich der Plan von Artemis zunächst erfüllt, den menschlichen Körper zu benutzen, um das Volk der Cantara wieder wachsen zu lassen und um die menschliche Gattung noch besser für seine Zwecke zu nutzen, ohne dass er sich ständig teilen muss. Auch wenn die Fähigkeiten des Einzelnen Nachkommen gering sind, gemessen an den Fähigkeiten von Artemis, so gibt es hier doch ein ausbaufähiges kollektives Wissen.

Mila eröffnet Leon bereits im nächsten Sommer, dass sie von ihm schwanger geworden ist.

Leon ist noch sehr jung, aber er erkennt diese einzigartige Chance. Er beantragt kurzerhand die peruanische Staatsbürgerschaft und läßt seinen Namen von einem Amtsgericht in Lima in den Künstlernamen Leon del Sol abändern. Dann adoptiert er Nakoma mit dessen Einverständnis als seinen Sohn. Nakoma wird ab sofort Nakoma de Sol heißen. Ein Tribut an die heilige Stadt, die sie gefunden haben.

Es ist mehr als das. Leon ist jetzt ein Staasbürger Perus, und als solcher genießt er einen größeren Schutz als vorher. Es war im Prinzip ein genialer Schachzug, um seine Ziele noch besser durchsetzen zu können.

Mila schenkt an Weihnachten einem gesunden Mädchen das Leben, und sie nennt sie nach dem alten indianischen Namen Chénoa und dem spanischen Zusatz Maria, und auch sie beantragt jetzt den Künstlernamen del Sol, so dass ihre Tochter zukünftig Chénoa Maria del Sol heißen wird. Leon hatte beim Amtsgericht hinterlassen, dass er einverstanden sei, dass auch Mila und seine leiblichen Nachkommen diesen Künstlernamen tragen dürfen, der sonst nur einmal beantragt werden darf. Eine Heirat kommt für Leon jedoch nicht in Betracht. Er fühlt sich auch viel zu jung, um solche Entscheidungen zu treffen.

2.6.4. Chénoa wird nicht die einzige Nachkomme von Artemis bleiben, die auf natürliche Weise gezeugt wird, nach der Art, wie das die Menschen tun. Sie werden in ihrer äußeren Form ganz den Erdlingen gleichen, und sich damit nicht von anderen Menschen unterscheiden, aber sie werden Talente und Fähigkeiten entwickeln, die anderen Menschen weit überlegen sind. Es ist für die Cantara die ideale Tarnung.

Die Tochter des damaligen peruanischen Ministers für Fremdenverkehr und Archäologie, der ein Angehöriger der weißen Oberschicht ist, die verliebt sich einige Jahre später ausgerechnet in diesen Indio Nakoma, der sich inzwischen Nakoma del Sol nennt. In bestimmten Gesellschaftskreisen gilt eine solche Verbindung zwischen den Rassen als Skandal. Doch auch ohne seinen Adoptivvater Leon hat sich Nakoma mittlerweile einen Namen gemacht, als genialer Fremdenführer, als Tierflüsterer und als blutjunger Leiter der Indioschule, so wie des neu entstandenen Kulturzentrums in Ciudad del Sol. Er hat ein ausgesprochen glückliches Händchen im Umgang mit Tieren und Menschen.

Mercedes und Nakoma beschließen gegen den Willen ihres strengen Vaters zusammenzubleiben. Was zunächst ein riskantes Spiel ist, das entwickelt sich bald zu einer Love Story. Während Mercedes Tiermedizin studiert, absolviert Nakoma eine Ausbildung als Tier-Heilpraktiker. Er hat eine seltene Gabe, die Sprache der Tiere zu verstehen und sie von allen möglichen Krankheiten zu heilen. Warum also soll er diese Fähigkeit nicht nutzen, und sich einen Rahmen schaffen, der ihm ermöglicht, diese Tätigkeit offiziell ausüben zu dürfen.

Seine Fähigkeiten als Tierflüsterer gewinnen schon bald Anerkennung in konservativen Kreisen, denn auch in Peru gibt es sehr wertvolle Tiere. Hunde, Koys, Angorakatzen, Rennpferde. Nach anfänglicher Ablehnung nimmt man gern die Dienste dieses Indios in Anspruch, der ausgesucht höflich und kompetent ist, und der inzwischen über ungewöhnlich gute Manieren verfügt. Tatsächlich hilft ihm auch die Adoption durch Leon, und weil Nakoma bereits einer der Direktoren der Stiftung ist, verschließt sich der Minister der Verbindung zwischen Nakoma und Mercedes nicht länger. Dennoch ist diese gesellschaftliche Verbindung ungewöhnlich. Ein Sakrileg eben, Talent hin oder her, zumindest dann, wenn die Frau eine Angehörige der weißen Elite ist und der Ehemann "nur" ein Indio.

Anfangs war der Minister gegen diese Liebe. Er kennt den Sprengstoff dieser Verbindung. Durch seine gesellschaftlichen Verbindungen weiß er von diesen Goldfunden. Keine Einzelheiten. Auch die Lage der Adern ist nur in etwa zu umreißen. Durch geschicktes Taktieren könnte man diesen Besitz gewiss in die eigenen Hände bekommen. Es war seine Frau, die ihn lange angesehen hatte. "Wenn die Beiden heiraten, dann gehört dieser Fund automatisch auch unserer Tochter", hatte sie ihn beschworen, und sie hatte hinzugefügt, "ohne dass du einen Finger krumm machen musst. Außerdem solltest du lieber darauf achten, dass Mercedes glücklich wird. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie diesen Mann liebt, und auch ich habe meine Kontakte aktiviert, und diesen jungen Mann beobachten lassen." Sie hatte damals gelächelt. "Er scheint unsere Tochter aufrichtig zu lieben. Also verwende deine Kraft lieber dafür, die beiden zu beschützen, so lange das anhält. Wenn er ihr das Herz bricht, dann kannst deine heimlichen Pläne ja wieder aufnehmen." Sie hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt, und ihn hintergründig angesehen. Da hatte er sich gefügt. Er ist ein starker Charakter, aber die Frau an seiner Seite war ihm bisher stets eine gute und sichere Ratgeberin gewesen. Sie hatte bisher immer recht behalten.

Auch er weiß inzwischen, in welches ungeheure Talent seine Tochter da verliebt ist. Nakoma ist ein Leisetreter. Seine Überzeugungskraft und seine Aura sind effiziente Waffen. Seine Fähigkeiten als Tierflüsterer sind bereits weit über die Landesgrenzen Perus hinaus bekannt. Sie waren das bereits, bevor er seine Ausbildung zum Tierheilpraktiker überhaupt begonnen hatte, und das, obwohl er aus einer armen Familie stammt, in der nichts und überhaupt nichts besonders oder auffällig ist, außer der tiefen Armut, welche viele dieser Indianerfamilien in den Anden kennzeichnet.

Nicht lange nach der Hochzeit schenkt auch Mercedes einem gesunden Jungen das Leben. Auch bei ihm sind die innewohnenden Kräfte äußerlich nicht sichtbar, denn er ist - natürlich - auch ein Kind von Artemis.

Die Mutter von Mercedes hilft ihrem Schwiegersohn Nakoma, dem Staat in den Bergen ein großes Grundstück abzukaufen, zu dem auch mehrere Täler und Seitentäler mit Flüssen gehören, und das er als Ranch für die Zucht von Pferden ausbauen will. Er ist zwar noch sehr jung, aber die Gattin des Ministers spürt die ungeheure Kraft, die sich hinter der freundlichen Fassade verbirgt. Sie ist sich sicher, dass einmal etwas ganz Großes aus ihm werden wird. Offiziell gilt Nakoma jetzt immerhin als Mestize, weil sein Adoptivvater Leon del Sol ein weißer spanischstämmiger Geschäftsmann ist.

2.6.5. Niemand weiß von der Existenz des Volkes der Cantara und der Hilfe, die sie Leon, Nakoma, und ihren Kindern angedeihen lassen. Nicht nur ihnen, auch den nächsten Freunden in Peru und Berlin, so dass die Stiftung schon bald einen außerordentlichen Ruf begründet, eine Ansammlung von besonders talentierten jungen Leuten zu sein.

Niemand weiß, dass Artemis jetzt in der neu gegründeten Siedlung der peruanischen Indios lebt, die am Fuße der Ausgrabung entsteht, und die man Ciudad del Sol genannt hat.

Es ist äußerst praktisch, dass sich Leon, Mila und Nakoma jetzt alle del Sol nennen, und dass die Tochter des Ministers in die Familie del Sol einheiratet, die sich in Peru bereits einen Namen gemacht hat. Es ist inzwischen fast wie ein Adelstitel, denn den Indios der Aymara und der Quechua gelten Leon und Nakoma bereits als von Gott gesandte Boten, um ihnen zu helfen, in diesem Land eine neue soziale Stellung zu erringen, die auf Gleichberechtigung beruht.

Artemis wiederum kann sicher sein, dass die Xorx den weiten Weg zur Erde mit ihren Raumschiffen niemals finden werden. Zu weit, zu lang und zu gefährlich.

Er hat dafür gesorgt, dass seine Sippe auf diesem Planeten eine neue Bleibe gefunden hat. Heimlich und unsichtbar.

Er wechselt jetzt manchmal den Standort. Mal ist er in Berlin, mal in Peru. Er dockt sich einfach an Leon an, um ihn auf seinen Reisen zu begleiten. Völlig unerkannt. Er ist über seinen Energiefluss stets verbunden mit den Gehirnen von Leon und Nakoma, und jetzt auch mit Chénoa Maria de Sol, Nakomas Sohn Pedro Gonzales Eanathotès und seiner Tochter Ana Théla, die nur zwei Jahre später zur Welt kommt. Sie tragen alle die Kraft ihrer Väter in sich, durch den Akt der Zeugung, nun, genau genommen ist es die Kraft von Artemis. Sie sind die ersten Kinder zwischen einem Menschen und einem Außerirdischen. Würde man den Genstrang von Chénoa Maria de Sol, Pedro Gonzales, oder Ana Théla untersuchen, würde man Seltsames finden. Er hat nicht die übliche Spiralform, sondern die Form einer durchbrochenen Kugel, in der die verschiedenen Elemente auf mehreren Ebenen ineinander greifen und ständig ihre Position wechseln. Auch die Hirnmasse dieser Mutanten ist ein gutes Stück größer, als bei einem normalen Menschen, und sie wird viel effektiver genutzt. Es ist ein Privileg. Chénoa wird später 35 Prozent ihrer Gehirnmasse aktivieren, und das wird sie zu ungeheuren Leistungen befähigen. Ana Théla ist nicht viel weniger stark, aber sie bildet ihre Stärken auf ganz anderen Gebieten aus als ihre Schwester. Nun eigentlich sogar ihre Tante. Beides eben.

Im Vergleich zu den Fähigkeiten von Artemis ist das dennoch gering, und er steuert diese Prozesse. Er will die Kontrolle darüber behalten, was da geschieht. Er will die Entwicklung ganz in seinem Sinn beeinflussen.

Die Kinder von Leon und Nakoma werden jetzt in der Tradition der Cantara erzogen. Diese Tradition ist dem Erbe der Indianer der Anden in vielen Teilen sehr ähnlich. Die Indianer Südamerikas verehren die Mutter Erde. Auch heute noch. Sie verehren Pflanzen und Tiere. Der Mais gilt ihnen sogar als Gottheit. Sonne und Regen gelten als willkommene Lebensspender. Das ist ganz im Sinn von Artemis und seiner eigenen Nachkommen.

Später verhilft Artemis dem Vater von Mercedes zum Posten des Ministerpräsidenten, und der wird dieses Amt über viele Jahre ausüben, weil er ein geschickter Taktierer ist. Es ist Artemis einfach wichtig, dass Leon, Nakoma und Mila in der Regierung einen mächtigen Befürworter bekommen. Er lässt einen seiner Nachkommen im Kopf des Ministerpräsidenten einziehen, aber er wird ihm die Macht seines Clans nur soweit zur Verfügung stellen, dass er einer der Freunde des Clans wird, und sogar polizeilichen und militärischen Schutz gewährt. Artemis wird dafür sorgen, dass sich seine Sippe auf diesem Planeten vermehrt und beginnt, die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Prozesse zu steuern und zu überwachen, um diesen Lebensraum zu schützen und zu erhalten.

In der Wirtschaft würde man von einer freundlichen Übernahme sprechen, aber in diesen Kategorien ist Artemis noch nicht wirklich bewandert. Er tut das, weil es einfach richtig ist.

Er hat noch viel zu lernen. Auch Leon und Nakoma haben noch viel zu lernen, und auch die Kinder Chénoa Maria de Sol, Pedro Gonzales und Ana Théla. Artemis akzeptiert das vorbehaltlos. Er hat hier eine Bleibe gefunden, die vorerst sicher scheint, aber er sieht auch, dass auf dieser Erde Prozesse im Gang sind, die er als unbefriedigend und zerstörend versteht. Noch ist er Gast, und noch ist er weit weg davon, alle Vorgänge auf dieser Erde zu begreifen, aber er kann sich Zeit lassen. Selbst wenn er jetzt sterben würde, gibt es bereits Nachkommen, die seine Aufgabe fortsetzen werden.

Seine beiden Nachkommen in den USA springen immer noch von Wirt zu Wirt. Manchmal in Abständen von wenigen Tagen oder Wochen. Manchmal ziehen sie auch für Monate ein. Sie haben sich inzwischen geteilt und die kleine Gruppe der Cantara beginnt sich über das Land zu verteilen und in den Zentren der Macht festzusetzen. Manchmal sind das Wirtschaftskapitäne, manchmal Politiker und manchmal Musiker oder Schauspieler, die einen enormen Einfluss auf die öffentliche Meinung haben.

Artemis hat sich einfach an die Bedingungen angepasst, die er auf der Erde vorgefunden hat, und er beschließt, von Zeit zu Zeit weitere Zellabspaltungen vorzunehmen, um sie in die Gehirne von Menschen zu pflanzen. Unsichtbar, aber hoch effizient. In Europa, in Südamerika, und irgendwann auch in Asien oder Afrika

Leon und Nakoma vermehren sich vorläufig auf natürliche Weise, in der Art, wie Menschen das tun, also durch einen Akt der Zeugung.

Diese behutsame Vermehrung ist aus der Sicht von Artemis ein Grundstock. Er hat es nicht eilig, und er ist kein Aggressor, der danach strebt, sich die Menschheit untertan zu machen. Immerhin hat er inzwischen zu diversen Populationen auf dieser Erde engen Kontakt. Zu Insekten, zu Nagern, zu Einzellern, zu Viren. Es ist ein Leichtes, einen Virenstamm so zu modifizieren, dass er die Menschheit als Gesamtes bedroht, wenn diese Menschheit dem Volk der Cantara gefährlich werden würde. Die Cantara würden bei einem solchen Angriff weiterhin unsichtbar bleiben, und nur die verschiedenen Spezies dieser Erde für ihren Vernichtungsfeldzug nutzen.

Artemis hat aus dem Angriff der Xorx auf seinen Heimatplaneten gelernt. Er hat begriffen, dass eine Unterwanderung die sicherste Methode ist, um seinem Volk langfristig eine neue Heimat zu bieten. Er wird das weiter heimlich und unerkannt tun, und das wird auch so bleiben, und er wird auch seinen Wirten zeigen, wie sie die Gesellschaft unterwandern, um ihre Ziele zu erreichen. Ihre jetzt schon bekannten, und die Ziele, die noch gesteckt werden müssen, sobald die Kompetenz aufgebaut worden ist, um sich neue Ziele zu stecken. Artemis ist sehr pragmatisch. Er muss auf dieser Erde Schritt für Schritt voran gehen. Jedes Erzwingen einer völlig neuen Situation bringt nur Unruhe und Gefahren, die er vielleicht nicht einschätzen kann. Dafür ist seine Position auf diesem Planeten noch viel zu schwach.

Noch eins hat Artemis auf dieser Erde begriffen. Das Zeit-Raum-Kontinuum war auf seinem Heimatplaneten für das Volk der Cantara (rückwärts gewandt) ein Faktor, den man durch das historische Gedächtnis der Spezies leicht überwinden konnte. Hier auf der Erde funktioniert das nicht, da er auf das sehr unvollkommene, sehr selektive und kurzzeitige menschliche Gedächtnis zurückgreifen muss. Vielleicht wird er eines Tages lernen, auch auf diesem Planeten das Zeit-Raum-Kontinuum zu überwinden, etwa indem er das Gedächtnis von Bäumen oder Steinen benutzt. Noch scheint das nicht notwendig zu sein.

Inzwischen hat Artemis auch mit dem Bekanntschaft gemacht, was die Menschen mit Philosophie bezeichnen. Es gibt da unterschiedliche Schulen, die sich gegeneinander abgrenzen. Manchmal in regelrechter Feindschaft. In seinem Land gab es nur eine hochintelligente Spezies, und nur eine Philosophie. Zumindest bis sich der Überfall der Xorx ereignete.

In der zurückliegenden Zeit hatte das Volk der Cantara viele Wechsel miterlebt. Dürren, Kälteperioden, Vulkanausbrüche, Eiszeiten. Die Sonne ist ja kein statischer Klumpen, sondern ein hochexplosives Gemisch aus flüssigem Metall, Kristallen und Gasen, und sie beeinflusst ständig die umliegenden Planeten. Jede Sonneneruption kann das Leben auf den umherkreisenden Planeten beeinflussen, jede Sonnenimplosion kann eine Eiszeit hervorrufen, aber auch gewaltige Stürme, die einen Planeten sogar aus der Umlaufbahn werfen können. Auf diese Weise ist der Planet Cantara einmal aus seiner früheren Umlaufbahn geworfen worden, die damals viel näher an der Sonne lag.

Damals war der Planet Cantara ein glühend heißer und unbewohnter Ball. Erst in seiner neuen Umlaufbahn entwickelte sich dort Leben. Andere Planeten wurden damals sogar in viel weitere Entfernungen von der Sonne gekickt, und sind heute Eisklumpen, auf denen nichts mehr wächst. Das ist jetzt viele hundertmillionen Jahre her, längst bevor das Volk der Cantara entstanden war.

Würde das Leben auf Cantara durch natürliche Einflüsse wieder erlöschen, hätten die Cantara sogar die Möglichkeit, sich an Steine, Sand, Metalle oder Gase anzudocken, und könnten auf diese Weise noch sehr lange überleben.

Es ist also nicht so, dass Veränderungen von den Cantara grundsätzlich als negativ empfunden werden. Veränderungen sind Erscheinungsformen, die überall im Weltall zu finden sind, und die sehr pragmatisch einem bestimmten Lebenszyklus und einem Zeitfenster unterliegen, der zwischen der Geburt und dem Erlöschen eines Sonnensystems angesiedelt ist. Forscht man weiter, so ist zu fragen, ob es nicht letztlich egal ist, dass die Veränderungen auf der Erde durch den Menschen geschehen, oder durch natürliche Einflüsse. Alle beide sind Per se Veränderungen. Im Universum hat diese Zeitspanne, die dem Menschen, oder auch dem Volk der Cantara gegönnt ist, ohnehin keine größere Bedeutung als eine Millionstel Millimeter auf einer Skala von hundert Kilometern, und wenn der Planet Erde durch das Eingreifen des Menschen versteppt, erlischt ja nicht automatisch das Leben. Es sterben nur viele tausend Arten, die einige Millionen Jahre später wieder in einer völlig neuen Form entstehen können. Für das Überleben der Cantara ist das bedeutungslos.

Der Clan der Auserwählten

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