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Teil 3 Kapitel 1.

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Wittenberge an der Elbe. Der Boss und die Praktikantin.

1.

Leon del Sol ist jetzt 47. Er steht im Versuchslabor der Mac Best Food Corporation in Brandenburg und bespricht sich mit seinem Chefchemiker, den er seit nunmehr 13 Jahren mit seinem Nickname anredet, Dan. So lange arbeitete Dr. Daniel Koslowski schon für den Lebensmittelkonzern Mac Best.

Die Mac Best Food Company ist ein multinationales Unternehmen mit über 130.000 Schnellrestaurants, 75.000 davon alleine in den USA. Leon und seine Freunde hatten das Unternehmen vor Jahren übernommen und den Namen einfach belassen, weil man einen Markennamen nicht ändert, ohne triftigen Grund. Der Name passt auch ganz zur Unternehmensphilosophie, beste Nahrung zu verkaufen. Es geht hier allerdings nicht um Sterneküche für Gourmets, beste Weinlagen und Jahrgänge, sondern um "Food for the World", um Essen für alle, um die Sicherstellung eines bezahlbaren, aber gleichwohl guten und gesunden Essens für möglichst viele Menschen auf der Welt. Mac Best bietet kein Junk Food, sondern eine ausgewogene Nahrungspalette aus ausgesuchten Anbaugebieten und mit dem Anspruch, möglichst großer Transparenz, dem Erhalt nachwachsender Energien und der wirtschaftlichen Produktion und Vermarktung. Damit ist Mc Best anders als alle anderen Restaurants, und anders als alle anderen Fast Food Ketten, oder die Hersteller von Massenware im Bereich von Fleisch, Gemüse oder Süßprodukten.

Wegen der phonetischen Nähe zu Shakespear's Mc Beth werden immer mal Witzeleien gemacht, aber damit kann Leon gut leben, weil es im Endeffekt den Umsatz sogar steigert. Wohin geh'n wir heute? Zu Mac Beth... (Lacher). Nun ja. Nicht Jeder hat in seinem Leben einmal von Shakespears Dramen gehört, oder sie gar gelesen, aber solche Namensveränderungen machen schnell die Runde, vor allem dann, wenn solche Ableitungen bereits von Vorschulkindern verwendet werden, die das irgendwo aufgeschnappt haben, und dann spielerisch verändern: Mac Bean, Mac Salad, Mac Sausage, Mac Tomato-sauce, Mac Strawberry icecream, Mac Plumpudding... (Kicher kicher)...

Die Kinder sind für Mac Best fast die wichtigste Zielgruppe. Wenn man die begeistern kann, dann kann man diese Verbraucher ein Leben lang an den Konzern binden. Natürlich verändert sich das Essverhalten im Laufe der Zeit. Die Kleinen wollen vor allem Fritten, Sauce, Burger, Würstchen, Eis, Säfte, gegrillte Marshmallows und Cola, bunt garniert und mit Sonnenschirmchen, Strohhalmen und auf Tabletts mit Kindermotiven. Mac Best hat eigene Kinderabteilungen eingerichtet, mit kleinen Tischen, innenliegender Rutsche, Bällen, Clowns, und Stühlen in Form von Treckern, Lastwagen, oder Dreirädchen. In einigen Restaurants gibt es eine Eisenbahn, die rund um das Lokal fährt, und eine Haltestelle direkt im Kinderparadies hat. So nennt sich das bei Mc Best. Von den Decken hängen lustige Lampions, die in allen Farben leuchten und blinken. Man kann diese Einrichtungsgegenstände für die heimischen Kinderzimmer sogar kaufen. Es gibt einen Online-Katalog, der voll ist mit bunten Bildchen. Es gibt darin sogar Tapeten, Kopfkissen, Bettbezüge, Puzzles, Brettspiele, Sammelbildchen, Sticker und verschiedene Baukästen. Es gibt Malpapier, Stifte, Schulranzen, Kinderbekleidung. Natürlich gibt es auch Artikel aus dem Food-Bereich. Nahrung in Dosen, Nahrung in Flaschen, Schokoriegel, Müsli, Chips. Die bestellten Artikel werden dann direkt mit dem Lieferwagen oder der Drohne nach Hause gebracht, und dieses Sortiment floriert, besonders in den USA, aber auch in China, Japan, Thailand, Australien und Europa. Das Programm ist ausbaufähig.

Irgendwann hatte sich Leon an Weihnachten mal einen besonderen Werbegag einfallen lassen. Es gab ja schon lange Tomatenmark, Senf und Mayonnaise in Tuben. Er ließ jetzt Sahnekäse, Kräuterfrischkäse, Mischungen mit Leberwurst, Sardellen-, Paprika- oder Lachsgeschmack, aber auch Marmelade-, Erdbeer- oder Bananemischungen in Tuben abfüllen, und machte daraus einen Werbefilm. Man konnte mit den Tuben wunderbare bunte Bilder auf Brot oder auf Fleischstücke malen, und gut schmeckte das auch noch. Die Grafikabteilung entwickelte verschiedene Muster. So bekam man in den Restaurants jetzt Cracker, Schwarzbrot, Laugenbrezeln, Pizzatörtchen, aber auch Mürbegebäck, Blätterteigstückchen oder auch Apfeltörtchen mit leckeren Malereien, mal als Clown, mal als Fisch, mal als Smily. Je nach Wunsch süß, sauer oder salzig.

Wer wollte, konnte das Ganze mit dem Löffel, dem Messer oder dem Finger verstreichen. Eines seiner Promoter Teams probte das an einem Kindergeburtstag in einem der Restaurants. Leons Tochter Eva war damals schon eine begnadete Videokünstlerin. Sie drehte, mischte den Ton ab, ließ Kommentare dazu sprechen und machte noch einen weiteren Werbefilm daraus. Seitdem waren diese Tuben in jedem Restaurant, jedem Haushalt und auf jedem Kinder-geburtstag der Renner. Zu Weihnachten wurden Christbäume auf Teller gemalt, manche süß, mit vielen bunten Zuckerperlen. Aus dieser Aktion, die zunächst nur als Gag geboren war, entwickelte sich ein wahrer Hit, nicht nur in Europa, sondern auch in den USA und in Fernost. Es gab Tuben mit blauem, gelbem, schwarzem, roten oder violetten Inhalt. Die Farbe von Beeren, Wurzeln, Schalen, Früchten oder auch Lebensmittelfarben machten das möglich. Heute findet man diese Tuben in jedem Supermarkt, und die Mitbewerber waren auch schon längst auf diesen Zug gesprungen. Nichts funktioniert in diesem Geschäft langfristig so sicher, wie die Kinder an den eigenen Konzern zu binden.

Anfangs waren die Tuben nur in den üblichen Größen einer 200 ml-Senftube. Das bemalen der Speisen wurde eigenhändig von den Mitarbeitern vorgenommen. Man wollte in den Restaurants keine Sauereien und keine Essensschlachten. Schon bald wurde das Sortiment durch 20ml-Probetübchen ergänzt, mit einem Griff aus Plastik in Form einer Banane, einer Erdbeere, einer Paprika oder einer Leberwurst... Es gab 10er Päckchen in verschiedenen Geschmacksrichtungen, süß oder salzig, um damit die Cräcker oder Stückchen selbst zu bemalen. Die Inhalts-Menge ist so gering, dass man Sauereien im Restaurant gut verhindern konnte. Auch die Kinder, die noch nicht lesen konnten, die erkannten an den bunten Griffen sofort, was in der Tube drin ist, und das entfachte einen wahren Begeisterungssturm.

Jede Aktion findet irgendwo noch eine Steigerung. Im nächsten Jahr gab es einen heißen Sommer. Leon ließ in einem der US-Restaurants auf der grünen Wiese ein Planschbecken aufstellen und lud die Kinder zu einer Garden-Party ein. Man konnte im Freien essen und malen. Die Kinder mit nacktem Oberkörper und Sonnenhütchen. Natürlich gab es Cräcker, Salzgebäck oder auch Plätzchen. Dazu gab es Eiscreme, Shakes, Säfte und Limonade. Die Kinder konnten sich die leckeren Tubeninhalte direkt in den Mund spritzen, vom Teller lecken, oder vom Finger schlecken. Anschließend wurde gebadet und abgeduscht. Das Restaurant stellte Badehandtücher mit bunten Motiven zur Verfügung. Die Kindermöbel in der Außenfläche waren aus Plastik, damit man sie mit dem Schlauch abspritzen und desinfizieren konnte.

Was als Einzelfall und als Werbegag gedacht war, für Partys Zuhause oder gelegentliche Events, entwickelte sich zum Verkaufsmagneten. Immer mehr Restaurants mussten jetzt solche Gardenpartys anbieten, wenn sie denn eine Freifläche besaßen.

Solche Ereignisse und Matschorgien bleiben positiv in der Erinnerung der Kinder haften. Noch Jahrzehnte später.

Einige Eltern waren anfangs entrüstet. Das Matschen mit Speisen war nicht schicklich. Es gab heftige Diskussionen um Regeln. Kinder müssen lernen, anständig zu essen, aber die Idee setzte sich durch. Die Kinder bestimmten diesen neuen Trend. Sie wollten das, was ihnen schmeckt, mit allen Sinnen genießen. Es geht aber nicht, dass man andere Kunden verschreckt und vertreibt. Ein Drahtseilaktakt, weil sich Kinder nicht immer an das halten, was die Eltern verlangen. Irgend-wie hatten die geschulten Mitarbeiter von Mac Best diesen Spagat hingekriegt. Auch die konservativen Eltern waren beruhigt.

Kinderzonen und Erwachsenenbereich waren in den Restaurants stets deutlich voneinander getrennt. Optisch und akustisch, denn bei solchen Kinderspielen entwickelt sich manchmal deutlicher Lärm.

Natürlich konnte man diese Tuben kaufen. Natürlich enthielten sie Haltbarkeitsmittel. Mac Best musste schließlich gewährleisten, dass die Produkte nicht gefährliche Substanzen entwickeln, wenn sie eine Weile in der prallen Sonne, oder im Auto liegen, wo sich im Wageninnern die Temperatur an heißen Tagen locker auf 70 Grad erhitzen kann.

Heute ist dieses Produkt einer der Topseller im Angebot von Mc Best. Nicht nur in den USA, sondern überall. Es ist schon gut, wenn der Chef aufgeschlossen ist und über Weitblick, Witz und Humor verfügt. Aber natürlich. Leon ist kein Possenreißer. Er ist durchaus ernsthaft und bemüht, aber er steht neuen Ideen gegenüber stets aufgeschlossen gegenüber, und überzeugt oft mit einem Zwinkern in den Augen und mit einem Scherz auf der Zunge.

2.

Heute geht es zwischen Leon und Dr. Daniel Koslowski allerdings um neue Serien und ein neues Projekt der Belieferung von Werkskantinen, Schul- und Universitätsküchen in Nordamerika. Man verspricht sich davon eine Verdopplung des US-Umsatzes.

Bei der Burgerkette in den USA werden bisher überwiegend die traditionellen Hamburger, Hähnchen, Steaks, Hackbällchen, dicke Bohnen, gemischte Salate, Fritten und Süßspeisen verkauft, wie z.B. Donuts, aber auch Quark mit Mixed Picles, Eiscreme, Vanillejoghurt. Alles wird ergänzt von den fabelhaften Soßen und den Shakes von Mac Best, hergestellt in den Werken in Mexiko und Georgia, und dann gibt es noch diverse Kleinigkeiten, wie Laugenbrezeln, Blechkuchen, Torten und diverse Fitnessriegel. Natürlich bekommt man hier auch einen Pott Kaffee, Cola oder Bier. Leon findet, das reicht nicht, um in den USA dauerhaft die Nummer eins zu bleiben.

In Südamerika, Asien und Europa werden schon lange eigenständige Menüs angeboten, die dort großen Anklang finden. Bei dieser neuen Versuchsreihe geht es jetzt erstmals um völlig neue Gerichte für die Nordamerika-Linie. US-Amerikaner und Kanadier haben schließlich einen andern Geschmack als Europäer oder Asiaten. Das Angebot in den Restaurants will man zunächst beibehalten, aber Leon will expandieren und das Geschäft deutlich verbreitern. Wenn das klappt, soll auch die Angebotspalette in den Restaurants ausgeweitet werden, bis hin zu einem Partyservice.

Discounter, Hotels und Großküchen sollen in diesem ersten Expansionsschritt dazu gebracht werden, die neuen Mac Best Gerichte in großem Stil zu ordern. Allerdings ist die Produktlinie im Detail noch nicht ganz ausgefeilt. Der festgelegte Preis für angeforderte Tonnagen steht bereits fest, aber die Geschmacksrichtungen bei den ersten Testläufen waren noch nicht optimal gewesen. Dieser Unsicherheitsfaktor muss weg. Das ist gefährlich fürs Geschäft und das Ansehen in den USA.

Man braucht für dieses neue Projekt keine eigene Ladenkette. keine Bedienung und keinen Restaurantleiter. Es gibt keine Ladenmieten und keine Kosten für Strom, keine Tiefkühltruhen, Möbel oder Versicherungspolicen, und auch keinen Reinigungsdienst. Die bereits vorhandenen Vertreter werden in den USA und Kanada herumreisen, und für den steten Nachschub an Bestellungen sorgen. Es gibt bereits eine eigene Werbeabteilung, ansonsten wird man die fertigen Menüs tiefgefroren in 350 Gramm- bzw. in 5 und 25 Kilo Beuteln anliefern. Die Kleinpackungen für die Verbraucher, die Großpackungen für die Küchen. Die Tiefkühl-LKW werden rund um die Uhr im Einsatz sein. Sie werden nicht einmal einen eigenen Fuhrpark brauchen. Es gibt in den USA genug Speditionen, die sich gegenseitig unterbieten, um an solche Großaufträge heranzukommen. Wenn das alles klappt, dann ist das ein sicheres Geschäft.

Mac Best will diverse Gerichte anbieten. Chili con Carne, indisches Huhn, chinesisches Schweinefleisch mit Sprossen und Gemüse, deutschen Erbseneintopf, russischen Borscht und andere nationale Spezialitäten. In Zukunft würde man das auch über den Online-Handel anbieten können, mit Lieferung direkt nach Hause.

Bei Testessen war bisher einiges durchgefallen, anderes war angenommen worden.

Daniel war drei Monate mit einem Team seiner Mitarbeiter durch die USA gereist, und sie hatten umfangreiche Tests gemacht.

„Also“, fragt Leon, „was ist nun mit den Ergebnissen der Testserie und den Gewürzmischungen?“

Daniel kratzt sich verlegen am Kinn. „Ich hab mir das einfacher vorgestellt. Ich hab’ gedacht, die Amerikaner würden sich über so was wie die deutsche Esskultur freuen. War aber nicht so. Sie stehen immer noch auf ihre traditionellen Gerichte und das heißt: Steak, Steak, Steak oder Hack von morgens bis abends, mit Fritten, dicken Bohnen, Speck, Mais und Schwabbelbrot, und ich rede hier ausschließlich vom Massenmarkt, also vom Durchschnittsamerikaner. Also haben wir das eingebaut. Mexikanisch, Chinesisch und indisch war gar kein Problem. Irish Stew mit Schaffleisch auch nicht. Linsensuppe, Erbsensuppe und Borscht war bei ihnen ziemlich verpönt. Das braucht Zeit. Unsere italienische Pasta musste abgeschmeckt werden, erst dann ist sie super angekommen. Was uns aus den Händen gerissen wurde, das waren Frankfurter Würstchen, Hacksteak mit Mais und Paprika, sowie Steak mit Bohnen. Das eine gilt als deutsch, das andere ist typisch amerikanisch. Die Erfahrung war, dass die Testesser alles mit unseren Soßen zugeschüttet haben. Die kennen sie. Die haben uns in den USA schließlich groß gemacht. Also Chef, wenn sie mich fragen. Das war ein ziemlich ekliges Gematsche. Wir hätten denen genauso aufgeweichte Pappedeckel mit Soße hinstellen können. In den Schulen der Schwarzen und der weißen Unterschicht war das am schlimmsten. Ohne Pommes, Chips, viel Salz, Paprikapulver und Curry geht da gar nichts. Erstaunlicherweise haben sie trotz dem Gematsche einzelne Gerichte mit gut oder schlecht bewertet. Wir haben also vor Ort die Gewürzmischungen direkt angepasst und wir haben jetzt ein repräsentatives Ergebnis. Die neuen Mischungen kommen überzeugend an. Viel einfacher ist das in den Vierteln der Chinesen und der Mexikaner. Die haben ihre traditionellen Gerichte und Gewohnheiten. Ich hab Ihnen schon alles auf den Computer geladen.“

Leon nickt. „Danke. Ist der Einkauf informiert? Können wir mit der Produktion beginnen?“

Auch Daniel nickt. „Jain. Mit dem Schaffleisch haben wir in Nordamerika ein paar Lieferprobleme. Wir haben deshalb auf Veggifleisch umgestellt und das abgeschmeckt. Ist vom Geschmack und der Konsistenz nicht voneinander zu unterscheiden.“ Er grinst. „Da haben wir gedacht, probieren wir das auch mal mit Huhn, Schwein und mit Steak. Kommen sie doch mal mit.“

Er führt ihn ins Nebenzimmer. Seine Assistentin holt gerade zwei Teller aus der Mikrowelle und schiebt zwei neue rein.

„Hier, kosten sie mal. Sagen Sie mir, was das für Fleisch ist.“

Leon wirft einen skeptischen Blick zu Dan. Irgendwas kommt ihm da komisch vor. Er kommt nur nicht gleich drauf. Er schaut die beiden Teller prüfend an. Er nimmt Gabel und Messer, schneidet das Fleisch an, besieht sich die Schnittstellen, er riecht und probiert. Sein feiner Gaumen merkt, dass Fleisch eben nicht gleich Fleisch ist, je nachdem, wo es herkommt, und wie es gegart und abgeschmeckt ist, aber letztlich erschmeckt er keinen gravierenden Unterschied, und er entscheidet sich, „ganz klar. Das ist Schaf.“

„Beides?“ Leon nickt. „Ja, sicher.“

Daniel grinst unmerklich. Die beiden anderen Teller sind gerade fertig. „Bitte probieren Sie das auch mal.“

„Naja, seh' ich doch, das ist gutes amerikanisches Steak. Wahrscheinlich von argentinischen Rindern. Daher beziehen wir doch unser Fleisch.“ Er schneidet die zwei Steaks an, probiert und legte das Besteck wieder hin. „Eindeutig Rind.“

„Bitte noch einen Test.“ Leon sieht Dan an, als wolle er sagen, was soll jetzt dieser Blödsinn?

Aber er probiert auch das dritte Fleisch. Es ist Huhn.

Daniel lacht breit und fast feixend. „Seh’n Sie Chef. Jeder denkt das. Selbst Sie mit Ihrem Gespür für Geschmack und Substanzen und Ihrer jahrzehntelangen Erfahrung. Jetzt dreh'n sie die Teller mal nacheinander um.“

Leon macht das Spiel mit und liest: „Vegetarisch, Huhn, Vegetarisch, Rind, Vegetarisch, Schaf.“ Er sieht Daniel verblüfft an und Dan wartet gespannt auf das Urteil. „Hast du das ordentlich testen lassen?“ Daniel nickt. „Die Leiter hoch und runter. In Deutschland, den USA und in Südamerika. Niemand merkt einen Unterschied. Sehen sie sich die Fasern des Veggi-Steaks an. Man kann das Blut fast riechen. Halb durch ist das der Hammer. Unsere Testesser in den USA fanden das Veggi-Fleisch sogar noch zarter als das tierische Fleisch. Sie schworen, das sei von besten amerikanischen Rindern aus dem Mittelwesten.“

Leon nickt. "Das ist ja eine Meisterleistung, und die Kosten?“ Daniel kann sich das Lachen nicht mehr verkneifen. „Liegen zu 80 Prozent unter dem Fleisch.“ Bei jedem Fertigmenü, das wir verkaufen, verdienen wir bei gleichem Preis jetzt das doppelte. Deine Tochter Chénoa Maria hat die Menüs in ihrer Fabrik in Ciudad del Sol schon ausprobiert und mehrere große Test-essen veranstaltet, jeweils auf den Gaumen der Süd- und Nordamerikaner abgeschmeckt. Sie waren begeistert.“

Er fährt fort, "ich muss Ihnen allerdings gestehen, dass wir Ihnen den Test nicht einfach gemacht haben. Wir haben inzwischen gelernt, tierische Fette und tierisches Eiweiß synthetisch herzustellen. Das haben wir Ihnen in dieser Probe beigemischt, um Ihren feinen Geschmackssinn zu überlisten. Normalerweise tun wir das nicht, aber das Geschmackserlebnis ist dasselbe."

Er erwähnt nicht, dass er die Proben einem befreundeten Chemiker zur Analyse gegeben hatte, und der hatte selbst mit seinen Untersuchungsmethoden Schwierigkeiten, den Fleischersatz zu erkennen. Er hatte diesen Trick auch mit Chénoa versucht, aber die hatte ihm gezeigt, dass er sie nicht überlisten kann. Sie hatte ihn nur verschmitzt angesehen, und gemeint, "das ist sehr gut. Wirklich täuschend echt. Ich bin mal gespannt, ob Vater den Unterschied bemerkt."

Leon sieht ihn an. Das war nicht abgesprochen gewesen, aber seine Tochter Chénoa Maria ist die Kronerbin des Unternehmens. Sie hat jede erdenkliche Freiheit und kann alleine entscheiden. „Seid ihr immer noch so?“ Er kreuzt die Finger. Daniel nickt. „Wir treffen uns immer noch, und wir gehen immer noch zusammen ins Bett. Ich glaube das wird nie aufhören, seit wir uns damals...“. Er spricht nicht weiter, Leon weiß ja Bescheid. Dann schwenkt er wieder zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. "Also. Offiziell sagen wir Veggi-Fleisch dazu, denn da ist noch viel mehr drin als bei dem bisherigen Sojafleisch, das bei uns ja schon lange hergestellt wird. Manchmal Bambussprossen, manchmal Lauch und vor allem mehrere Pflanzen, die dein Sohn Nakoma mal zusammen mit Chénoa und seinen eigenen Kindern aus dem Urwald geholt hat. Sie sind in Südamerika schon 1500 Jahre vor Christus systematisch angebaut worden, und sie sind sehr nahrhaft. Wir wissen das inzwischen. Wichtigster Bestandteil unseres neuen Veggi-Fleisches ist die Faser eines Gehölzes, dessen Blätter essbar sind. Wir hüten dieses Wissen, wie unseren Augapfel, vor allem die Aufbereitung dieser Faser, die den typischen Biss von Fleisch garantiert. Bei eurer Ausgrabung der Königsstadt in Ciudad del Sol wurden Tontafeln gefunden, und die Forscher haben die Aufzeichnungen über den Anbau und die Lagerung dieser Pflanze entschlüsselt. Sie haben genaue Beschreibungen der Pflanze entdeckt, und auf einigen Tonkrügen gibt es sogar Bilder. Auch in den Mägen von mumifizierten Toten hat man solche Speisereste entdeckt. Sie sind damals auf Terrassen kultiviert worden. Man hat offenbar eine Art Brei, Fladenbrot und verschiedene Sorten von Gemüse und Fleischersatz daraus gemacht, die vor allem auf langen Reisen gut haltbar waren. Das bauen wir heute wieder an. Damals hießen diese Pflanzenprodukte wohl Huẽ-Chee'ze, was sehr frei übersetzt soviel bedeutet wie, der Müsli-Riegel der ausdauernden Krieger, hat deine Tochter gesagt. Dieser Riegel wurde damals wohl getrocknet und wurde auf Kriegszügen mitgeführt, wie Astronautennahrung, oder wie Superfood."

Daniel lächelt. "Die alten Peruche waren da schon erfinderisch. Wir verstehen nur nicht, warum dieses Wissen bei späteren Hochkulturen offenbar in Vergessenheit geraten ist. Die Inkas und die Maya haben diese Pflanze nicht mehr kultiviert. Naja, wer weiß, vielleicht hatte das kultische Gründe, vielleicht wurde das später sogar als böser Zauber verstanden. Deine Tochter Chénoa hat auch keine Erklärung für dieses Vergessen."

Leon staunt. "Ich kenn' natürlich das Projekt der Terrassenanbauten, aber ich hab' gedacht, dass dort überwiegend Mais, Bohnen und Kartoffeln angebaut werden. Ich weiß, dass diese Produkte, und noch ein paar andere, wie z.B. Kürbisse und verschiedene Nüsse, an unsere südamerikanischen Werke verkauft werden. Die Organisation hab' ich aber immer meiner Tochter überlassen. Sie hat da unten ja die Federführung."

Daniel nickt. "Ist aber so. Natürlich gibt's auch Kartoffeln, Mais und Kürbisse, und noch ein paar andere Dinge, wie Bohnen, Physalis und diverse Knollen, die wir schon seit ein paar Jahren in unsere südamerikanischen Menüs einbauen. Das ist kein Geheimnis. Zunächst haben wir das Huẽ-Chee'ze auch nur zu Versuchszwecken angebaut. Inzwischen haben wir regelmäßige Ernten, weil das schnellwachsende Büsche sind, mit Früchten, die relativ einfach geerntet werden können, und die auch essbar sind. Sehr aromatisch übrigens. Sehr saftig. All diese Pflanzen sind genau genommen die Basis unserer neuen Produkte. Wir müssen den Mitbewerbern nur nicht auf's Brot schmieren, was wir da machen, und wie wir das genau machen." Er grinst. "Technologischer Fortschritt entscheidet darüber, ob ein Unternehmen die Führung im globalen Kräfteverhältnis übernehmen und auch behalten kann, oder nicht. Jedenfalls ist das in unserem Bereich ziemlich sicher."

Er ergänzt: "Außerdem gibt es da noch einen Urwaldriesen, 50-70m hoch. Der hat Hülsenfrüchte, ähnlich wie Stangenbohnen. Sehr nahrhaft. Die Affen und die Vögel lieben das. Da wissen wir nur nicht, wie wir den auf Terrassen züchten sollen, und für die Ernte bräuchte man eine enorme Manpower, das wäre völlig unwirtschaftlich. Nakoma kennt diese Bohnen aus seiner Kindheit. Er sagt dazu Ha'cuantara. Die Indios sind damals schon in die Bäume geklettert und haben diese Früchte geerntet."

"Viel bessere Erfahrungen haben wir mit Stevia gemacht. Einer Pflanze, die im Urwald von Paraquai und Brasilien gedeiht, und die schon früher bei den Indios als Süßstoff verwendet wurde. Sie wird dort als ka'a he'ẽ bezeichnet. Wir verwenden sie schon seit längerem als Zuckerersatz. Ist viel gesünder als Rohrzucker oder der Zucker aus der Zuckerrübe."

Leon nickt. Das weiß er.

Daniel schließt seinen Vortrag: "Ohne deine Tochter und ohne deinen Sohn Nakoma hätten wir das meiste nicht hingekriegt, und die Kinder von Nakoma sind im Entdecken und Analysieren von pflanzlichen Kulturen und Substanzen mindestens so genial wie ihr Vater. Deine Enkelin Ana Théla ist eine dieser Genies. Sie hat in den letzten Jahren viele Pflanzen aufgespürt, die wir schon als verloren geglaubt haben, obwohl wir aus frühen Aufzeichnungen der Indios wissen, dass es sie einmal gegeben hat. Ana Théla ist heute erst 18, da wird noch einiges auf uns zukommen. Mein Labor war nur für die Herstellung einiger weniger Zusatzstoffe, wie Bindemittel, Farbe und Geschmack verantwortlich, und naja, auch die Aufbereitung der Faser und die Mixtur, also die endgültige Zusammensetzung unseres neuen Veggi-Fleisches und unserer Gemüsepfannen, und auch des Geheimnisses, warum das Veggi-Fleisch einmal nach Huhn, zum andern nach Rind usw. schmeckt. Und schließlich mussten wir garantieren, dass das vermeintliche Blut im Rindfleisch beim Durchgaren seine Farbe verändert, fest wird, und nicht mehr aus dem Fleisch herausfließt, anders als bei "rar" oder "medium rar". Man darf unsere eigene Leistung nicht kleinreden."

Er fährt fort, "deine Tochter und Nakoma haben ursprünglich nur die langfristig gesicherte Ernährung der südamerika-nischen Indios im Auge gehabt, aber das hat sich schnell verselbständigt. Naja, Sie haben das Terrain schon lange ihrer Tochter überlassen, aber Sie haben das Projekt seinerzeit ja angeregt. Wenn alles klappt, können wir daraus in Zukunft flächendeckend auch weitere Gemüsesorten und Frühstücksflocken anbieten, aber dann brauchen wir noch viel mehr Anbauflächen. Vorerst haben wir dafür noch nicht die Kapazitäten. Ganz im Gegenteil. Es gibt noch Lieferprobleme für das Veggi-Fleisch. Die weltweite Produktion können wir damit noch lange nicht abdecken, nicht mal die Produktion für Nordamerika. Also haben wir uns entschieden, zunächst nur das Schaffleisch für den US Markt vegetarisch herzustellen, und später Steak, Huhn und Truthahn nachzuschieben. Leider. Darum kümmert sich Chénoa Maria, und ich hoffe, dass sie uns in den nächsten 2-5 Jahren grünes Licht gibt. Dann revolutionieren wir den Markt." Er lacht unwillkürlich laut auf. "Das wird der Kracher."

Leon ist zwar ständig mit seiner Tochter vernetzt, aber sie hatte es verstanden, das selbst vor ihm geheim zu halten. Er staunt, denn ihm entgeht in seiner Firma fast nichts, aber er fasst sich schnell. „Da hat meine Tochter wohl einen Alleingang hingezaubert." Er sieht, wie Daniel grinst, dann ergänzt Leon in einer seiner typischen schnellen Entscheidungen: "Gut. Wenn die Produktion gesichert ist, wenn das Produkt biologisch sauber ist, und wenn meine Tochter ihr OK gegeben hat, dann bin auch ich einverstanden, aber du gibst mir die Daten jetzt komplett und wie immer offline auf den Rechner. Deine übrigen Vorschläge habe ich gelesen. Mir geht's zunächst nur um die neue US-Linie. Lass uns die Produktion in Mexiko anschieben. Die Kalkulation wird noch mal durchgerechnet, aber das scheint bisher alles in Ordnung. Chénoa wird das federführend übernehmen. Wenn sie uns das eingebrockt hat, soll sie auch die Verantwortung dafür übernehmen."

Er lächelt verschmitzt, "gegen den Mehrprofit aus der Marge des vegetarischen Schaffleischs hab ich nichts. Die Marge müssen wir auch nicht an den Verbraucher weitergeben, solange darüber nicht öffentlich spekuliert wird. Lass uns also in den großen Städten im Norden beginnen, in New York, Chikago und den anderen Metropolen, dann gehen wir in den Osten, dann in den Westen und schließlich nach Florida und den Süden der USA. Die Einzelheiten sind ja abgesprochen. Die Tonnagen sind ungefähr bekannt. Begleite die ersten Lieferungen mit weiteren Tests. Es kann ja sein, dass die Chicago Kids einen anderen Gaumen haben, als die New Yorker, oder die Leute in LA. Um den rechtlichen Rahmen zu gewährleisten, werden wir das Schaffleisch im Kleingedruckten aber als rein pflanzliches Fleisch deklarieren. Vielleicht ergibt sich daraus im nächsten Schritt sogar ein sehr gutes Verkaufsargument, aber nicht gleich, und vor allem nicht bei den Fleisch-Fexen in den USA.“

Daniel nickt. "Haben wir schon eingeplant. Deine Tochter hat vorgeschlagen, das Fleisch zunächst nur für Europa und Asien auf dem Label deutlich als vegetarisch zu kennzeichnen, sonst nur im Kleingedruckten, sobald sie liefern kann. Wir haben auch Ihre Briefings aufmerksam gelesen. Vielleicht kriegen wir ja sogar mal ein Gütesiegel für unser Produkt, das wäre für uns wie ein Adelstitel." Er grinst breit. "Vorerst sollten wir das nicht an die große Glocke hängen, meint Chénoa Maria.“

Die Tür geht auf und Leons Assistentin kommt rein. „Telefon Chef, Ihre Enkelin.“ Sie gibt ihm ein kabelloses Telefon. Leon hat zwar sein eigenes Smartphone und er ist generell darüber erreichbar, aber zu wichtigen Meetings schaltet er dieses Ding immer aus, und auch dann, wenn er nicht geortet werden will. Mit diesen Geräten bist du durchsichtig geworden, wie Glas. Leon ist nicht technikfeindlich, das kann er sich in seinem Job auch nicht leisten, aber er war in einer Zeit groß geworden, wo die Face-to-Face-Relations noch nicht durch die ständige Abrufbarkeit durch Smartphones gestört wurden. Diese Technik ist wirklich gefährlich. Jede Reiseroute, jedes Gespräch, jeder Internetkontakt und jedes SMS kann durch Dritte minutiös nachverfolgt werden, wenn man dieses Ding hackt. Darauf kann Leon in seinem Job wirklich verzichten, und er hat auch Anweisung an seine engsten Mitarbeiter gegeben, den Gebrauch rigoros einzuschränken. Mit seinen Kindern kommuniziert er in wichtigen Angelegenheiten nur noch drahtlos über seinen Energiestrom, der für niemanden sonst sichtbar ist, als für seine leibliche Familie.

„Ja?“, sagt Leon, und dann, mit einem schnellen Seitenblick zu Daniel, „oh, Ana Théla, schön, dich zu hören. Ja, ich hab Zeit für dich. Du willst nach Deutschland kommen? Ob du bei mir wohnen kannst? Ja, wo? Berlin oder Sachsen-Anhalt? Sachsen-Anhalt? Na sicher. Weißt du, wie du herkommst? Chénoa bringt dich? Heute Abend schon? Ja klar. Kommt her, ich freu' mich.“

„Wenn man vom Teufel spricht“, lacht er Daniel an. „Dann kannst du deine deutschen Freundinnen gleich mal aus deinem Bett werfen. Chénoa Maria kommt nachher mit meiner Enkelin, und ich kann mit meiner Tochter und Anna Théla mal direkt über diese Neuigkeiten sprechen.“

Auch Daniel lacht. „Müssen sie wohl geahnt haben, dass wir von ihnen reden. Sie haben ja immer solche besonderen Antennen.“

3.

Leon hat auf dem Werksgelände eine komfortable Wohnung. Für ihn ist das praktisch. Das erlaubt kürzeste Wege, und die Wohnung steht unter dem Schutz seiner Wachleute. Er kann von hier aus ungesehen in die USA, nach Frankreich oder Südamerika springen, wo er gerade gebraucht wird. Kein Flieger, kein Einreisevisum, keine Aufenthaltsbescheinigung, keine Warteschlange und auch keine Flugverspätung. Seine geheime Kraft, den Raum zu überwinden, macht ihm das möglich. Das ist eines der Geheimnisse des Erfolges von Mac Best Food. Das und die geheime Rezeptur, die Daniel damals erfunden hatte. Sie wird all den Tiefkühlgerichten und den Soßen beigemischt, ob in Europa, den USA oder in Südamerika. Sie war es, die seine Burgerkette auf Platz eins aller Schnellimbiss- und Restaurantketten weltweit hochkatapultiert hatte. Das, ein geschicktes Management und ein paar gute Freunde seiner Tochter, die ihm damals das Geld vorgeschossen hatten, um die amerikanische Burgerkette zu übernehmen. Das ist jetzt zwölf Jahre her.

Als Leon an diesem Abend in seine Wohnung kommt, wird er von Bratengeruch empfangen.

Seine älteste Tochter Chénoa Maria und Ana Théla sind schon da. Er hört sie in der Küche lachen. Er stellt die Tasche mit den Unterlagen ab, die er heute noch prüfen will, und schaltet das Smartphone aus, das ihn jetzt nur stören würde. Dann geht er in die Küche.

„Oh Opa“, wird er begrüßt. „Schön, dass du kommst. Wir haben Hammelfleisch und Reis mit Gemüse und Salat. Das isst du doch?“

„Opa, Opa“, beschwert sich Leon. „Mach mich nicht älter, als ich bin. Du weißt, dass du mich nicht so nennen sollst.“

„Ach Opa“, meint Ana Théla und fällt ihm um den Hals.

Leon hält sie auf Armeslänge von sich. Er hat Ana Théla schon länger nicht geseh'n. Er ist zwar immer wieder mal in Peru, aber er hat nie viel Zeit. Schließlich will er dort vor allem seine Frau besuchen, die Mutter von Chénoa Maria. Dieses Verhältnis ist immer noch, wie vor dreißig Jahren. Sie lieben sich, auch wenn sie sich nicht sehr häufig sehen. Im Winter geht er regelmäßig mit Mila auf Reisen, wenn sie Vorträge und Seminare in den amerikanischen Städten und in Europa hält. Sie gilt als die Kapazität schlechthin für die indianische Geschichte Südamerikas, und sie ist im Winter ständig unterwegs zu Vorträgen, auch im Rahmen von Ausstellungen über die Ausgrabungen. Sie haben Mila in der Welt der Geschichtsschreiber berühmt gemacht.

Ana Théla ist die zweitälteste Tochter seines Adoptivsohnes Nakoma, der nur knapp vier Jahre jünger ist als sein Adoptivvater. Allerdings hat sich Nakoma mit dem Kinderzeugen deutlich mehr Zeit gelassen, als sein Adoptivvater. So ist Ana Théla gerade 18 geworden und sie ist bildhübsch. Eine Mischung aus Indio und der energievollen dunkelhaarigen spanischstämmigen Peruanerin, die ihre Mutter ist. Sie hat schwarz-braune lange Haare, ähnlich wie seine älteste Tochter Chénoa, sie hat diese zarte goldbraune Haut der Mestizen, und die weichen Züge der Jugend.

Chénoa drückt Ana Théla den Kochlöffel in die Hand und meint. „Sieh mal nach dem Fleisch und dem Gemüse, und auch ein bisschen wenden und rühren.“

Sie umarmt ihren Vater. Leon drückt sie vorsichtig an sich. Chénoa ist jetzt 28, und sie ist im fünften Monat schwanger. Sie stehen eine Weile da und genießen die gegenseitige Wärme. Dann meint Leon mit einem Blick auf die Pfanne. „Ich hoffe, es gibt heute richtiges Fleisch und nicht dieses Veggi-Zeugs.“

Chénoa lacht. „Hat Daniel dich also schon kosten lassen? Ist wirklich gut, was?“ Leon droht leicht mit dem Finger. „Du hättest mich informieren sollen.“ Chénoa schüttelt den Kopf. „Wenn’s nichts geworden wäre, dann hätten wir das Zeugs eingestampft. Jetzt wissen wir, dass die Leute begeistert sind, und dass da noch viel mehr Potenzial drinsteckt. Du bist für das große Ganze zuständig, aber du musst nicht jeden einzelnen Schritt wissen, den wir in der Planung haben. Du erfährst schon rechtzeitig alles Wesentliche, du kannst dich auf deine Mitarbeiter verlassen.“

„Genug geschwätzt“, flötet Ana Théla. „Essen ist fertig.“ Wie alle Kinder und Enkel von Leon kann sie perfekt deutsch sprechen.

Leon hatte nichts zu Mittag gegessen und er schlägt jetzt richtig zu. Wenn er ernsthaft nachdenkt, so ist das Fleisch nicht besser als das, was Daniel ihm heute Mittag zu kosten gegeben hatte. Er hat keine Probleme damit, eigene Fehler einzugestehen.

„Ich muss euch ein großes Lob zollen. Euer pflanzliches Fleisch ist wirklich große Klasse. Wenn ihr mir das heute vorgesetzt hättet, ich wäre genauso zufrieden gewesen. Also nun mal ehrlich. War das jetzt Veggi oder Hammel?“ Dann ergänzt er, "... und Mila? Die hat das mit dem Anbau eurer neuen Produkte in den Anden doch sicher gewusst, und mir nichts gesagt?"

Ana Théla ist brottrocken, als sie sagt, "Opa, in Wirklichkeit haben wir Hundefutter genommen. Chénoa hat gesagt, sie würzt das so ab, dass selbst du keinen Unterschied merkst. Ein kleiner Test deiner Geschmacksnerven. Im Vertrauen. Das war erstklassiges Fleisch, aber es war eben nur Hundefutter. Jetzt darf ich dir das sagen."

Leon schaut irritiert, aber bevor er böse wird, verzieht er das Gesicht zu einem Grinsen, und er haut Ana Théla leicht in die Seite.

Ana Théla lacht. “War wirklich Hammel. Chénoa hat’s vom Türken in Berlin. Wir haben einen kurzen Umweg gemacht, um Katharina Hallo zu sagen. Chénoa meint, deine Kathy sollte aus erster Hand erfahren, dass ich einen Anschlag auf dich vorhabe.“

Chénoa ergänzt, "Papa, entschuldige. Mama und die Kinder von Nakoma waren in der Entzifferung der Tontafeln federführend. Es war meine Entscheidung, das Forschungsprojekt Veggi-Fleisch unter Verschluss zu halten, und ich habe dabei die Unterstützung des Ministerpräsidenten gehabt. Gottlob muss der ja nicht aus wahltaktischen Gründen jeden vermeintlichen Erfolg seiner Landespolitik an die große Glocke hängen. Wir wollten mögliche Nachahmer an der illegalen Rodung und dem illegalen Anbau hindern. Unser Veggi-Rezept wird vorerst auch ein Geheimnis bleiben. Das gilt natürlich nur für unsere neuen Pflanzen, aus denen wir unsere Veggi-Linie herstellen, nicht für die verschiedenen alten Sorten von Gemüse, die bereits seit Längerem wieder auf Terrassen kultiviert werden. Das letztere ist allgemein bekannt, und in vielen Forschungsberichten nachzulesen. Du weist das. Terres des Hommes hat an dieser Entwicklung ja einen entscheidenden Anteil, um die kleinbäuerliche Produktion zu stärken. Wir arbeiten mit denen Hand in Hand. Du hast das Projekt seiner Zeit angeregt, aber du hattest dann keine Zeit mehr, um dich mit fachlichen Einzelheiten aufzuhalten. Bei mir ist das anders. Ich bin schließlich seit zehn Jahren für Südamerika zuständig."

Sie ergänzt: "Was die neuen Pflanzen für unser Veggi-Fleisch angeht, haben die Kooperativen ausschließliche Lieferverträge mit unserer Firma, und das ist auch gut so. Schließlich finanzieren wir dieses Projekt, und wir garantieren den Kleinbauern faire Preise, von denen sie ihre Familien ernähren können. Natürlich ist es so, dass sich die Sache in Südamerika in einigen Fachkreisen bereits herumgesprochen hat, und die Regierung hat Anträge von vielen Firmen, sich an diesen neuen Terrassenanbauten zu beteiligen. Industriell ist dieser Anbau aber nicht zu bewerkstelligen. Das hat aus unserer Sicht Vorteile, weil es Investoren abschreckt, die nur den schnellen Profit im Auge haben. Wir haben auch einen eindeutigen Vorsprung im Know How, der soviel Abstand schafft, dass uns etwaige Konkurrenten nicht gefährlich werden können. Naja. Noch nicht. Übrigens: auch Katharina hat Bescheid gewusst. Sie ist da schließlich für den Haushalt der Stiftung verantwortlich, und sie hat immer wieder Forschungsgelder bewilligt."

Erinnern wir uns: Katharina ist nicht nur die "Frau" von Leon in Berlin, sondern auch eine der Aufsichtsratsmitglieder und Direktoren der Stiftung Kultur & Kommunikation, die wiederum die Eigentümerin von Mac Best Food und von anderen Unternehmungen ist. Dann gibt es noch seine "zweite Frau" Mila in Peru, von der Chénoa Maria abstammt. Ethisch mag das vielleicht bedenklich sein, aber sowas wird immer wieder praktiziert, und auf dem Papier ist Leon sowieso nicht den beiden Frauen verheiratet, auch wenn er alle seine unehelichen Kinder adoptiert hat.

Er macht eine Handbewegung, „ich bin ganz Ohr.“

Ana Théla mischt sich wieder ein, „also. Ich habe jetzt mein Abitur. Jetzt sind Sommerferien und ich will in Deutschland anfangen Chemie, Biologie und Botanik zu studieren, und als Nebenfächer auch Bakteriologie und Virologie belegen. Zuerst mal hier und nach dem Vorexamen in Cambridge/England. Chénoa hat mir geraten, mich bei euch ein wenig einzunisten und ein Dreimonats-Praktikum zu machen. Das macht sich für die Aufnahme gut. Sie meint, euer Chefchemiker könne mir ein wenig unter die Arme greifen, auch wenn die Nahrungsmittelchemie nur ein Teilgebiet meines Interesses ist. Ich kenn' ihn ja schon eine ganze Weile. Ist ein guter Mann.“

„Da hast du ja ein gewaltiges Pensum vor." Leon legt den Kopf schief und sinniert. "Ich bin mir sicher, du wirst das schaffen. Also, unter die Arme? Soso.“

„Papa“, meint Chénoa. „Du weist schon, dass das nicht wörtlich zu verstehen ist. Daniel sollte sich hüten. Da verstehe ich keinen Spaß. Katharina meint übrigens, dass sie Ana Théla mein Zimmer gibt. Wenn sie hier ihr Praktikum macht, kann sie die Wochenenden nach Berlin springen und ein bisschen von unserem Musikzentrum erleben. Also. Kann sie hier wohnen und bei Daniel ein Praktikum machen?“

Leon kennt die Fähigkeiten von Ana Théla. Sie ist von seinem Adoptivsohn längst in all diesen Kräutern und Tinkturen unterrichtet worden, die Nakoma da immer aus dem Urwald holt, um seine Medizin zu mischen, die er für seine Heilpraktikertätigkeit braucht. Er weiß, dass Ana Théla sehr diszipliniert arbeitet, und ihrem Vater immer eine gute Stütze ist. Sie hat auch schon etliche eigene Projekte angeregt und begleitet, trotz ihres jungen Alters. Was besseres kann ihm nicht passieren. Er kennt den Umfang ihrer Energie, denn er ist über seine Energieströme mit allen Kindern von Nakoma vernetzt, und natürlich auch mit seinen eigenen leiblichen Nachkommen.

Er nickt. „Klar doch. Chénoa kann das Dan nachher sagen, wenn sie ihn besucht.“ Chénoa schaut ihn fragend an, und Leon meint nur. „Er wartet sicher schon auf dich. Eigentlich habe ich heute noch ein paar Unterlagen zu studieren, aber ich werde mich mit Ana Thèla ein wenig zurückziehen und mir ein bisschen was erzählen lassen. Ihr habt da in den letzten Jahren ein paar Dinge in Gang gesetzt, über die ich nur unzureichend informiert bin.“

„Du meinst die Sache mit den Großgrundbesitzern im brasilianischen Regenwald?“ Leon nickt. „Auch das. Ich weiß einfach zu wenig. Das fällt schließlich in das Ressort meiner Tochter, und ich bin in dieser Sache leider auch sehr unzureichend informiert worden.“

„Papa“, beschwichtigt Chénoa. „Bitte nicht böse sein. Ana Théla und ihre Geschwister waren an dieser Sache schon seit mehreren Jahren dran, immer ohne einen durchschlagenden Erfolg. Sie waren damals noch sehr jung und naiv. Nakoma hat sie einfach machen lassen, aber er hat sie in dieser Angelegenheit nicht wirklich begleitet und gefördert. Er hat genug am Hals. Deshalb habe ich mich eingemischt. Jetzt haben wir endlich ein befriedigendes Ergebnis. Aber es gibt da noch ein paar Dinge, die wir besprechen müssen. Irgendwann in den nächsten Tagen, in Berlin, zusammen mit Mama, Roy und Spek. Das soll dir Ana Théla nachher erzählen. Ich ziehe mich zurück und besuche jetzt Daniel. Morgen bin ich in Berlin. Abends bin ich wieder hier. Ich will Daniel ein paar Nächte lang genießen.“

4.

Chénoa ruft kurz bei Daniel an. „Jaja, er erwartet sie sehnsüchtig.“

Sie kennt Daniel nun schon seit ihrer Zeit in Berlin. In jungen Jahren war sie zwei Jahre in Charlottenburg zur Schule gegangen. Seit damals hat sie ein lockeres Verhältnis mit Daniel. Er war ihr verfallen, aber er hatte begriffen, dass er sie nie ganz besitzen würde, und er hatte sich arrangiert. Sie gehen weiter zusammen ins Bett, immer wenn sie sich sehen. Mal auf Reisen, mal in Südamerika, mal in Deutschland. Sie weiß, dass Daniel hier einige Freundinnen hat, aber wenn Chénoa da ist, schmeißt er alle raus. Die räumliche Trennung ist natürlich groß, und so geht jeder seine eigenen Wege. Wenn sie sich zufällig treffen, so wie jetzt, oder wenn sie sich verabreden, dann gibt es jedes Mal ein Fest der Liebe. Eine Heirat mit einer anderen Frau hat Daniel stets abgelehnt. Er hat als Chefchemiker genug zu tun, sieht gut aus, verdient gut, und kann sich seine Freundinnen aussuchen. Inzwischen hat Chénoa ihm auch einen Teil ihrer Kraft zur Verfügung gestellt. Die Gefahr, dass er blind in irgendeine Liebesfalle tappen wird, nur um ihn und seine geheimen Rezepte auszuspähen, ist äußerst gering. Dafür hat Chénoa gesorgt.

Daniel hat schon gehört, dass Chénoa von einem anderen Mann schwanger ist. Für ihn ändert sich dadurch nichts, und er ist in dieser Nacht sehr vorsichtig. Er befühlt ihren Bauch. Er fragt, ob er ihr nicht wehtut, wenn ..., „nein, nein“, meint Chénoa, „ich brauche dich. Du glaubst nicht, was so eine Schwangerschaft an sexuellen Gelüsten entstehen lässt.“

Es ist nicht sein Kind, aber das ist ihm völlig egal. Er liebt diese Frau.

„Ach“, meint Chénoa später in der Nacht. „Da ist noch etwas. Du bekommst morgen eine Praktikantin. Ja, du denkst dir schon, wer das ist? Du denkst richtig. Meine Nichte Ana Théla. Sie wird bei Papa wohnen. Wenn du sie anrührst, dreh ich dir den Hals um. Haben wir uns verstanden?" Er weiß schon, dass dies nicht wörtlich zu verstehen ist, aber Daniel hat keine Ambitionen auf einen Streit mit Chénoa.

5.

Während Chénoa und Daniel sich in ihre Liebe stürzen, flötzt sich Leon mit Ana Théla in die bequeme Couchgarnitur.

„Lass uns ein bisschen erzählen.“

Sie stellen das Radio leise, das Leon zur Sicherheit regelmäßig auf eventuelle Wanzen untersuchen läßt, und Ana Théla beginnt:

"Du weißt, dass man deiner Tochter nicht einfach in den Kopf sehen kann, wenn sie das nicht will. Auch Paco und ich können einen solchen Schutzring um uns legen. Wir haben uns bei einigen Projekten völlig abgeschottet, um das Wissen um bestimmte Vorgänge selbst vor der Familie zu verheimlichen. Deshalb will ich einfach mal erzählen, um dich auf den neuesten Stand zu bringen. Wenn dir einige Einzelheiten schon bekannt sind, macht das nichts. Es geht um das große Ganze, und deshalb hole ich ein wenig aus."

Leon nickt. Das zeichnet diese Kinder als zukünftige Führer des Clans aus. Er selbst hat auch diverse Geheimnisse, die er für sich behalten will. Nur vor Chénoa kann er nichts verbergen. Sie kann ihm in den Kopf kriechen, wann und wie oft sie will. Niemand kann das so gut wie Chénoa.

Ana Thela fährt fort, "Papa hat mich zum ersten Mal mit in den Urwald genommen, da war ich fünf. Wir haben uns in Adler verwandelt und sind den ganzen Weg bis ins Amazonasgebiet geflogen. Papa wollte mir den Regenwald aus der Luft zeigen. Dort wo wir geflogen sind, war der noch intakt. Ein unendliches Meer aus Grün. Manchmal verborgen unter dichten Regenwolken. Schließlich sind wir an einem See gelandet. Da hatte Papa schon lange ein Baumhaus, das wir erst wieder in Schuss bringen mussten, weil solche Häuser im Urwald wenig Überlebenschance besitzen, wenn man sie nicht ständig pflegt. Dann ist Papa mit mir zurückgesprungen, hat eine große Tasche mit Flaschen, Mörsern, Tiegeln und Töpfen gepackt und ist mit mir wieder zu diesem See gesprungen. Papa hat mit mir Blätter, Wurzeln, Rinde und Früchte gepflückt. Wir haben Ameisen, Kröten und Giftschlangen gemolken. Wir haben Beeren entsaftet. Wir haben Bäume angeritzt, und den Lebenssaft aufgefangen. Wir haben alles beschriftet, in unsere Gefäße gepackt, und sind wieder nach Hause gesprungen. Dort haben wir alle diese Dinge noch einmal aufbereitet, und verfeinert, und Papa hat mir gezeigt, wie er Medizin daraus macht. Seit dieser Zeit war ich noch oft in unserem Baumhaus."

Leon nickt, Ana Théla seufzt. "Es war eine glückliche Zeit. Manchmal sind wir zu dritt oder zu viert geflogen. Papa wollte uns diesen Urwald von oben zeigen, so wie ihn die Adler sehen. Später sind wir auch in andere Gebiete vorgedrungen, und da habe ich zum ersten Mal diese gewaltigen Brände gesehen, die entstehen, wenn der Regenwald angezündet wird. Ich habe diese Plantagen gesehen. Mais, Raps, Hanf, und anderes, auch die illegale Abholzung, die Goldgräberei und die Suche nach Öl und anderen Bodenschätzen.

Das Saatgut ist importiert. Es gehört nicht hierher. Es ist genmanipuliert. Es verdrängt andere Pflanzen. Zum Auswaschen von Gold wird Quecksilber genutzt. Das verseucht die Böden und lässt die Tiere sterben. Ich habe die gewaltigen Bewässerungsanlagen der Plantagen geseh'n und ich habe geseh'n, wie ganze LKW-Ladungen abtransportiert worden sind. Nach drei Jahren sind die Böden ausgelaugt. Manchmal bleiben riesige Krater zurück. Die Reste von fruchtbaren Böden sind von dem ständigen Regen weggewaschen, und zurück bleiben faulende und stinkende Flächen, die zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Wär' ja alles nicht so schlimm, wenn der Urwald wieder zuwachsen würde. Tut er aber nicht. Die fruchtbare Erde ist mit dem Amazonas ins Meer geflossen. Ohne Humus kein Wachstum. Die Reste von Wurzeln faulen. Es entstehen Microorganismen und Algen, die in großen Mengen Methangas, Lachgas und Stickoxide freisetzen. Die Faulgase steigen in die Luft. In diesen Gebieten gibt es kein Leben mehr. Keine Falter, keine Vögel, keine Säugetiere. Nichts. Es sind Todeszonen."

Sie seufzt, "die Männer der Patrones sind längst weitergezogen und die nächsten Flächen sind in Flammen aufgegangen, nur um nach drei Jahren wieder verlassen zu werden. Man macht sich oftmals nicht mal die Mühe, die Bäume zu roden, und das Holz zu verwenden, denn das kostet Zeit, und die Barone haben bei solch kurzen Anbauzyklen keine Zeit zu verschwenden, weil sie mit Raps und Mais viel mehr verdienen als mit Holz. Bei den Bränden kommen auch alle Tiere um, die dort leben, und alle die wertvollen Pflanzen werden ausgerottet, die wir für unsere Medizin brauchen. Seit das Rapsöl gewonnen wird, um als Benzinzusatz zu dienen, haben sie in großem Stil den Wald verbrannt. Die Nachfrage hat die Preise in die Höhe getrieben. Das war ein lohnendes Geschäft. Inzwischen sind das Flächen, zehn mal so groß, wie Deutschland. Du weist selbst, wieviele Millionen Tonnen Gas das jährlich sind."

Sie schweigt betreten und traurig. Dann fährt sie fort, "der Urwald ist zwar nur sehr dünn besiedelt, aber natürlich leben dort Menschen. Diese Großgrundbesitzer haben die Indios am Amazonas vertrieben, zwangsumgesiedelt, oder mit Stromerzeugern, Farbfernsehern und befristeten Arbeitsverträgen bestochen. Die Armut in diesen Gebieten ist traditionell groß, das spielt den Bossen in die Hände. Wer sich nicht freiwillig untergeordnet hat, der wurde Opfer der schwarzen Garden, dieser brutalen Geheimkommandos. Männer und Kinder wurden einfach ermordet. Die Frauen sind vergewaltigt, und dann zu Liebesdiensten gezwungen worden. Überall gibt es solche Bordelle für die Erntearbeiter und LKW-Fahrer. Die Natur wurde rücksichtslos ausgeplündert. Wir Indianer und Mestizen wissen das seit Jahren. Die Geschichten werden von Mund zu Mund weitergetragen.“

Sie schüttelt wütend den Kopf. "Der Sauerstoffgehalt verringert sich weltweit dramatisch, und das Ozonloch ist inzwischen gigantisch gewachsen. Du weist, dass der Meeresspiegel in den letzten 20 Jahren um fast zwei Meter angestiegen ist. Die Polkappen sind fast komplett abgeschmolzen. In Australien und auf Feuerland kommt es zu heftigen Hautverbrennungen durch die ungefilterten UV Strahlen. Dort ist die Krebsrate rasant angestiegen. Die Zustände am Amazonas haben diesen Prozess beschleunigt. Wir graben uns unser eigenes Grab.“

Ana Théla macht noch einmal eine kurze Pause, dann fährt sie fort, „die Geschwister und ich, wir waren entrüstet. Naja. Wir waren stinkesauer, aber wir waren noch sehr jung und unerfahren, und wir haben für unseren Protest die falsche Methode gewählt. Papa hat gesagt, dass wir unsere Fehler selbst machen müssen, um daraus zu lernen. Wir haben in unserem jugendlichen Aktionismus und mit Hilfe unserer Energie Hubschrauber in die Luft gejagt und Lastwagen verbrannt. Wir haben uns als Spinnen und Schlangen verwandelt und Vorarbeiter getötet. Wir haben uns alles mögliche ausgedacht, um diesen Irrsinn zu stoppen. Es hat alles nichts genutzt. Sie haben andere Arbeiter geschickt. Sie haben neue Hubschrauber und neue Lastwagen und neue Bagger und Planierraupen geschickt. Einmal haben wir eine dieser Pflanzer-Familien komplett ausgelöscht. Wir haben gedacht, dann ist Schluss. Irgendein entfernter Verwandter hat das Erbe angetreten. Er hat eine Gesellschaft gegründet, und die hat dort weitergemacht, wo die getötete Familie aufgehört hat. Wir waren wirklich verzweifelt. Wenn nicht einmal der Tod hilft, um das Elend zu stoppen, was dann? Die Gewinne waren immens, angetrieben nur durch die Gier und durch den weltweiten Nahrungsmittel- und Treibstoffbedarf. Die Rohstoffbörsen haben das ganze System immens angeheizt.“

Sie schüttelt den Kopf. "Die Patrones tun das ja nicht ohne ihre Abnehmer in den Industriestaaten. Sie tun das nicht ohne eine politische Lobby in der Regierung und in der Verwaltung und der Polizei. Das ist eine richtige Mafia. Es gibt da Gesellschaften, die sitzen in New York oder London, in Panama oder in Zürich. Die haben überall in der Welt ihre Niederlassungen. Sie machen überall schmutzige Geschäfte. Hauptsache, möglichst viel Gewinn. Wir haben die ökonomischen Zusammenhänge und Verflechtungen am Anfang nicht durchschaut. Da gehören ja ganze Stäbe von Ökonomen, Börsianern, Landvermessern, Geologen und verschiedenen Wissenschaftlern dazu, die da gutes Geld machen. Viele davon haben sich erst durch Abhängigkeiten in dieses System eingeklinkt. Schulden, Spielsucht, Arbeitslosigkeit, und für die Arbeiter auf der untersten Ebene ist das meist nicht anders. Sie wollen einfach nur überleben. Ehrliche Arbeit gibt es in vielen Regionen nicht, nicht in Brasilien und in vielen anderen Ländern auch nicht. Um zu überleben, nimmst du jeden Job an. Das ist eine Frage der fehlenden Infrastruktur und der politischen und sozialen Situation im Land. Die wirklich Reichen werden erst durch illegale Geschäfte wirklich reich. Sie sitzen irgendwo in ihren klimatisierten Büros, und haben den Regenwald noch nie gesehen, außer auf Bildern oder bei Google Map. Natürlich gibt es Umweltschützer. Natürlich gibt es die eine oder andere Polizeieinheit, die sich um den Schutz der Regenwälder kümmert, aber die sind unterbezahlt und unterbesetzt. Ihre Familien werden oft eingeschüchtert und bedroht. Wie willst du da auf Dauer überleben, selbst wenn du dich bis an die Zähne bewaffnest?"

Nach einer weiteren Pause fügt sie hinzu, "auch deine Tochter hatte immer andere Dinge zu tun. Sie hat manchmal mit Papa und mir gesprochen. Sie hat sich erzählen lassen. Sie hat den Kopf geschüttelt. Sie ist wieder gegangen. Dann hat sie irgendwann eingegriffen. Wir machen das jetzt anders, hat sie bestimmt.“

"Du weist, dass Chénoa ihre Kräfte auf ganz anderen Gebieten entwickelt hat, als wir Kinder von Nakoma. Wir haben uns um Pferdezucht gekümmert. Wir haben Heilpflanzen aufgespürt und Medizin gebraut. Papa hat hinter dem Haus ein großes Treibhaus bauen lassen, und ein Terrarium, in dem wir Ameisen, Kröten, Schlangen, Spinnen, Riesentausendfüßler, Blutegel, Mäuse, Falter und Käfer züchten. Wir brauchen das für unsere Medizin. So ist es uns gelungen zwei wirksame Heilmittel gegen Arthrose und Gicht zu finden. Wir haben sie synthetisch nachgebaut, und die werden inzwischen in Pacos Fabriken massenhaft hergestellt und weltweit vertrieben. Du weist das sicher."

Leon nickt, und Ana Théla fährt fort, "es gibt andere Heilmittel, die wir mit Sekreten von Giftschlangen oder Kröten herstellen, und die wir an Heilpraktiker abgeben. Das ist nicht nur unser Hobby, das ist auch ein sehr lohnendes Geschäft."

Sie lächelt. "Wir sind nicht auf Tiere und Pflanzen fixiert. In Absprache mit Chénoa und Clara waren wir stets vernetzt mit unserer Indiogemeinde in Ciudad del Sol. Wir haben in anderen Bezirken und in anderen Andenstaaten ein Netzwerk gegründet, in dem die Bürgermeister von Indiodörfern, Hebammen, Ärzte, Heilpraktiker, Rechtsanwälte und auch die alten Schamanen Hand in Hand zusammenarbeiten, um die Rechte der Indios zu verteidigen, und um die traditionellen Kulturwerte am Leben zu erhalten. Die Schamanen sind in diesem Prozess ganz wichtig. Sie haben den Spaniern jahrhundertelang widerstanden. Sie haben sich versteckt. Sie haben viele der alten Traditionen und Kenntnisse der Inkas bewahren können. Sie praktizieren immer noch den Sonnenkult, und sie organisieren heimlich Hochzeiten und Beerdigungen, rituelle Beschneidungen, Sonnwendfeiern, und sie sind auch sehr gut bewandert mit Sternenkunde. Sie geben ihre Kenntnisse nur von Mund zu Mund an ihre Nachkommen weiter, aber sie sind seit jeher ein Quell traditionellen Wissens. Viele Heilpflanzen und auch viele alte Pflanzenkulturen haben wir nur mit ihrer Hilfe entdeckt, und wieder kultivieren können. Chénoa weiß das. Sie hält seit langem Kontakt zu diesen Clans."

Leon nickt. Das große Ganze kennt er, aber nicht die Details, und Ana Thela fährt fort, „damals hat Chénoa schon diese Wissenschaftlerin gekannt, die aus Australien kommt, diese Dr. Bloomfield. Dort haben sie mit den Folgen der Klimakatastrophe schwer zu kämpfen. Vor ihrer Haustür liegt dieses riesige indonesische Inselreich. Das war einmal eines der waldreichsten Gebiete der Welt. Sieh dir Indonesien heute an. Ich habe die Luftbilder im Internet gesehen. Es ist zum heulen. Die haben gebrandschatzt, wo sie nur konnten, nur um Palmöl anzubauen, das so ziemlich für alles verwendbar ist. Margarine, Sonnencremes, Treibstoff ..., du weist das selbst nur zu gut. Die Orang Utans sind längst ausgerottet. Die meisten Schlangen, Spinnen, Vögel und Insekten auch. In den wenigen noch bestehenden Palmölkulturen wächst sonst nichts anderes. Für Tiere ist das kein Lebensraum. Der verfaulte Abfall stinkt zum Himmel. Sie können nicht einmal mehr Reis dort anbauen, weil sie in diesen Gasen ersticken. Diese Wissenschaftlerin hat sich seit Jahren mit diesem Problem beschäftigt und Chénoa hat sie eingeladen, sich unsere verkohlten Flächen anzuschauen. Sie hat dann lange mit ihrem Bruder Paco und seinen Technikern geredet. Vielleicht gibt es eine Lösung.“

Sie schüttelt wieder den Kopf. „Chénoa hat über ihre politischen Kontakte erreicht, dass sich die Regierung in Brasilien mit ihr zusammensetzt und sie hat sie mit ihrer Kraft „eingesummt“. Sie hat sich um Lobbyisten gekümmert. Sie hat Handelsverbindungen aufgezeigt, und Partnerfirmen aufgespürt. An der Küste haben sie jetzt immer mehr mit dem Hochwasser zu kämpfen. Mit Sturmfluten und diesen immer stärkeren Wirbelstürmen. Die Schäden gehen in die Milliarden. Das hat bei den Regierenden den Ausschlag gegeben. Gewiss. Sie brauchen Geld für Schutzmaßnahmen, sie sind als Politiker bestechlich, aber viele der Firmen im Amazonas haben ihre Steuern nie an an den Staat abgeführt. Ihre Firmensitze sind irgendwo in Panama oder in anderen Steueroasen. Die Regierung hatte letztlich einfach Angst vor noch größeren Zerstörungen in den Zentren an der Küste. Hafenstädte, Verwaltungen, Industrieunternehmen, die legal arbeiten, und für Arbeitsplätze sorgen. Nicht unbedingt nachhaltig, aber doch in Vereinbarung mit den Steuergesetzen des Landes. Man muss aber auch sagen. Nicht oft setzt sich die Vernunft durch. Chénoa hat dieses Wunder hinbekommen.“

„Chénoa hat die Politiker überzeugt, dass das Ozonloch nicht noch weiter vergrößert werden darf. Sie haben kurzerhand ein Verbot ausgesprochen. Der Wald darf nicht mehr angezündet werden. Mehrere Großgrundbesitzer haben dagegen verstoßen und sind zu hohen Strafen verurteilt worden. Geld und Gefängnis. Andere haben illegal weitergemacht. Chénoa hat sich Listen geben lassen von den Adressen all dieser Großgrundbesitzer und der Gesellschaften, dann hat sie uns losgeschickt, um die Lage zu erkunden. Wir haben sie dann geholt, und Chénoa hat die Familien systematisch eingesummt. Sie wurden willenlos und gehorchen heute noch Chénoas Befehlen. Deine Tochter hat da eine echte Meisterleistung hinbekommen. Sie hat uns auch gezeigt, wie sie das macht. Wir konnten das ja schon immer ganz gut, aber nur im Kleinen. Chénoas Kraft auf diesem Gebiet ist wirklich beeindruckend. Sie kann die Gedanken dieser Menschen aus großer Entfernung lesen. Sie kann sie steuern, wie ferngelenkt. Wir haben viel von ihr gelernt. An die Kraft von Chénoa sind wir aber bis heute nicht rangekommen. Unsere Begabungen liegen eindeutig auf anderen Gebieten. Warum das so ist, wissen wir auch nicht. Es war lange Zeit, wie eine Art Mauer, in der nur eine Tür für Chénoa ist, durch die sie schreiten kann, nach Belieben. Kurz. Chénoa hat erreicht, dass es da keine Bestechungen, keine Vorteilnahme und keine Erpressungen von Politikern mehr gibt."

Sie schüttelt sich ärgerlich und enttäuscht, und fährt fort, "dabei gibt es andere Lösungen als diese rücksichtslose Ausplünderung. Es gibt da eine große Firma, die einmal von einem Deutsch-Brasilianer gegründet worden ist. Sie ist sehr innovativ. Sie entdeckt neue Rohstofflager und beutet sie aus. Etliche davon liegen im Urwald, doch die Rodungen sind geringfügig. Sie machen das schon seit drei oder vier Jahrzehnten so. Du kennst die Firma sicher.“

Leon nickt. „Global Resource Company. Greenpeace hat den Mann mal als Industriellen des Jahres ausgezeichnet. Ich kenne den Mann.“ Was er nicht sagt, dass er selbst Alfons da Silva für diese Auszeichnung vorgeschlagen hatte.

„Ja. Global Resource Company. Sie gehen anders vor. Sie roden ein Stück Wald. Sie benutzen keine giftigen Substanzen, wie z.B. Quecksilber. Wenn die Resourcen ausgeschöpft sind, lassen sie die Gruben mit Grundwasser volllaufen, leiten einen Fluss um, so dass der entstandene See mit Fließwasser verbunden ist, und verabschieden sich. Durch das Fließwasser haben Algen keine Chance. Die Seen sind bald voller Fische. Die Vögel entdecken die Seen für sich, als Nistplätze und als Jagdgebiet. Sie bedecken die Gegend mit Kot und mit ausgespuckten Kernen, und der Urwald holt sich das Gebiet zurück. Chénoa hat erreicht, dass die Global Resource Company weitere Lizenzen bekommen hat, um im Amazonasgebiet zu schürfen, wenn sie nachhaltig arbeiten. Der Staat nimmt dadurch viel Geld ein, das er braucht, um Hochwasserprogramme zu finanzieren, wie etwa Deiche und Schleusen an den Küsten. Inzwischen gibt es auch eine wirklich handlungsfähige Task Force. Eine Amazonas Umweltpolizei, die mit Hubschraubern, Nachtsichtgeräten, Computern und allem möglichen Hilfsmitteln ausgestattet ist. In Brasilia arbeitet eine ganze Gruppe von Wissenschaftlern an der Auswertung von Bildern, die von Satelliten herstammen. Das kostet viel Geld, aber es ist wirksam. Wir haben die illegalen Rodungen im Amazonas inzwischen weitgehend unter Kontrolle. Chénoa hat auch für Programme gesorgt, um Bauernfamilien zu unterstützen, die kleine Parzellen bewirtschaften. Sie zapfen Gummibäume an, sammeln Früchte, Nüsse, und Heilmittel, pflegen aber auch ihre eigenen kleinen Gärten zur Selbstversorgung, mit Kohl, Bohnen, Tomaten, Nüssen. Sie hat Bürgermilizen gegründet, zu ihrem Schutz. Chénoa hat da wirklich großartige Arbeit geleistet.“

Sie fährt fort: „Diese Großgrundbesitzer und Barone suchen jetzt nach neuen Investitionsmöglichkeiten. Chénoa hat sie alle einzeln aufgesucht. Nun ja, wir haben sie aufgesucht, nachdem Chénoa uns gezeigt hat, wie sie das macht, mit der Steuerung fremder Gedanken. Wir haben längst begriffen, dass wir damals ziemlichen Blödsinn gemacht haben, aber das ist ja nun schon einige Jahre her. Solcher Aktionismus ist sinnlos. Warum Papa uns da nicht schon früher geholfen hat, ist mir heute ein Rätsel. Chénoa sagt, er hatte einfach zuviel um die Ohren, und manchmal sei das Ausleben des kindlichen Spieltriebs auch ein sehr nützliches Erkenntnisinstrument. Da hat sie wohl recht, aber in dieser Zeit sind riesige Flächen niedergebrannt worden, die nie mehr zu ersetzen sind. Chénoa hat den Baronen dann mehrere dieser Grundstücke billig abgekauft, unter dem Vorwand, sie wieder aufforsten zu wollen. Sie hat sogar eine eigene Stiftung dafür gegründet, um die wahren Ziele zu verschleiern, die Amazonas Stiftung zur Rettung des Regenwaldes. Die Großgrundbesitzer haben sich ins Fäustchen gelacht, ob dieser Dummheit. Sie haben nicht bemerkt, dass wir sie verarschen, und jetzt hör gut zu."

"Ich habe in Erdkunde genau aufgepasst. Alleine die von den Grundbesitzern anfangs aufgekauften Grundstücke haben etwa die Größe von Bayern und Baden-Württemberg zusammen. Die Flächen mit illegalen Rodungen haben etwa dieselbe Größe. Das ist zusammengenommen fast die Fläche von Deutschland. Der Staat hat uns die letztgenannten Flächen für einen symbolischen Preis von einem Euro überlassen. Die denken immer noch, dass unsere Stiftung versucht, den Regenwald wieder aufzuforsten. Ist aber zwecklos. Und jetzt kommt's. Chénoa und diese Wissenschaftlerin haben sich intensiv mit dem Problem beschäftigt. Paco hat in Mexiko kurzerhand eine neue Firma gegründet, um diese Faulgase zu verwerten und um die Stoffe zu untersuchen, die diesen Prozess der Fäulnis zu untersuchen. Paco hat diese Dr. Bloomfield einfach für seine Firma verpflichtet. Sie ist die Leiterin dieser Abteilung geworden."

Ana Théla lächelt, "als Direktor unserer Fabriken für Umwelttechnologien in Mexico ist Paco ein Genie. Auch wenn es um die Führung von Menschen, um die Organisation von technischen Erfindungen und deren Einführung in den Markt geht, ist Paco unübertroffen. Er leitet diese Firmengruppe wie ein Gott.“

Sie sieht ihn mit einem Seitenblick an, "aber das letztere weist du ja längst. Ich sehe die Ströme von Energie, die dich mit Paco verbinden."

Leon nickt, und Ana Thela fährt fort, „Paco und seine Techniker sind mit der Wissenschaftlerin nach Brasilien gefahren. Sie haben Proben gezogen. Ach, das weist du schon? Aber keine Einzelheiten? OK, dann hör gut zu, Paco hat mit seinen Leuten festgestellt, wie hoch der Methangehalt ist. Das ist eine gewaltige Resource. Dann haben sie so eine Art Schirm erfunden, der in diese verottende Landschaft gestellt wird, und über Leitungen miteinander verbunden ist. Sie haben Sonnenkollektoren auf die Schirme montiert, die den Strom für Ansaugpumpen liefern. Das Gas wird angesaugt, es wird von Stickstoff und den Resten von Sauerstoff getrennt. Das Methangas, das Lachgas und den Stickstoff behalten wir. Den Rest von Sauerstoff lassen wir in die Luft. Die ersten Versuche sind erfreulich. Was wir an Gasen und Stickstoff-Verbindungen gewinnen, deckt bisher nur 10 Prozent der Investitionskosten, aber wir sind ja noch in der Versuchsphase. Gas und Stickstoff wird abtransportiert. Bisher wird das in unseren Werken zu Versuchszwecken verwendet. All das ist in den letzten zwei Jahren geschehen. Chénoa und Paco haben da ein enormes Tempo vorgelegt.“

"Es ist noch einiges zu tun. Die Anlagen sind noch anfällig. Die erste Anlage bedeckt vielleicht 0,1 Prozent der gesamten von uns angekauften Fläche, aber Paco sagt, in zwei oder drei Jahren sind wir soweit, dass wir die ganze Fläche bedecken können, und dann werden wir hundert oder zweihundert Prozent Gewinn machen, vielleicht mehr. Wir haben nicht einmal dir etwas sagen dürfen, weil Chénoa und Paco völliges Stillschweigen verordnet haben, um die Grundstückspreise nicht kaputt zu machen. Nur Katharina und Spek sind in einige Projekte eingeweiht worden. Kathy, weil sie die Gelder bewilligen musste, Spek aus Sicherheitsgründen. Auch die mussten den Mund halten, hat Chénoa befohlen. Chénoa wird dir das alles noch in Berlin sagen. Dir und den Freunden.“

"So. Da gibt es noch was. Die Stickstoffverbindungen, die da entstehen, die schöpfen wir auch ab. Du weist ja selbst, wieviele organische Abfälle bei der Herstellung unserer Mac Best Food Gerichte anfallen. Schalen, Strünke, Wurzeln, Blätter, Erde. Bei uns in Ciudad del Sol, und in den anderen Fabriken haben wir große Läger errichtet, in denen wir diese Abfälle zu fruchtbarer Erde verarbeiten. Die Stickoxide aus den Sümpfen können wir beimischen, um den Prozess zu beschleunigen. Die bei diesem Prozess entstehenden Gase fangen wir auf und nutzen sie zum heizen. Chénoa hat mir erzählt, dass ihr das in Europa nicht anders macht. Bei uns in Mexiko ist diese Bio-Erde ein richtiger Exportschlager geworden. Die LKW's bringen den bäuerlichen Kooperativen den Dünger und auf der Rückfahrt transportieren sie Tomaten, Kürbisse und so weiter. Es gibt keine Leertransporte mehr."

Leon unterbricht kurz. "So machen wir das in Wittenberge auch. Die komplette Fabrik läuft mit regenerativen Energien, und auch in der Stadt wird mit dem Abfallprodukt Gas geheizt. Wir treiben die Motoren der Trecker damit an, und auch all unsere Stapler fahren mit Gas aus unseren Bioanlagen. Wir haben unsere Vertragsbauern verpflichtet, keine Kalidünger und keine organischen Dünger aus Kuhscheiße mehr zu verwenden, aber du hast völlig recht. Was wir auf der einen Seite an Treibhausgasen vermeiden, wird auf der anderen Seite in gigantischen Ausmaßen erzeugt. Das System mit den CO2-Zertifikaten hat völlig versagt. Unser großes Problem ist, dass durch die regelmäßige Vernichtung von Wald der Sauerstoffgehalt der Erdhülle massiv schwindet. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir irgendwann ersticken. Bei uns in Europa haben wir deshalb die Wälder unter Schutz gestellt, und unsere Bauern haben wir vertraglich dazu verdonnert, zwischen ihren Feldern Busch- und Baumreihen anzulegen. Dort finden eine Menge Tiere Zuflucht, wie z.B. Vögel, die von Maden leben, aber natürlich auch Kaninchen, Igel, Füchse, Rehe, und das trotz der Belastungen aus der Umwelterwärmung Das hat am Anfang viele Diskussionen gegeben, weil die Bauern gejammert haben: die Stare fressen unser Saatgut. Die Karnickel fressen unseren Kohl, die Wildschweine fressen unseren Mais. Alles quatsch. Einzig und allein die Wildschweine waren anfangs ein Problem, aber wir haben die Jäger darauf angesetzt. Bei uns werden die Wildschweine gezielt und sehr erfolgreich geschossen. Wir setzen Drohnen ein, um diese Rudel zu beobachten und aufzuspüren. Das ist völlig lautlos. Ein paar Wildschweine sind ja OK. Sie wühlen die Erde um, aber wir haben das ungehemmte Wachstum dieser Rudel eingedämmt, das es einmal gegeben hat. Wir machen das heute im übrigen auch mit den Waschbären so, die sich ungehemmt vermehrt haben, weil sie keine natürlichen Feinde mehr haben."

Er grinst. "Wildschwein- und Waschbärbraten ist auch was Feines. Bei uns kriegst du das in den Landgasthöfen überall, und auch die Karnickel und die Rehe werden regelmäßig bejagt. Nur im Bayrischen Wald, da geht das schon lange nicht mehr, seit das Kraftwerk in Tschernobyl damals explodiert ist. Es ist nun mal so, dass wir in der bäuerlichen und forstwirtschaftlichen Produktion in die Natur eingreifen, ob wir wollen oder nicht. Dann müssen wir auch dafür sorgen, dass die einzelnen Gattungen in einem natürlichen Gleichgewicht bleiben. Die Alternative wäre der Urwald, in dem sich die verschiedenen Gattungen selbst regulieren. Sowas dauert etwa hundert Jahre, nur braucht es dafür ein Artengleichgewicht. Wir Menschen waren so blöd, Luchse, Wölfe und Bären auszurotten. Die Klimaerwärmung hat viele weitere Arten ausgerottet. In einigen Schutzzonen gelingt die Aussiedlung solcher Gattungen dennoch gut. Zum Beispiel im Harz oder im Nationalpark Bialoweza in Polen. Der Biber verbreitet sich immer mehr. Auch das ist gut. Das traurige ist, dass wir bei uns solche Schutzzonen einrichten. In den USA und in Kanada gibt es das ja auch, etwa ab Oberlauf des Mississippi, oder rund um die Chattahochee Seenlandschaft, aber wir Menschen haben in anderen Teilen der Welt gehaust, wie die Barbaren. Du verstehst, was ich meine?"

Er sieht sie eine Weile an, und Ana Théla spürt seinen Energiestrom, "wenn du später studierst, lege dein Augenmerk immer darauf, die Wissenschaft daraufhin zu überprüfen, dass sie für regenerative Prozesse genutzt werden kann. Gerade in der Massenerzeugung ist das wichtig. Nur haben wir mit unseren Bauern immer darauf geachtet, großflächige Monokulturen zu vermeiden und natürliche biologische Dünger zu verwenden, ohne dass gleichzeitig das Wasser durch Nitrate und die Luft durch Faulgase geschädigt werden."

Ana Théla lacht leise. Ihr Großvater hätte das nicht extra erwähnen müssen. "Das ist die Grundidee indianischen Denkens, und das hat sich in unserer Familie zur Philosophie entwickelt. Wir werden von Umweltverbänden unterstützt. Wir erfahren in den Semesterferien einen regelmäßigen Ansturm von Studenten, die bei uns ihre Praktika machen wollen. Die Lehrstühle an den Universitäten arbeiten gern mit uns zusammen. Bei uns in den Anden gibt es eine richtige Aufbruchsstimmung, trotz der sich ausbreitenden Wüsten, vor allem in Chile."

Sie schließt ihren Vortrag: „So und jetzt bin ich hier. Die Wissenschaftlerin ist jetzt an Untersuchungen über diese Algen. Es könnte sein, dass die Algen weitere Stoffe produzieren, die in großem Stil in der chemischen und pharmazeutischen Industrie eingesetzt werden können. Wie das Zeugs heißt, weiß ich nicht. Das ist einer der Gründe, warum ich mich jetzt mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Biologie und Chemie beschäftigen will. Ich glaube, da entsteht ein riesiger Bedarf an weiteren guten Wissenschaftlern. Naja, du weist ja, dass es in meiner Familie dafür eine Art genetische Begabung gibt, für alles, was mit Pflanzen und Tieren zu tun hat. Ich mache eigentlich nichts anderes, als was ich schon immer getan habe. Chénoa hat auch schon heimlich weitere Flächen aufgekauft. Keine Angst. Sie hat ihr eigenes Geld genommen. Wir haben zusammengelegt. Das Geld, das wir aus den Goldminen haben, die du mal mit Vater und mit Chénoa gefunden hast, das hat sich zwanzig Jahre lang vermehrt. Wir haben es bisher nie angerührt. Jetzt ist die Summe durch die Zinsen und den aktuellen Goldpreis riesig geworden. Wir haben in die Grundstücke bisher nicht einmal vier Millionen investieren müssen. Paco hat sich ins Fäustchen gelacht. Er ist sich sicher, das wird eine Goldgrube.“

Leon hat sich längst gefasst. Seine anfängliche Verblüffung ist in ein Stadium der Berechnung und Einschätzung der Möglichkeiten übergegangen, die sich aus diesem Fund ergeben. „Ihr habt das die ganze Zeit durchgezogen, ohne mir einen Ton zu sagen? Ein Energiestrahl hätte genügt. Ich hätte euch helfen können. Naja, Chénoa hat mich über einige wesentliche Prozesse unterrichtet, aber ich bin nie über Details informiert worden. Chénoa hat das irgendwie verhindert.“

„Opa“, sagt Ana Théla. “Du bist der große Boss, aber Chénoa ist die Chefin in Süd- und Mittelamerika, und sie hat Generalvollmacht. Sie kann solche Dinge alleine entscheiden. Du weist das. Aber hör zu, das, was wir gemacht haben, das ist vorerst noch ein Versuchsballon. Wir Kinder haben das finanziert. Es kostet die Firma keinen Cent, wenn wir damit baden gehen. Weil das bisher nicht durch die Bücher der Firma geht, können wir ziemlich sicher sein, dass unser Vorhaben vorerst noch geheim bleibt. Dabei wollen wir es belassen.“

Leon nickt. „Die Barone werden euch das Gelände nicht mehr verkaufen wollen, wenn sie um diese Ressourcen wissen. Oder sie werden den Grundstückspreis ins Unermessliche steigen lassen. Ihr hättet mir trotzdem mehr darüber sagen sollen, dann hätte ich mich in der UN schon mal nach Schützenhilfe umsehen können.“

Ana Théla schüttelt den Kopf. "Genau das wollte Chénoa nicht. Keine undichte Stellen. Keine Spekulationen. Schon gar nicht die UN. Da kann man gleich eine Reihe von Annoncen schalten, hat sie gesagt."

Leon nimmt die Zurechtweisung an, "und jetzt zu dieser anderen Neuigkeit, der Sache mit dem Veggi-Fleisch und den neuen Pflanzen, die ihr da in Südamerika anbaut. Kannst du mir noch mehr darüber sagen?" „Opa. Das solltest du mit Chénoa besprechen. Sie wird ja in ein paar Tagen diesen Gipfel leiten und dann alles zur Sprache bringen. Wenn ich davon anfange zu erzählen, dann kommen wir heute Nacht nicht mehr zum Schlafen. Aber nun mal was anderes. Ich möchte dir danken für deine Hilfe. Ich bin sicher, dass ich mich hier sehr wohl fühle. Wenn du nichts dagegen hast, dann lege ich mich jetzt in mein Bett. Der Zeit-unterschied macht mir ein wenig zu schaffen. Vielleicht haben wir auch in den nächsten Tagen Zeit, darüber ausführlich zu reden.“

Leon nickt. Dann könnte er jetzt in Ruhe über alles nachdenken, seine Unterlagen durchsehen und auch ein wenig telefonieren. Diese Nachrichten aus Südamerika sind wirklich der Hammer. Seine Tochter entwickelt sich zu seiner Nachfolgerin. Sie hat Instinkt. Sie hat Durchsetzungskraft. Sie ist kompetent und entscheidungsfreudig, und sie ist innerhalb ihrer Familie mit der größten Kraft von allen ausgestattet. Er weiß längst, dass Chénoa ihr Land Peru und die unmittelbaren Nachbarstaaten völlig im Sack hat. Wenn das in Europa und den USA nur halb so gut funktionieren würde, dann wäre er glücklich, von Russland, Asien und den islamischen Ländern ganz zu schweigen. Er hat wirklich keinen Grund, mit Chénoa zu hadern. Sie ist bereits jetzt viel besser als er, und sie lernt von Jahr zu Jahr dazu.

In Mexiko schicken die Sirenen der Fabriken gerade die Arbeiter in den wohlverdienten Feierabend. Die nächste Schicht beginnt. Mal sehen, ob er Paco noch erreichen kann. Er ist gerade im Gehen und Leon meint nur. „Chénoa ist hier. Sei in zwei oder drei Tagen in Berlin. Wir brauchen deinen Rat.“

Paco weiß bereits Bescheid. Chénoa hatte ihn nach Berlin bestellt. Er weiß auch den Zeitpunkt. Dienstag um 18 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Er würde jetzt das Wochenende Zeit haben, um sich schönen Mädchen zu widmen. Allein der Gedanke daran lässt sein Glied schwellen. Er ist ein schlimmer Schürzenjäger, aber in der Arbeit ist er völlig korrekt.

6.

Artemis hatte sich über seine Nachkommen in dieses Gespräch als Beobachter eingeklinkt. Was da besprochen wurde, war ganz in seinem Sinn, aber die Erfolge, die Leon da mit seiner Sippe erzielt, die sind wie ein täglicher Kleinkrieg. Ein zähes Ringen um Macht und um Positionen. Meine Güte, was sind diese Menschen in ihrer Gesamtheit für ein Haufen Trottel in ihrer Gier nach Geld und Macht, und nun ja, oft geht es auch ums pure Überleben, oder das, was als Naheliegendes dafür gehalten wird. Er beschließt, weitere Zellteilungen vorzunehmen, um die Prozesse in seinem Sinne zu beschleunigen. Hier geht es schließlich auch um die Lebensgrundlage seiner eigenen Sippe.

7.

Ana Théla geht am nächsten Morgen mit Leon in sein Büro. Daniel hat eine Mitarbeiterin geschickt. Sie soll die neue Praktikantin abholen.

Der Chef hätte jetzt keine Zeit, meint sie, und sie würde Ana Thela erst mal im Werk herumführen und ihr alles zeigen, das Versuchslabor, die Anlieferung von Gemüse, die Wasch- und Sortieranlagen, die Garkessel und die Verpackungmaschinen, die Tieffroster und die riesigen LKW’s an den Laderampen, die tiefgekühlte Ware überall in Europa verteilen würden.

Schon im Versuchslabor hält Ana Thèla ihre Begleiterin, die Marion heißt, am Arm fest. „Das geht mir zu schnell. Haben Sie Zeit für mich?“ Marion seufzt. „Soviel, Sie wollen.“

„Gut“, bestimmt Ana Théla, "dann geb’ ich das Tempo vor." Sie schaut überall. Sie läßt sich die Vorgänge genau erklären. Sie spricht mit Arbeitern und Grupenleitern. Sie spricht selbst mit den LKW Fahrern. Wie ist das mit den Frachtpapieren. Wie mit der Kühlung, Welche Fahrzeiten müssen sie einhalten. Wieso haben die alle einen Hubwagen am Heck? Marion seufzt. Sie ist extra für dieses Mädchen abgestellt worden, aber die will ja wirklich alles ganz genau wissen. Irgendwann kann sich Marion mal frei machen, und sie berichtet ihrem Chef.

„Marion“, meint Daniel, „lass’ sie einfach. Begleite sie, gib ihr jede Auskunft. Denke daran, dass dieses Mädchen in ein paar Jahren deine Chefin sein könnte.“ Er sieht sie an. „Ich meine das wirklich ernst.“ Dann schickt er Marion zurück.

Ana Théla ist gerade beim Kosten. Das mit der Garzeit, warum ist das gerade so. Was ist in den Gewürzmischungen drin? Warum sind die Mischungen für Frankreich anders als für Italien? Wie ist das mit dem Froster? Wieviel Grad hat der? Was ist, wenn die Kühlkette unterbrochen wird. Muß man sie dann sofort verzehren, wegwerfen, oder kann man sie wieder einfrieren?

Ana Théla hält den Betrieb an diesem Tage etwas auf, und die Gruppenleiter sind froh, wenn sie weiterzieht.

Am nächsten Morgen zieht Daniel seiner Praktikantin einen Kittel an und stellt sie an die Maschine. Nicht alleine, nein. Sie begleitet eine der Arbeiterinnen, und erfährt an diesem Tag viel mehr über diesen Teilabschnitt.

Am Freitag Abend meint sie. „Opa. Ich spring jetzt nach Berlin. Chénoa bleibt bei ihrem Daniel. Sie haben an diesem Wochenende etwas vor. Ich will dir auch nicht zur Last fallen. Gibt es hier irgendwo ein Zimmer für mich?“

Leon greift zum Telefon, wählt sich ein, spricht leise in den Hörer, dann dreht er sich zu Ana Thela. "Wir haben hier ein Wohnheim für Auszubildende. Da wohnen einige Polinnen und noch ein paar andere. Getrennte Zimmer, gemeinsame Küche, ein großes Wohnzimmer, und es gibt einen Wasch- und Trockenraum. Da ist noch ein Zimmer frei. Soll ich dich hinbringen?"

Als Ana Théla nickt, lässt sich Leon ein Auto mit Fahrer schicken. Er hat immer noch keinen Führerschein.

Wenige Minuten später sind sie in diesem kleinen Ort, der mit der Fabrik gewaltig gewachsen ist, und der nun immerhin schon 65.000 Einwohner zählt. Sie arbeiten fast alle in der Fabrik. Genaugenommen gehört dieser Ort der Fabrik, und die Nachbargemeinden auch. Die Fabrik sorgt hier für den Wohlstand aller. Bauern, Zulieferer, Handwerker, Baufirmen, Transportfirmen, Lehrer und Müllmänner, Anwälte und auch Stadtverordnete. Alle leben von dieser Fabrik.

Leon klingelt. Ein Mädchen, vielleicht 15 Jahre alt, macht auf. Sie spricht nur gebrochen deutsch.

Ana Théla legt den Kopf etwas schief, dann fängt sie an zu summen.

Es ist wie immer. Wie, wenn ein Großrechner plötzlich anfängt, die Worte, die Silben, die Stimmhöhe, die Phonetik, das Klangbild, den Atem, den Schweiß, die Gestik, die Mimik und die Augenkontakte in einem Schnelldurchlauf zu analysieren, zu zerstückeln und wieder zusammenzusetzen, auf der Suche nach bekannten Mustern. Ana Théla versteht innerhalb von wenigen Minuten, was das Mädchen in ihrer Sprache meint, und sie kann diese Wortlaute auch selbst anwenden. Sie bleiben in ihrem Gedächtnis, und sie wird sie nie mehr vergessen.

Der Clan der Auserwählten

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