Читать книгу Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht? - Hans Rudolf Fuhrer - Страница 11
1.1 Einleitende Bemerkungen
ОглавлениеDer Einfluss des Marxismus-Leninismus auf das Wahrnehmen, das Beurteilen und das Handeln der Entscheidungsträger im Ostblock wurde von der westlichen Forschung teilweise unterschätzt.2 Es ist zwar eine Tatsache, dass die Ideologie im hier interessierenden Zeitraum 1945–1966 nicht mehr die gleich grosse Rolle spielte wie zu Lenins Zeiten; die politischen Entscheidungen waren nun zunehmend von Pragmatismus und Routine geprägt. Daraus zu folgern, die Ideologie sei irrelevant geworden und die sowjetische Aussenpolitik sei primär vom «nationalen Interesse» geleitet worden und ausschliesslich pragmatisch gewesen, ist jedoch falsch. Der Marxismus-Leninismus war in den Ländern des Ostblocks die Staatsideologie und – zumindest in der Sowjetunion – «the most cohesive moral force in […] society».3 Die Mitglieder des Politbüros der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, welche faktisch die über alle Angelegenheiten entscheidende Führungsgruppe darstellten, standen deshalb in der Pflicht, ihre Macht durch die korrekte Anwendung der Prinzipien des Marxismus-Leninismus in der Lösung aktueller Probleme zu rechtfertigen. Hätten sie dies nicht getan oder sogar öffentlich die Gültigkeit der Ideologie in Frage gestellt, hätten sie ihre eigene Legitimationsgrundlage untergraben. Die ideologischen Prinzipien bildeten für die Mitglieder der sowjetischen Führung somit «a framework or analytical prism through which they observe and interpret events».4 Der Einfluss der Ideologie konnte zwar von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein, insgesamt jedoch war sie stets von zentraler Bedeutung für die Gestaltung der Politik. Der aus der Tschechoslowakei stammende amerikanische Historiker Vojtech Mastny schreibt in diesem Zusammenhang: «Mit der Ausnahme von absichtlicher Irreführung aus taktischen Gründen gab es keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen dem, was die massgebenden Moskauer Politiker und ihre osteuropäischen Anhänger sagten, und dem, was sie glaubten. Beides war von denselben ideologischen Prinzipien abhängig; deshalb wurde das politische Handeln auch viel mehr von der marxistischen Doktrin (oder genauer gesagt: ihrer Version dieser Doktrin) bestimmt, als viele Leute im Westen zu glauben bereit waren. Das betrifft jedoch weniger die Zielsetzung als vielmehr die Denkweise, welche die sowjetische Betrachtung und Einschätzung der Aussenwelt und die Gestaltung der daraus folgenden Politik bestimmte. Das gilt in ganz besonderem Mass für das Militär, das die herrschende Ideologie ohne nennenswerte Vorbehalte verinnerlichte, viel mehr als für die von steigender Korruption gekennzeichnete politische Elite. Die sowjetischen Militärs waren bis zum Ende als kompromisslose Feinde des Westens die treusten Bewahrer des Sowjetsystems […].»5
Die Theorien der marxistisch-leninistischen Ideologie beeinflussten also in hohem Mass die sowjetische Politik, unter anderem die Militärpolitik. Gleichzeitig blieben diese Theorien ihrerseits nicht unbeeinflusst von der praktischen Wirklichkeit, in welcher sich die Sowjetunion innenpolitisch und aussenpolitisch befand. So kam es – ausgelöst zum Beispiel durch Neuerungen im Bereich der Technik – in der UdSSR regelmässig zu Anpassungen beziehungsweise Umdeutungen der ideologischen Doktrin.6 Dabei konnten zuvor «häretische» Thesen plötzlich zu «orthodoxen» Leitsätzen werden. Diese Veränderungen vollzogen sich stets abrupt, indem der Generalsekretär der KPdSU die neu gültige Doktrin offiziell verkündete. Eine öffentliche Debatte über die richtige ideologische Auslegung des entsprechenden Aspekts fand vorgängig nicht statt. Mit anderen Worten: Zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte im ganzen Ostblock immer nur eine Auffassung Gültigkeit.
Im Folgenden soll die Entwicklung derjenigen Theorien der marxistischleninistischen Ideologie aufgezeigt werden, die für die militärpolitischen Entscheidungen in Bezug auf Westeuropa von 1945 bis 1966 prägend waren. Es geht dabei um die Theorien dieser Ideologie zum Verlauf der Weltgeschichte, zu Krieg und Frieden sowie zur Neutralität.
1.2 Die marxistisch-leninistische Auffassung von Geschichte
1.2.1 Die Theorie des historischen Materialismus
Die von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelte Geschichtsauffassung beruht auf einem materialistischen Grundsatz: «Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.»7 Dieser Leitgedanke führte Marx und Engels zur Überzeugung, dass die gesamte Weltgeschichte als Geschichte der materiellen Verhältnisse der Gesellschaft zu verstehen sei.8 Was den historischen Prozess konkret vorantreibe, das sei der Widerspruch zwischen den Produktivkräften9 und den Produktionsverhältnissen.10 Zu diesem Widerspruch komme es, weil die Menschen die Produktivkräfte ständig fortentwickelten, um ihre immer neuen und zusätzlichen Bedürfnisse befriedigen zu können. Wenn die Produktionsverhältnisse nicht mehr der Entwicklung der Produktivkräfte entsprächen, komme es zu gesellschaftlichen Krisen und zu Kämpfen zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen mit unterschiedlichen sozialen Interessen.11 Diese Kämpfe könnten zur Revolution führen, zur Ablösung der herrschenden – das heisst über die Produktionsmittel verfügenden – Klasse und zu neuen Produktionsverhältnissen.
Dieses Erklärungsmodell – die Theorie des historischen Materialismus – führte Marx und Engels zur Schlussfolgerung, dass die Geschichte der Menschheit eine Aufeinanderfolge «ökonomischer Gesellschaftsformationen»12 sei.13 Konkret durchlaufe die Menschheit folgende «Formationen»: die klassenlose Urgesellschaft; die antagonistischen Klassengesellschaften der Antike (Freie und Sklaven), des Mittelalters (Feudalherren und Leibeigene) und des neuzeitlichen Kapitalismus (Bourgeoisie und Proletariat); die sozialistische Gesellschaft sowie – als höchste und letzte Gesellschaftsform der Weltgeschichte – die klassenlose Gesellschaft des Kommunismus. Marx und Engels waren überzeugt davon, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung aus den ihr immanenten Bewegungsgesetzen zwangsläufig zusammenbrechen und durch die proletarische Revolution in eine sozialistische Gesellschaft umgewandelt werde; diese werde ihrerseits in der klassenlosen und damit in sich widerspruchsfreien kommunistischen Gesellschaft ihre Vollendung finden.
Der Theorie von Marx und Engels fügte Vladimir Il’ič Lenin Anfang des 20. Jahrhunderts – der ausbleibenden Revolution in den kapitalistischen Staaten14 und den rückständigen Verhältnissen in Russland Rechnung tragend – die Thesen von der «Partei neuen Typs» und von der «Diktatur des Proletariats» hinzu. Die erste These besagt, dass beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus der kommunistischen Partei eine entscheidende Rolle zukomme – als Partei von Berufsrevolutionären, welche das revolutionäre Bewusstsein von aussen in die Arbeiterklasse hineinzutragen habe und die nach erfolgreicher Revolution die Führung in der Entwicklung von der sozialistischen zur kommunistischen Gesellschaftsordnung innehabe.15 Die zweite These bezieht sich auf die Zeit nach erfolgter proletarischer Revolution: In der Übergangsperiode, die den Zeitraum vom Zusammenbruch der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung bis zum Eintritt der klassenlosen Gesellschaft umfasst, müsse die Arbeiterklasse – beziehungsweise ihre «Avantgarde», die kommunistische Partei – diktatorisch, das heisst, ohne an Gesetze gebunden zu sein, herrschen. Denn nur auf diese Art könne es gelingen, die Bourgeoisie endgültig zu eliminieren.16
Anders als Marx und Engels, die davon ausgingen, dass die sozialistische Revolution zuerst in den fortgeschrittensten kapitalistischen Gesellschaften stattfinden würde,17 behauptete Lenin zudem, im aktuellen – dem sogenannten «imperialistischen» – Stadium des Kapitalismus könne die sozialistische Revolution durchaus auch in schwächer entwickelten Ländern beginnen.18 Für Lenin war also nicht mehr ein bestimmter ökonomischer «Reifegrad» das entscheidende Kriterium für die Möglichkeit eines Umsturzes, sondern eine vorhandene «revolutionäre Situation» in der Gesellschaft.19 Auf diese Weise rechtfertigte Lenin die Durchführung der Revolution im feudalistisch-bäuerlich geprägten Russland. Sein Nachfolger, Iosif Vissarionovič Stalin, ging diesbezüglich noch einen Schritt weiter: In der Absicht aufzuzeigen, dass der Sowjetstaat trotz der ausgebliebenen Weltrevolution keine «isolierte Anomalie» darstelle, sondern voll und ganz in Übereinstimmung stehe mit den marxistisch-leninistischen Vorstellungen über den weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus,20 schuf Stalin die Lehre vom «schwächsten Kettenglied». Diese besagt, dass im Zeitalter des Imperialismus «die einzelnen nationalen Wirtschaften […] sich in Glieder einer einheitlichen Kette, genannt Weltwirtschaft, verwandelt» hätten und dass «die Kette der imperialistischen Weltfront» zwangsläufig «dort reissen» müsse, «wo die Glieder der Kette am schwächsten» seien.21 Dabei könne «es sich erweisen […], dass das Land, das die Revolution begonnen hat, das Land, das die Front des Kapitals durchbrochen hat, kapitalistisch weniger entwickelt ist als andere entwickeltere Länder, die jedoch im Rahmen des Kapitalismus verblieben seien. Im Jahr 1917 erwies sich die Kette der imperialistischen Weltfront in Russland als schwächer denn in anderen Ländern. Dort riss sie auch und gab der proletarischen Revolution den Weg frei.»22
Abb. 9: Karl Marx. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1961)
Abb. 10: Vladimir Il’ič Lenin. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1962)
Den Sozialismus mit seiner «Diktatur des Proletariats» betrachtete Lenin als eine kurzfristige Übergangsphase.23 Dies erwies sich jedoch je länger, je mehr als Fehleinschätzung. Im Verlauf der 1960er-Jahre korrigierte die KPdSU deshalb ihre bisherige Haltung und «erkannte», dass der Sozialismus ebenfalls eine «relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmassstab» sei.24 Keine Änderungen gab es bezüglich der Einschätzung des Kommunismus. Er galt weiterhin als höchste Stufe in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und wurde definiert als «eine klassenlose Gesellschaftsordnung, in der die Produktionsmittel einheitliches Volkseigentum und sämtliche Mitglieder der Gesellschaft sozial völlig gleich sein werden, in der mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auf der Grundlage der ständig fortschreitenden Wissenschaft und Technik auch die Produktivkräfte wachsen und alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums voller fliessen werden und wo das grosse Prinzip herrschen wird: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Der Kommunismus ist eine hochorganisierte Gesellschaft freier arbeitender Menschen von hohem Bewusstsein, in der gesellschaftliche Selbstverwaltung bestehen wird, in der die Arbeit zum Wohle der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis für alle, zur bewusst gewordenen Notwendigkeit werden und jeder seine Fähigkeiten mit dem grössten Nutzen für das Volk anwenden wird.»25 Der Staat, der als «Herrschaftsapparat zur systematischen Ausübung der Diktatur einer bestimmten Klasse über andere Klassen» entstanden sei, verschwinde beim Übergang zum Kommunismus und werde ersetzt durch die gesellschaftliche Selbstverwaltung.26
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten: Marx und Engels sowie ihre Anhänger gingen von der Grundannahme aus, dass für den Verlauf der Geschichte letztlich immer die wirtschaftliche Entwicklung ausschlaggebend sei. Von dieser Grundannahme leiteten sie die These ab, dass sämtliche menschlichen Gesellschaften dazu bestimmt seien, kommunistisch zu werden; und sie vertraten die Ansicht, dass diese Tatsache zu begrüssen sei.
1.2.2 Die Theorie von der allgemeinen Krise des Kapitalismus
Von besonderer Bedeutung für die marxistisch-leninistische Einschätzung der Nachkriegsentwicklungen war die Theorie von der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Diese basierte im Allgemeinen auf der von Marx formulierten These, dass es durch den Grundwiderspruch des Kapitalismus – den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Form der Aneignung – zu tiefgreifenden periodischen Wirtschaftskrisen, Kriegen und Klassenkämpfen komme,27 sowie im Speziellen auf Lenins Imperialismustheorie:28 Lenin behauptete, dass der Kapitalismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in sein höchstes und letztes Stadium eingetreten sei – in das Stadium des Imperialismus. Dieses sei gekennzeichnet durch die Entstehung von Monopolen, durch die in Politik und Wirtschaft führende Rolle von Grossbanken sowie durch internationale Kartelle und koloniale Ausbeutung. Durch den Imperialismus gerate der Kapitalismus in eine allgemeine Krise; er werde zum «parasitären, verfaulenden»,29 «sterbenden»30 Kapitalismus am «Vorabend der sozialistischen Revolution».31 Seine Ablösung durch den Sozialismus und den Kommunismus werde notwendig und unvermeidlich.
Allerdings kam es trotz Krisen und Kriegen nicht zum erwarteten raschen Untergang des Kapitalismus. Dieser Entwicklung trug die KPdSU zu Beginn der 1960er-Jahre Rechnung: Sie passte die Theorie von der allgemeinen Krise des Kapitalismus an die Realität an. Die offizielle Doktrin lautete nun, dass die Krise des Kapitalismus beziehungsweise der Übergang zum Kommunismus eine Periode von längerer Dauer sei und in drei Etappen unterteilt werden könne:32
Die erste Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus habe begonnen mit der Entfesselung des Ersten Weltkriegs durch die imperialistischen Länder. Durch die Oktoberrevolution habe der Kapitalismus aufgehört, das einzige und allumfassende sozial-ökonomische Weltsystem zu sein; der Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus sei zum «Hauptinhalt der Weltgeschichte» geworden. Der «revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse» in den kapitalistischen Ländern habe einen stürmischen Aufschwung erlebt, worauf die «imperialistische Bourgeoisie» mit härtesten Gewaltmassnahmen gegenüber den Werktätigen reagiert und in einzelnen Ländern faschistische Regimes errichtet habe. Die aggressivsten Gruppen der «Monopolbourgeoisie» hätten durch Anwendung nackter Gewalt, vor allem in Form eines neuen Weltkriegs, einen Ausweg aus der Krise zu finden versucht.
Die zweite Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus habe begonnen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs und sich fortgesetzt mit den sozialistischen Revolutionen in einer Reihe von Ländern Europas und Asiens.33 Diese Etappe sei durch vier Merkmale charakterisiert gewesen: 1. das Abfallen mehrerer Länder Europas und Asiens vom Kapitalismus und die Verwandlung des Sozialismus in ein Weltsystem; 2. den fortschreitenden Zerfall des imperialistischen Kolonialsystems; 3. das Heranwachsen neuer Widersprüche zwischen Staaten des imperialistischen Lagers, vor allem aufgrund des amerikanischen Imperialismus und seines Kampfes um die Weltherrschaft; 4. die weitere Vertiefung und Erweiterung der Klassenantagonismen in den kapitalistischen Ländern. Die Imperialisten hätten sich mit diesen historischen Veränderungen nicht abgefunden: «Unmittelbar nach Kriegsende begannen sie eine fieberhafte Aufrüstung, um ein neues Weltgemetzel vorzubereiten, und sie entfesselten den kalten Krieg34 gegen die Länder des Sozialismus. Die zweite Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus war durch die verstärkte Aggressivität des Imperialismus, durch die Verschärfung der die Welt bedrohenden Kriegsgefahr gekennzeichnet.»35
Im November 1960 kamen die Vertreter der kommunistischen Parteien zum Schluss, dass in der Entwicklung der allgemeinen Krise des Kapitalismus eine neue, dritte Etappe begonnen habe. Diese Etappe, welche im Gegensatz zu den beiden früheren Etappen nicht im Zusammenhang mit einem Weltkrieg entstanden sei, sei gekennzeichnet durch das beschleunigte Hinüberwachsen des «Monopolkapitalismus» in den «staatsmonopolistischen Kapitalismus».36 Am deutlichsten zum Ausdruck komme der staatsmonopolistische Kapitalismus in der Politik der «kapitalistischen Integration», welche «gigantische staatsmonopolistische Vereinigungen» wie die Montanunion, Euratom, EWG und EFTA hervorgebracht habe. Diese seien – im Unterschied zu gewöhnlichen internationalen Kartellen privater Monopole – das Resultat einer Übereinkunft zwischen Regierungen; dahinter stünden jedoch ebenfalls die Interessen und der Wille der Finanzoligarchie: «Der ‹Gemeinsame Markt› – das ist das ‹Europa der Trusts›, die moderne Form der Neuaufteilung der Märkte zwischen den grössten Monopolen.»37 Die so entstandenen internationalen staatsmonopolistischen Vereinigungen seien ein Mittel der Imperialisten zur Unterdrückung der demokratischen Bewegungen, der Arbeiterbewegungen sowie – mittels einer Politik des «Neokolonialismus» – der nationalen Befreiungsbewegungen. Initiiert worden sei die kapitalistische Integration von den USA, welche auf diese Weise versuchen würden, das «Vereinigte Europa» in das «Fahrwasser» ihrer aggressiven Politik gegen die sozialistischen Länder zu bringen und so ihre führende Rolle in der kapitalistischen Welt abzusichern. Untrennbar mit dem Staatsmonopolismus verbunden seien die Militarisierung der Wirtschaft sowie die Aufrüstung und der Ausbau der Militär- und Polizeifunktionen, was langfristig auf die Erschöpfung der Volkswirtschaft hinauslaufe. Dies ziehe eine Reduktion der Staatsausgaben für soziale und kulturelle Zwecke nach sich und führe zur «Aufpeitschung des Chauvinismus». Alle diese Erscheinungen würden Lenins Voraussagen über die zunehmende «Fäulnis» des Kapitalismus in seinem letzten Stadium38 bestätigen. Und auch wenn die kapitalistische Wirtschaft in einzelnen Fällen trotz ihrer «Fäulnis» weiterwachse, so sei der Prozess der fortschreitenden Veränderung des Kräfteverhältnisses zu Gunsten des sozialistischen Lagers dennoch nicht aufzuhalten. Die «gegenwärtige Epoche» wurde dementsprechend charakterisiert als eine Epoche, in welcher «der Imperialismus […] in das Stadium seines Niedergangs und Untergangs eingetreten» sei, als «eine Epoche der Revolutionen» sowie «des Übergangs immer neuer Völker zum Sozialismus und des endgültigen Sieges von Sozialismus und Kommunismus auf der ganzen Welt».39
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten: In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg galt im Ostblock die Meinung, dass der Kapitalismus sich in seinem Endstadium befinde und der Übergang zum Sozialismus in kurzer beziehungsweise absehbarer Zeit bevorstehe.
1.3 Die marxistisch-leninistischen Ansichten bezüglich Krieg und Frieden
Derjenige Aspekt des Marxismus-Leninismus, welcher das Verhalten des Ostblocks in militärischer Hinsicht hauptsächlich und direkt beeinflusste, war dessen Kriegsund Friedenslehre. Aufgrund der Wichtigkeit dieses Zusammenhangs werden die entsprechenden Ansichten im Folgenden ausführlich dargestellt.
1.3.1 Die Ansichten bezüglich Krieg
In diesem Unterkapitel soll die Entwicklung der kommunistischen Kriegstheorie von Marx bis Brežnev aufgezeigt werden. Um die Veränderungen und Kontinuitäten herausarbeiten zu können, sind die zu einer bestimmten Zeit gültigen Ansichten in Bezug auf Krieg systematisch hinsichtlich folgender Teilaspekte untersucht worden:
– die Ansichten über die Ursachen (1), die Funktionen (2) und die (Aus-)Wirkungen (3) von Krieg
– die grundsätzliche Einstellung zum Krieg: Sind alle Kriege schlecht beziehungsweise ungerecht? Oder gibt es auch gute, gerechte Kriege? (4)
– die Haltung zum Akt der Aggression, das heisst zum Beginnen eines Kriegs (5)
– die Ansichten über die Voraussetzungen für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten (6)
– die Ansichten über die Möglichkeit, den Sozialismus auf friedlichem, evolutionärem Wege zu erreichen (7)
– die Ansichten über die Faktoren, die über Sieg und Niederlage in einem Krieg entscheiden (8)
– die Ansichten über das Ausmass beziehungsweise die Form der Austragung eines Kriegs (9)
– die Ansichten über die Voraussetzungen für die Beendigung eines Kriegs (10)
– die Ansichten über die Möglichkeit der gänzlichen Abschaffung beziehungsweise Vermeidung von Krieg (11)
1.3.1.1 Marx’ und Engels’ Kriegsverständnis
(1) Wie sämtliche gesellschaftlichen Erscheinungen erklärten Marx und Engels auch das Phänomen «Krieg» anhand ihrer Theorie des historischen Materialismus.40 Sie gingen beim Aufzeigen der Kriegsursachen also von der materiellen, ökonomischen Grundlage des sozialen Lebens aus, das heisst von der sogenannten «Produktionsweise» mit den beiden Elementen «Produktivkräfte» und «Produktionsverhältnisse»: Wenn – so Marx und Engels – die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse nicht mehr übereinstimmten, verschärften sich die Widersprüche zwischen den sozialen Klassen, von denen die einen durch ihre Interessen mit den alten, die anderen aber mit den heranreifenden neuen Produktionsverhältnissen verbunden seien; die wachsenden Klassengegensätze führten dann zwangsläufig zu Krisen und Kriegen. Diese Vorstellung fassten Marx und Engels wie folgt zusammen: «Alle Kollisionen der Geschichte haben […] nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform.»41 Generell lässt sich festhalten: Marx und Engels sahen den Grund – den alleinigen Grund – für Krieg in der Existenz eines Klassensystems, das heisst einer Gesellschaft, in welcher es eine «Ausbeuterklasse» und eine «ausgebeutete Klasse» gibt.
Im konkreten Fall der kapitalistischen Gesellschaftsform führten Marx und Engels die Entstehung von Krieg letztlich auf die Grundlage der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zurück, nämlich auf die Vorherrschaft des privaten Eigentums über die gesamten Produktionsmittel. Diese habe die Ausbildung eines immer schärferen Gegensatzes zwischen zwei antagonistischen Klassen ermöglicht: der «Ausbeuterklasse» der Kapitalisten, die wegen ihrer Kontrolle über die Produktionsmittel auch immer die herrschende Klasse bildeten, sowie der «ausgebeuteten Klasse» der Lohnarbeiter, welche zwar persönlich frei, jedoch der Produktionsmittel beraubt und deshalb gezwungen seien, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
(2) Marx und Engels hielten grundsätzlich sowohl die «ausbeutende» wie auch die «ausgebeutete» Klasse für fähig, einen Krieg zu beginnen. Allerdings würden die beiden Klassen mit einem solchen Schritt komplett unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen:42 Für die «Ausbeuterklasse» der Kapitalisten, die als herrschende Klasse den Staatsapparat und damit auch die Armee kontrolliere, stelle Krieg ein Instrument zur Besitz- und Herrschaftssicherung dar. So würden die Kapitalisten immer dann einen Krieg entfesseln, wenn sie sich davon wirtschaftliche Vorteile – beispielsweise grössere Märkte für ihre Industrien oder Zugang zu billigen Arbeitskräften und Rohstoffen – und/oder politischen Machtzuwachs versprächen. Solche Kriege würden logischerweise meistens von unabhängigen souveränen Staaten geführt und verfolgten den konkreten Zweck der territorialen Vergrösserung, der Plünderung und/oder der Befriedigung von dynastischen Ambitionen.43 Marx und Engels sahen allerdings nicht nur diesen direkten Nutzen, den die Kapitalisten angeblich aus einem Krieg zogen. Sie wiesen darauf hin, dass die «Ausbeuterklasse» zusätzlich von der blossen Existenz des Phänomens «Krieg» profitiere: Solange es nämlich den Krieg als Erscheinung gebe, müssten Armeen unterhalten werden, und diese könnten von der herrschenden «Bourgeoisie» in Friedenszeiten dafür eingesetzt werden, die eigenen Arbeiter niederzuhalten. Eine ganz andere Funktion als für die «Ausbeuterklasse» erfüllt Krieg gemäss Marx und Engels für die «ausgebeutete Klasse»: Für diese stelle Krieg ein Mittel zum Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft und zur Errichtung der sozialistischen Ordnung dar.
Als Quintessenz des eben Gesagten lässt sich festhalten, dass Krieg aus der Sicht von Marx und Engels ein Mittel zur Durchsetzung der Interessen und Ziele einer bestimmten Klasse ist. Dabei ist anzumerken, dass Krieg für Marx und Engels nur eines von mehreren Mitteln darstellt, welche eine Klasse anwenden kann, um ihre Ziele zu erreichen. Andere – gewaltlose – Mittel stellen beispielsweise Drohungen, Bestechung oder aber Zugeständnisse dar.44
(3) Marx und Engels sahen sowohl negative als auch positive Auswirkungen von Krieg. Als wichtigstes Negativum vermerkten sie, dass Kriege riesigen materiellen Schaden sowie schreckliches Elend und Leiden verursachten.45 Gerade das «Proletariat» und die Bauernschaft seien davon besonders stark betroffen. Wegen der Verbesserungen in der Militärtechnologie, welche um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hätten, würden zukünftige Kriege sogar noch wesentlich blutiger und grausamer sein als die bisherigen. Als weiteren negativen Punkt führten Marx und Engels an, dass die meisten Kriege weitere Kriege nach sich zögen. Dies sei deshalb der Fall, weil die im ersten Konflikt unterlegene Partei früher oder später versuchen würde, gewaltsam die Verhältnisse wieder zu ihren Gunsten zu verändern.
Als positive Auswirkung von Krieg registrierten Marx und Engels demgegenüber die mögliche Beschleunigung des revolutionären Prozesses in Richtung Kommunismus:46 Marx und Engels hatten festgestellt, dass jeder Krieg den gesellschaftlichen Strukturen der beteiligten Länder einen gewissen Druck auferlegte und den Niedergang sowie die Ablösung insbesondere von veralteten wirtschaftlichen und politischen Ordnungen fördern konnte.47 Selbst die aus einem Krieg siegreich hervorgegangenen Gesellschaften waren davon betroffen; die besiegten umso stärker. Diese Erkenntnis hatte Marx und Engels auf die These von der revolutionsfördernden Wirkung von Krieg gebracht: Jeder Krieg – auch ein von der «Ausbeuterklasse» geführter – könne unter Umständen den historischen Prozess in Richtung Kommunismus vorantreiben.48 Eine solche Beschleunigung des revolutionären Prozesses war aus marxistischer Sicht natürlich zu begrüssen. Marx und Engels hegten zeit ihres Lebens hinsichtlich jeder kriegerischen Auseinandersetzung die Hoffnung, sie werde den revolutionären Prozess beschleunigen.
(4) Marx’ und Engels’ Auffassung, die Funktion von Krieg bestehe darin, die von einer Klasse verfolgten Ziele durchzusetzen, sowie ihre These von der revolutionsfördernden Wirkung von Krieg bildeten die Grundlage für ihre Einstellung zum Krieg:49 Obwohl Marx und Engels den Krieg angesichts seiner negativen Begleiterscheinungen und Folgen grundsätzlich für ein Übel hielten,50 lehnten sie ihn – im Unterschied zu den Pazifisten – nicht prinzipiell ab. Sie hiessen einen Krieg immer dann gut und hofften auf seinen Ausbruch, wenn sie der Meinung waren, er sei für die Sache des Kommunismus förderlich. Wenn sie jedoch das Gefühl hatten, ein Krieg diene lediglich den Interessen der «Ausbeuterklasse», dann lehnten sie diesen Krieg ab und setzten sich für die Wahrung des Friedens ein. War ein Krieg einmal ausgebrochen, unterstützten Marx und Engels logischerweise jene Kriegspartei, von deren Sieg sie sich den grössten Nutzen für die kommunistische Sache versprachen. Doch wie fanden sie heraus, welche Kriegspartei dies war?
In gewissen Fällen lag es natürlich auf der Hand, wem die Unterstützung der Marxisten zuteil werden musste. So konnte eine benachteiligte oder unterdrückte Bevölkerungsgruppe eines Landes, welche gegen die betreffende herrschende Schicht kämpfte und dabei aus marxistischer Perspektive progressive Ziele verfolgte, sich des Beistands der Marxisten sicher sein.51 Dies war beispielsweise bei Bürgerkriegen, die zwischen einer «ausgebeuteten Klasse» und einer «Ausbeuterklasse» geführt wurden, der Fall. Als weiteres Beispiel können nationale Freiheitskriege angeführt werden, das heisst Kriege zwischen Nationen, welche staatliche Unabhängigkeit anstrebten, und bestehenden Staaten. Hier sympathisierten Marx und Engels meistens mit den nationalen Freiheitskämpfern. Dies deshalb, weil der Aufbau von starken, zentralistischen Nationalstaaten – und folglich der Untergang der im 19. Jahrhundert noch zahlreich bestehenden, auf feudalen Strukturen basierenden Vielvölkerstaaten und Kleinstaaten – aus marxistischer Sicht eine fortschrittliche Entwicklung darstellte. Generell galt nämlich die Auffassung, dass der Kommunismus nur in Nationalstaaten erreicht werden konnte. Die meisten der erwähnten Bürgerkriege sowie der nationalen Freiheitskriege waren für Marx und Engels also eindeutig gute Kriege. Dabei ist anzufügen, dass die beiden Vordenker des Kommunismus selbst nie die Bezeichnung «gut» verwendeten, sondern diverse andere Ausdrücke – darunter «legitim», «gerecht» und «progressiv».52
Den eindeutig guten Kriegen standen die eindeutig schlechten Kriege gegenüber – von Marx und Engels unter anderem als «illegitim», «ungerecht» und «reaktionär» bezeichnet.53 Schlechte Kriege waren für die Marxisten diejenigen Kriege, bei denen sowohl die Ziele der Kriegsparteien als auch die Wirkung des Kriegs im marxistischen Sinn schlecht waren, das heisst Kriege, die nicht der Sache des Kommunismus, sondern bloss den Interessen der «Ausbeuterklasse» dienten. Dazu zählten die meisten jener Kriege, die territoriale Vergrösserung, Plünderung oder Befriedigung von dynastischen Ambitionen zum Ziel hatten, insbesondere Kolonialkriege. Derartige Kriege lehnten die Marxisten grundsätzlich ab.
Neben den eindeutig guten und den eindeutig schlechten Kriegen gab es auch Kriege, die von Marx und Engels als teilweise gut und teilweise schlecht charakterisiert wurden. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem solche Kriege, in denen sämtliche Kriegsparteien der herrschenden Schicht angehörten; konkret also entweder Kriege zwischen den «Ausbeuterklassen» mehrerer Staaten (internationale Kriege) oder Kriege zwischen verschiedenen Gruppen der «Ausbeuterklasse» eines Staates (Bürgerkriege). In diesen Fällen waren die Ziele der Kriegsparteien aus marxistischer Sicht schlecht, da der «Ausbeuterklasse» nützend und damit nicht «fortschrittlich». Die Wirkung solcher Kriege konnte für die Sache des Kommunismus jedoch sehr wohl gut sein, nämlich dann, wenn die Kriege Entwicklungen auslösten, die in marxistischem Sinn progressiv waren. Durfte von einem Krieg derartige Wirkung erwartet werden, dann hiessen Marx und Engels ihn gut, und ihre Unterstützung galt logischerweise derjenigen Seite, von deren Sieg sie sich die grösste «progressive» Wirkung versprachen. Welche Seite dies war, konnten sie oft erst nach einer genauen Analyse der Politik der am Krieg teilnehmenden Parteien sowie der möglichen Folgen des Kriegs entscheiden.
(5) Wie soeben ausgeführt, fällten Marx und Engels ihre Entscheidung darüber, welche Seite in einem Krieg sie unterstützen sollten, anhand zweier Fragen: Welche Ziele verfolgen die Kriegsparteien? Und: Ist der Sieg der einen oder der anderen Kriegspartei der Sache des Kommunismus nützlich? Die Frage, wer in einem Krieg der Aggressor54 war, spielte für Marx und Engels diesbezüglich keine Rolle.55 Es war nämlich so, dass Marx und Engels den Akt der Aggression, das heisst das Beginnen eines Kriegs, nicht generell ablehnten. Vielmehr hiessen sie die Aggression immer dann gut, wenn diese ihrer Ansicht nach der Sache des Kommunismus förderlich war. Dabei ist Folgendes zu betonen: Marx und Engels hielten es nicht nur für richtig, dass die Kommunisten von jedem Krieg zu profitierten suchten, welcher durch Nicht-Kommunisten angefangen worden war; sie hielten es auch für richtig, dass die Kommunisten, wenn immer diese der Meinung waren, das Wohl ihrer Sache verlange es, selbst einen Krieg begannen. Mit anderen Worten: Marx und Engels sahen im Krieg ein Mittel zur Erreichung ihrer revolutionären Ziele und befürworteten das direkte eigene Einsetzen dieses Mittels. Aus der Sicht von Marx und Engels bedeutete das Beginnen eines Kriegs mit dem Ziel, die Sache des Kommunismus zu fördern, die Inkaufnahme eines kleinen Übels für die Erreichung des Guten – ganz nach dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel.
(6) Die Tatsache, dass Marx und Engels es grundsätzlich für richtig hielten, Kriege anzufangen, wenn die Sache des Kommunismus dies verlangte, bedeutet freilich nicht, dass sie in jedem solchen Fall tatsächlich den Beginn eines Kriegs befürworteten. Es war vielmehr so, dass für Marx und Engels zwei Voraussetzungen stets erfüllt sein mussten, damit sie die Anwendung von Krieg als Mittel zur Förderung des Kommunismus guthiessen: Zum einen musste Krieg das zweckmässigste, beste Mittel zur Erreichung des jeweiligen Zieles sein. Und zum anderen musste in diesem Krieg der Sieg gesichert sein.
Zur ersten genannten Voraussetzung:56 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Marx und Engels den Krieg wegen seiner schlimmen Auswirkungen grundsätzlich für ein Übel hielten. Dementsprechend zogen sie das Beginnen eines Kriegs nur dann in Betracht, wenn sie ihr Ziel, die Förderung des revolutionären Prozesses, nicht mit friedlichen Mitteln erreichen konnten. Einen Krieg zu führen, obwohl das jeweilige konkrete Ziel auch mit Verhandlungen, mit Drohungen, mit Bestechung oder aber mit Zugeständnissen erreicht werden konnte, war aus marxistischer Sicht eine politische Verantwortungslosigkeit ohnegleichen.
Zur zweiten genannten Voraussetzung:57 Die Betrachtungsweise des Kriegs als ein Mittel zur Durchsetzung der kommunistischen Ziele führte Marx und Engels dazu, die Forderung aufzustellen, dass ein Krieg nur dann begonnen werde, wenn der Sieg in diesem Krieg als gewiss angesehen werden könne. Dies deshalb, weil ja nur der Sieger in einem Krieg seine Ziele durchsetzen konnte.
(7) Im Zusammenhang mit der erstgenannten Voraussetzung für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten – der Voraussetzung, dass ein Ziel mit friedlichen Mitteln nicht erreicht werden konnte – drängt sich eine Frage auf: Hielten Marx und Engels ihr Ziel, die weltweite Errichtung des Sozialismus, grundsätzlich mit friedlichen Mitteln für erreichbar, oder waren sie der Meinung, es sei auf jeden Fall Krieg und Gewalt notwendig, um die bestehende Ordnung zu stürzen?58 Ihre Antwort auf diese Frage fiel nicht eindeutig aus: Auf der einen Seite gibt es in den Schriften diverse Belege für eine von der Notwendigkeit von Gewalt ausgehende Haltung. So betonte Marx, dass die herrschende «Ausbeuterklasse» ihrer Beseitigung stets Widerstand entgegensetzen werde und dass die «ausgebeutete Klasse» deshalb «nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen»59 könne, sondern sie zerschlagen und die Macht mit Gewalt ergreifen müsse. Zugleich hob Engels wiederholt hervor, die Armee müsse als Werkzeug für den Übergang zum Sozialismus immer stärker ins Auge gefasst werden. Auf der anderen Seite gibt es jedoch – vor allem von Marx – auch Äusserungen, die dafür sprechen, dass Marx und Engels an die Möglichkeit einer friedlichen Evolution und Reform geglaubt haben. So erklärte Marx gegen Ende seines Lebens, als er seine Hoffnungen auf grosse Fortschritte im revolutionären Prozess enttäuscht sah, dass der Weg zum Sozialismus möglicherweise ein langwieriger Prozess sei, der auch in einem relativ friedlichen Übergang ohne direkte revolutionäre Aktion stattfinden könne.
(8) Auch aus der zweiten Voraussetzung für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten, nämlich dass der Sieg in diesem Krieg als gesichert gelten müsse, ergibt sich eine Anschlussfrage: Welches waren für Marx und Engels die über Sieg und Niederlage in einem Krieg entscheidenden Faktoren?60 Die Antwort darauf ist klar und überrascht angesichts der Tatsache, dass die kommunistische Lehre den gesamten Verlauf und sämtliche Erscheinungen der menschlichen Geschichte auf die materiellen Verhältnisse zurückführt, nicht: Der entscheidende Faktor sei die wirtschaftliche Basis einer Gesellschaft.61 Es obsiege in einem Krieg somit letztlich immer diejenige Kriegspartei, welche über die stärkere ökonomische Grundlage verfüge. Marx und Engels begründeten dies damit, dass diejenige Gesellschaft, welche die stärker entwickelte Wirtschaft besitze, die qualitativ und quantitativ bessere Kriegsausstattung – insbesondere Waffen – besitze. Obschon Marx und Engels die ökonomischen Ressourcen als von zentraler Wichtigkeit in einem Krieg ansahen, liessen sie nicht unerwähnt, dass auch andere Faktoren den Kriegsverlauf beeinflussen können, insbesondere für kurze Zeit. Die bedeutendsten dieser übrigen Faktoren waren gemäss Engels die «Qualität und Quantität der Bevölkerung»62 der jeweiligen Kriegsgegner. Unter der «Qualität» der Bevölkerung verstand Engels menschliche Eigenschaften wie Mut, Tapferkeit, Standhaftigkeit, Intelligenz, Disziplin und Organisationsfähigkeit. Mit der «Quantität» der Bevölkerung meinte er demgegenüber die Bevölkerungszahl. Marx und Engels hielten es für nicht ausgeschlossen, dass eine von ihrer wirtschaftlichen Basis her schwächere Kriegspartei dank einer Überlegenheit im Bereich der menschlichen Faktoren den Sieg in einem Krieg davontragen konnte. Allerdings sahen sie diese Möglichkeit nur im Fall eines «Blitzkrieges», wenn es einer wirtschaftlich unterlegenen Kriegspartei gelingen sollte, den Sieg zu erreichen, bevor der Gegner die langfristigen Vorteile seines grösseren ökonomischen Potentials zur Geltung bringen könne.
(9/10) Zum Ausmass beziehungsweise zur Form der Austragung eines bestimmten Kriegs sowie zu den Voraussetzungen für die Beendigung eines Kriegs finden sich in den Schriften von Marx und Engels keine spezifischen Aussagen. Mit diesen Aspekten sollten sich erst ihre ideologischen Nachfolger – insbesondere Lenin – vertieft befassen.
(11) Abschliessend muss noch die Frage beantwortet werden, welche Ansicht Marx und Engels bezüglich der Möglichkeit der Vermeidung beziehungsweise Abschaffung von Krieg vertraten.63 Marx und Engels waren der Überzeugung, dass Krieg letztlich abschaffbar sei. Zu dieser Haltung waren sie aufgrund der Auffassung gelangt, Krieg sei ein mit dem Kapitalismus untrennbar verbundenes Produkt der Klassengesellschaft. Wenn dem nämlich so ist, dann muss nach der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus das Phänomen «Krieg» verschwinden.
Voraussetzung für das «Absterben» des Kriegs war aus marxistischer Sicht allerdings, dass der Kommunismus nicht nur in einem Land, sondern auf der ganzen Welt errichtet wird. Andernfalls werde es nämlich Staaten geben, welche nicht kommunistisch seien und somit durch «Ausbeuterklassen» beherrscht würden; und diese «Ausbeuterklassen» könnten dann natürlich weiterhin zum Mittel des Kriegs greifen, wann immer sie das Gefühl hätten, dies würde ihren Interessen nützen. Solange der Gegensatz zwischen einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse bestehe, werde es deshalb – so Marx und Engels – stets Kriege geben.
1.3.1.2 Die Weiterentwicklung des marxistischen Kriegsverständnisses und dessen Anpassung an die Bedürfnisse des Sowjetstaates durch Lenin
Zu Marx’ und Engels’ Zeiten hatte kein Land existiert, in welchem die «ausgebeutete Klasse» die Macht innegehabt hatte, und folglich auch kein Land, welches eine Militäraktion zu Gunsten der Interessen der «Ausgebeuteten» hätte unternehmen können. Einige Jahrzehnte später präsentierte sich eine veränderte Situation: Nach der Gründung Sowjetrusslands im Anschluss an den Ersten Weltkrieg gab es auf der Welt einen ersten «proletarischen» Staat. Als Folge dieser neuen Konstellation sahen sich die kommunistischen Theoretiker vor die Aufgabe gestellt, sich mit dem Problem von Krieg oder Frieden zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten –konkret zwischen Sowjetrussland und den kapitalistischen Mächten – auseinanderzusetzen. Die entscheidende Figur bei der entsprechenden Ergänzung und Weiterentwicklung der kommunistischen Kriegstheorie war Lenin. Nach Auffassung des amerikanischen Sowjetunion-Experten Thomas W. Wolfe bestand Lenins Leistung zwar eher darin, die Theorien anderer dem praktischen Ziel der Machtergreifung anzupassen, als eigene Theorien aufzustellen.64 Sein Erfolg als Praktiker der Revolution sowie als Führer des ersten «proletarischen» Staates habe es jedoch mit sich gebracht, dass seine Ideen zur Grundlage für die gesamte spätere marxistisch-leninistische Kriegslehre geworden seien. Lenins Ansichten über Krieg sollen im Folgenden systematisch dargestellt werden.
(1) In Bezug auf die Ursache von Krieg übernahm Lenin voll und ganz die von Marx und Engels entwickelte Erklärung:65 Kriege seien letztlich durch die antagonistische Struktur der Klassengesellschaft bedingt und somit ökonomischer Natur.66 Konkret komme es immer dann zu einem Krieg, wenn zwei oder mehrere Staaten oder aber die Klassen innerhalb eines Staates entgegengesetzte Politiken verfolgten und keine Seite den Forderungen der anderen Seite nachgebe.
Lenin liess es allerdings nicht bei dieser Aussage bewenden, sondern er ergänzte sie – im Rahmen seiner Imperialismustheorie – um eine eigene Erkenntnis: Im Zeitalter des Imperialismus, der höchsten Stufe des Kapitalismus, nehme die Wahrscheinlichkeit von Kriegen wegen der verstärkten ökonomischen Konkurrenzsituation massiv zu. Das beste Beispiel für die Richtigkeit dieser These sah Lenin im Ersten Weltkrieg. Er interpretierte diesen nämlich als die logische Konsequenz des Wettrennens zwischen den führenden Kreisen der kapitalistischen Grossmächte um die Aufteilung der Welt: Dem Volk werde dieser Krieg verkauft als «Verteidigung des Vaterlandes», doch in Wirklichkeit sei es ein «Krieg zwischen zwei grossen Räubern um die Beherrschung und Ausplünderung der Welt», in welchem Millionen von Proletariern für die Interessen des Finanzkapitals ihr Leben lassen müssten.67
(2) Aus den vorhergehenden Erläuterungen lässt sich ableiten, dass sich Lenin auch bezüglich seiner Ansichten über die Funktion von Krieg nicht von seinen Vorgängern unterschied.68 Die Tatsache, dass er sich mit diesem Thema viel gründlicher beschäftigte als Marx oder Engels, spiegelt sich freilich in akzentuierteren Aussagen dazu. So sah Lenin im Krieg eines von mehreren möglichen Mitteln der Politik einer bestimmten Klasse zur Durchsetzung bestimmter ihrer ökonomischen und politischen Ziele. Zu dieser Erkenntnis hatte ihn nicht zuletzt seine Beschäftigung mit Carl von Clausewitz’ Klassiker «Vom Kriege» geführt.69 Der Clausewitz’sche Ausspruch, wonach der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen – nämlich gewaltsamen – Mitteln sei,70 wurde für Lenin «zum Ausgangspunkt und Urteilsmassstab für alle seine Betrachtungen und Deutungen des Krieges».71 So definierte Lenin das Phänomen «Krieg» folgendermassen: «‹Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik› der einen oder der anderen Klasse; und in jeder Klassengesellschaft, in der auf Sklaverei beruhenden, in der fronherrschaftlichen und in der kapitalistischen, hat es Kriege gegeben, die die Politik der unterdrückenden Klassen fortsetzten, aber es hat auch Kriege gegeben, die die Politik der unterdrückten Klassen fortsetzten.»72
Nach der Entstehung des Sowjetstaates gewann die Clausewitz’sche Konzeption des Kriegs als einer Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zusätzliche Bedeutung für Lenin:73 Die Clausewitz-Formel erlaubte es ihm, den Krieg als ein Instrument der Politik nicht nur kapitalistischer, sondern auch kommunistischer Staaten darzustellen – und damit als Fortsetzung des Klassenkonfliktes auf internationaler Ebene. Da mit Kriegen zwischen der Sowjetunion und den kapitalistischen Ländern gerechnet werden musste, war es wichtig, einerseits die Kriegsziele und die Politik des Sowjetstaates als Fortsetzung seiner fortschrittlichen, friedliebenden Politik hinzustellen und andererseits zu behaupten, kriegslüsterne kapitalistische Mächte wollten den Krieg zur Fortsetzung ihrer räuberischen Politik nutzen.
(3) Hinsichtlich der Wirkung von Krieg betonte auch Lenin vor allem den für ihn positiven Aspekt, dass Kriege den «revolutionären Prozess» beschleunigen könnten: «Es ist längst anerkannt, dass Kriege bei allen Schrecken und Nöten, die sie nach sich ziehen, mehr oder minder grossen Nutzen dadurch bringen, dass sie viel Morsches, Überlebtes und Abgestorbenes in den menschlichen Institutionen unbarmherzig aufdecken, enthüllen und zerstören.»74 Lenin konkretisierte den Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution in der im Rahmen seiner Imperialismustheorie formulierten Vorstellung vom Übergang der kapitalistischen zur kommunistischen Ordnung: Das Proletariat – beziehungsweise die Partei als Avantgarde – könne, müsse und werde die durch die «imperialistischen Kriege» zwangsläufig aufkommende grosse Unzufriedenheit der Völker ausnützen und mittels Weltrevolution die «Bourgeoisie» stürzen und den Kapitalismus abschaffen.75 Als «mächtiger Beschleuniger» erschien Lenin insbesondere der Erste Weltkrieg. Dieser war gemäss seinen Aussagen imstande, «einerseits den Gang der Weltgeschichte ungeheuer zu beschleunigen und anderseits weltumfassende Krisen, wirtschaftliche, politische, nationale und internationale Krisen von ungeahnter Intensität hervorzurufen.»76
(4) Aufgrund der revolutionsfördernden Wirkung von Krieg lehnte Lenin diesen wie Marx und Engels nicht grundsätzlich ab:77 «Je nach der geschichtlichen Situation, je nach den Klassenverhältnissen usw. muss zu verschiedener Zeit auch die Stellung zum Krieg eine verschiedene sein. Es ist sinnlos, ein für allemal, prinzipiell jede Teilnahme am Krieg ablehnen zu wollen.»78 Darüber, ob ein Krieg aus Lenins Sicht gut oder schlecht war, entschieden also – entsprechend der marxistischen Geschichtsauffassung – der Klassencharakter sowie die Zielsetzung dieses Kriegs.79
Gut – mit Lenins Worten «revolutionär», «fortschrittlich» oder «rechtmässig»80 – waren für Lenin nur Kriege, die von der unterdrückten Klasse zum Zwecke des Sturzes der herrschenden Klasse geführt wurden.81 Dazu zählte er die folgenden Kriege: erstens Freiheitskriege von Nationen gegen die sie unterdrückenden imperialistischen Grossmächte, zweitens die Bürgerkriege «des Proletariats gegen die Bourgeoisie, für den Sozialismus»82 als natürliche, und unter gewissen Bedingungen unausweichliche Folge des Klassenkampfes, und drittens die sogenannten «revolutionären Kriege».83 Mit dem Ausdruck «revolutionäre Kriege» bezeichnete Lenin einerseits defensive Kriege des Sozialismus zur Verteidigung des siegreichen Proletariats gegen die «Bourgeoisie» anderer Länder, andererseits aber auch offensive Kriege eines sozialistischen Staates zur Ausbreitung der proletarischen Revolution, das heisst Kriege mit dem Zweck, in anderen Staaten den Kommunismus einzuführen.
Inbegriff des schlechten – «reaktionären», «räuberischen» oder «habgierigen»84 – Kriegs war für Lenin der sogenannte «imperialistische Krieg».85 Damit war ein Krieg gemeint, der von im Stadium des Imperialismus befindlichen Ländern geführt wurde. Lenin verurteilte alle «imperialistischen Kriege» scharf und unterstützte in keinem Fall eine imperialistische Kriegspartei. Diesbezüglich unterschied er sich also von Marx und Engels, die ja Kriege zwischen kapitalistischen Staaten nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern stets überprüft hatten, ob der Sieg einer Seite der Sache des Kommunismus nützlich sein könnte. Wie ist die eindeutig ablehnende Haltung Lenins gegenüber «imperialistischen Kriegen» zu erklären? Zum einen ist sie darauf zurückzuführen, dass in Lenins Augen einem Krieg zwischen imperialistischen Staaten – im Gegensatz zu einem Krieg zwischen kapitalistischen Staaten – jegliches «progressive» Element fehlte.86 Dies deshalb, weil gemäss Lenins Imperialismus-Theorie im Imperialismus als der höchsten und letzten Stufe des Kapitalismus Fortschritte grundsätzlich ausgeschlossen sind.87 Zum anderen hing Lenins Haltung damit zusammen, dass die Arbeiterklasse – und damit der Rückhalt der kommunistischen Bewegung – verglichen mit den Zeiten von Marx und Engels viel grösser war: Anders als im 19. Jahrhundert, als die wenigen Marxisten angesichts ihrer geringen Macht praktisch gezwungen waren, für eine der «bourgeoisen» Kriegsparteien Stellung zu beziehen, um Fortschritte in Richtung proletarische Revolution zu erreichen, konnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die nun über beträchtliche Einflussmöglichkeiten verfügenden Kommunisten es sich leisten, einen Krieg komplett abzulehnen. Statt lediglich zuzuschauen und auf den Sieg einer Seite zu hoffen, waren die Kommunisten jetzt in der Lage, selbst im Sinn ihrer Sache aktiv zu werden: Sie konnten versuchen, die zwangsläufig instabilere Lage in den am Krieg teilnehmenden Ländern direkt auszunutzen und den «imperialistischen Krieg» in Bürgerkriege umzuwandeln mit dem Ziel des – wenn möglich weltweiten – Sturzes der Bourgeoisie.88
Im Zusammenhang mit der letzten Bemerkung darf darauf hingewiesen werden, dass es Lenin selbst gelang, sich die revolutionäre Wirkung von «imperialistischen Kriegen» zur Erreichung der eigenen Ziele zu Nutze zu machen: Im Jahr 1917 profitierte er von der inneren Schwäche Russlands nach den Niederlagen im Ersten Weltkrieg und führte mit Erfolg eine proletarische Revolution, die sogenannte «Oktoberrevolution», durch. Aus dieser ging der erste sozialistische Staat der Welt hervor: die Sowjetunion.
(5) Angesichts der grundsätzlichen Übereinstimmung Lenins mit Marx und Engels hinsichtlich der Funktion von Krieg und hinsichtlich der Einstellung zum Krieg überrascht es nicht, dass sich auch seine Haltung zum Akt der Aggression nicht von jener seiner Vorgänger unterschied:89 Gemäss Lenin kam es für die Bewertung eines Kriegs nicht darauf an, ob der Krieg seinen äusseren Merkmalen nach einen Angriffs- oder einen Verteidigungskrieg darstellte, sondern einzig und allein darauf, welche Klasse mit welchen Zielen diesen Krieg führte.90 Dementsprechend lehnte auch Lenin eine Aggression nicht grundsätzlich ab, sondern er befürwortete das Beginnen eines Kriegs immer dann, wenn dies durch die «ausgebeutete Klasse» zur Erreichung ihrer revolutionären Ziele geschah.91
Während Marx und Engels die Idee eines solchen «revolutionären Krieges» hauptsächlich auf die innerstaatliche Ebene – also auf einen Bürgerkrieg – bezogen hatten, befasste sich Lenin auch mit der Möglichkeit eines «revolutionären Krieges» auf der zwischenstaatlichen Ebene. Dies deshalb, weil ihm die Vision eines sozialistischen Staates zunehmend realistisch erschien. Bereits 1915 schlug er vor, dass nach dem Sieg des Sozialismus in einem Land das Proletariat dieses Landes den «Aufstand gegen die Kapitalisten» in anderen Ländern entfachen «und notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen» sollte.92 Als dann die Revolution in Russland den ersten «proletarischen Staat» hervorgebracht hatte, gewann diese Auffassung praktische Bedeutung: Dem neuen Sowjetstaat wurde die Pflicht zuteil, dem revolutionären Proletariat anderer Länder bei Bedarf zu Hilfe zu kommen, wenn nötig in Form eines offensiven «revolutionären Krieges».93
(6) Zum eben Gesagten ist einschränkend hinzuzufügen, dass Lenin wie Marx und Engels die Anwendung von Krieg als Mittel zur Förderung des Kommunismus nur unter den beiden Voraussetzungen guthiess, dass erstens das entsprechende Ziel der «ausgebeuteten Klasse» nicht mit friedlichen Mitteln zu erreichen war94 und dass zweitens der Sieg in diesem Krieg als sicher angesehen werden konnte.95 Nach der Entstehung der Sowjetunion gesellte sich dazu noch eine dritte Voraussetzung: Es musste gesichert sein, dass der politische Nutzen, den die Sowjetunion – als staatliche Verkörperung des Kommunismus – aus einem von ihr geführten Krieg zog, die Nachteile für sich – und damit für den Kommunismus als Ganzes – sowohl kurz- wie auch langfristig klar überwog.96 Mit anderen Worten: Ein Krieg durfte, selbst wenn der Sieg in diesem sicher erschien, nur dann angefangen werden, wenn er das von der kommunistischen Bewegung bereits Erreichte nicht gefährdete.
(7) Was die erste dieser drei Voraussetzungen für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass Lenin im Unterschied zu Marx und Engels eindeutig der Überzeugung war, dass das Hauptziel der kommunistischen Bewegung, die weltweite Errichtung des Sozialismus, mit friedlichen Mitteln – das heisst auf evolutionärem Wege – nicht erreicht werden könne.97 Lenins Meinung nach war auf jeden Fall Gewalt notwendig, um die bestehende Ordnung zu stürzen: «Wir haben stets gewusst, gesagt und immer wieder gesagt, dass man den Sozialismus nicht ‹einführen› kann, dass er im Verlauf des angespanntesten, heftigsten, bis zur Raserei, bis zur Verzweiflung zugespitzten Klassenkampfes und Bürgerkrieges heranwächst, dass zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus eine lange Periode der ‹Geburtswehen› liegt, dass die Gewalt stets Geburtshelfer der alten Gesellschaft ist, dass der Übergangsperiode von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft ein besonderer Staat entspricht (d. h. ein besonderes System der organisierten Gewalt über eine bestimmte Klasse), nämlich: die Diktatur des Proletariats. Die Diktatur des Proletariats aber setzt voraus und bedeutet einen Zustand des latenten Krieges, einen Zustand militärischer Kampfmassnahmen gegen die Gegner der proletarischen Staatsmacht.»98
(8) Bezüglich der zweiten genannten Voraussetzung für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten – der Bedingung, dass der Sieg in diesem Krieg höchstwahrscheinlich sein musste – ist zu ergänzen, dass Lenin grundsätzlich wie Marx und Engels die wirtschaftliche Basis einer Gesellschaft als Hauptfaktor für den Sieg in einem Krieg betrachtete.99 Allerdings kam seiner Meinung nach einem anderen Faktor immer stärkere Bedeutung zu: Ausgehend von der Tatsache, dass Kriege zunehmend zu einer Angelegenheit des gesamten Volkes wurden, behauptete Lenin, der Ausgang eines Kriegs könne durch die «Moral» der Bevölkerungen der an diesem Krieg beteiligten Staaten entschieden werden. Dies gelte insbesondere dann, wenn ein «proletarisches» Land gegen ein «bourgeoises» Land kämpfe. In einem solchen Fall – so Lenin – würden die Truppen des Ersteren mit riesiger revolutionärer Begeisterung kämpfen, während diejenigen des Letzteren nur widerwillig dienen würden. Als Beleg für diese Behauptung verwies Lenin auf den russischen Bürgerkrieg von 1918–1920, in welchem die «bourgeoisen» antibolschewistischen Truppen trotz besserer Ausrüstung und Ausbildung von der Roten Armee besiegt worden waren.
Die Überzeugung, dass Soldaten, welche für die kommunistische Sache kämpften, im Allgemeinen einen viel höheren Einsatzwillen aufwiesen als Soldaten, welche im Dienste der «Bourgeoisie» standen, verleitete Lenin indes nicht zu einer Überschätzung des militärischen Potentials des jungen Sowjetstaates.100 Er war – wohl richtigerweise – der Meinung, dass die Rote Armee zu schwach sei, um erfolgreich Angriffe gegen die kapitalistische Welt führen zu können. Der Idee von offensiven «revolutionären Kriegen» stand er dementsprechend zunehmend vorsichtig gegenüber – erst recht, als 1920 der sowjetische Feldzug gegen Polen fehlschlug. In der Folge kam es unter Lenin nur noch einmal – unter Bedingungen, unter denen man sich des Sieges absolut sicher sein konnte – zu einem offensiven «revolutionären Krieg»: Im Frühjahr 1921 griff Sowjetrussland Georgien an, besetzte es und stürzte die dortige menschewistische Regierung.101 Anschliessend wurde der georgische Staat systematisch zerschlagen, in den Sowjetstaat eingegliedert und bolschewisiert.
(9) Im Unterschied zu Marx und Engels widmete sich Lenin recht intensiv der Frage, mit welchen Mitteln ein bestimmter Krieg geführt werde.102 Den Ausgangspunkt bildeten für ihn dabei zwei Grundaussagen von Clausewitz: Die erste besagt, die bekannte Clausewitz’sche Definition von Krieg anwendend, dass Staaten oder Bevölkerungsgruppen, die sich zum Führen eines Kriegs entschieden haben, solche Mittel und eine solche Strategie wählten, welche sie nicht nur den Krieg gewinnen liessen, sondern auch das dem Krieg zugrunde liegende politische Ziel. Anders gesagt: Die Strategie und die Mittel, die in einem Krieg angewandt werden, werden durch das jeweilige politische Ziel dieses Kriegs bestimmt. Die zweite Grundaussage lautet: Je wichtiger dieses jeweilige politische Ziel für den betreffenden Staat oder die betreffende Bevölkerungsgruppe ist, desto grössere Anstrengungen unternimmt diese Kriegspartei, das heisst, desto mehr und schwerere und grausamere Mittel setzt sie in diesem Krieg ein. Zum grausamsten Krieg, einem Krieg «auf Leben und Tod», kam es gemäss Clausewitz in jenen Fällen, wo das dem Krieg zugrunde liegende Ziel nicht bloss die Erreichung irgendeines materiellen Vorteils war, sondern die Vernichtung des Gegners aus Hass.
Lenin hielt diese Aussagen von Clausewitz grundsätzlich für richtig, mit der Einschränkung, dass dieser die entscheidende Bedeutung der Klassengegensätze auf den Verlauf der Geschichte nicht erkannt habe. Lenin passte die Clausewitz’schen Thesen deshalb im Sinn seines auf Klassenkämpfe fixierten Weltbildes an. Dabei kam er zum Schluss, dass Kriege zwischen unterschiedlichen Klassen – seien es innerstaatliche Bürgerkriege oder zwischenstaatliche Kriege zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten – in Bezug auf das Ausmass respektive die Form ihrer Austragung unmöglich «begrenzt» sein könnten. Er erklärte seine Ansicht wie folgt: Solche Kriege seien nicht einfach Kriege zwischen zwei zeitweilig verfeindeten Bevölkerungsgruppen oder Staaten, sondern Kriege zwischen zwei «von Natur aus» widerstreitenden Klassen. Dabei strebe die «Ausbeuterklasse» der Kapitalisten die totale Unterwerfung der Arbeiterklasse, und die «ausgebeutete» Klasse der Arbeiter die vollständige Vernichtung der «Kapitalistenklasse» an. Ein Krieg zwischen diesen Klassen bedeute somit für jede der beiden einen eigentlichen Existenzkampf, einen Kampf um ihr «Überleben». In einer solchen Situation würden beide Seiten logischerweise alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um einen Sieg des Gegners zu verhindern. Mit anderen Worten: Es komme zu einem «unbegrenzten Krieg».
(10) Die Frage, wann es zur Beendigung eines Kriegs komme, beantwortete Lenin dahin gehend, dass dies dann der Fall sei, wenn das dem Krieg zugrunde liegende politische Ziel vollständig erreicht sei.103 Diese Haltung ergab sich aus der von Marx und Engels aufgestellten und von Lenin wiederholten Forderung, dass ein Krieg nur dann angefangen werden dürfe, wenn kein anderes – friedliches – Mittel der Politik das gleiche Resultat verspreche wie Krieg. Daraus konnten nämlich für den Fall, dass tatsächlich der Entscheid zum Führen eines Kriegs gefällt wurde, die Gebote abgeleitet werden, dass erstens diese Kriegführung darauf ausgerichtet sein müsse, das entsprechende politische Ziel so schnell und ökonomisch als möglich zu erreichen, und dass zweitens der Krieg sofort beendet werden müsse, wenn das politische Ziel erreicht sei. Eine Fortsetzung des Kriegs «um des Krieges willen» kam für Lenin nicht in Frage.
(11) Angesichts der Tatsache, dass Lenin – ausgehend von Marx und Engels – die Existenz einer Klassengesellschaft als Kriegsursache ansah, verwundert es nicht, dass er wie seine Vorgänger die These vertrat, Kriege seien unvermeidbar, solange der Kapitalismus existiere.104 In Lenins Augen hatte diese Aussage durch das Eintreten des Kapitalismus in das Stadium des Imperialismus sogar noch verstärkte Gültigkeit erlangt: Die «Ergebnisse des modernen Monopolkapitalismus im Weltmassstab […] zeigen, dass auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind.»105
Die Theorie, dass Kriege unvermeidbar seien, solange nicht eine kommunistische klassenlose und staatenlose Weltordnung errichtet sei, bezog sich auf Kriege zwischen kapitalistischen Staaten. Es stellt sich somit die Frage, welche Haltung Lenin hinsichtlich der Vermeidbarkeit von Kriegen zwischen kapitalistischen und kommunistischen Staaten einnahm.106 Die Aussagen Lenins zu diesem Thema fielen zu unterschiedlichen Zeitpunkten sehr verschieden aus. Drei Phasen lassen sich erkennen:
Vor der Oktoberrevolution äusserte sich Lenin nicht direkt zur Frage der Vermeidbarkeit von Kriegen zwischen kapitalistischen und kommunistischen Staaten. Seine diesbezügliche Haltung lässt sich jedoch ableiten. Lenin war nämlich der Überzeugung, dass der langfristige Erfolg einer nationalen proletarischen Revolution von der «Weltrevolution» abhängig sei. Mit anderen Worten: Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in einem Land könne nur dann vollständig und endgültig gelingen, wenn auch der Rest der Welt – insbesondere die hoch entwickelten Industriestaaten Westeuropas und Nordamerikas – von der Revolution erfasst werde. Ein kommunistisch gewordenes Land müsse deshalb, wenn es eine Zukunft haben wolle, die Ausbreitung der Revolution vorantreiben, wenn nötig auch mit gewaltsamen Mitteln, sprich in Form eines offensiven «revolutionären Krieges».107 Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass Lenin die Ansicht vertrat, zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten sei der Krieg unvermeidlich.
Unmittelbar nach der Oktoberrevolution, als Lenins Bolschewiki in einem Bürgerkrieg gegen die von den westlichen Alliierten unterstützten antibolschewistischen Kräfte um die Macht in Russland kämpfen mussten und als in Westeuropa revolutionäre Unruhen herrschten, erklärte Lenin, ein bewaffneter Konflikt zwischen dem Sowjetstaat und den kapitalistischen Mächten sei absolut unausweichlich.108 Er behauptete dies wohl hauptsächlich deshalb, weil er sich davon eine Stärkung der nationalen Einheit sowie der Kampfbereitschaft der sowjetischen Bevölkerung versprach. Bezüglich des Auslösers des behaupteten unvermeidlichen Zusammenstosses zwischen den beiden Systemen äusserte sich Lenin zunehmend vage: Einerseits hielt er – da er den «endgültige[n] Sieg des Sozialismus in einem Lande» weiterhin für «unmöglich» erachtete109 – nach wie vor an der Idee eines offensiven «revolutionären Krieges» durch den Sowjetstaat fest.110 Andererseits jedoch betonte er nun immer stärker die angebliche Absicht der Kapitalisten, einen «konterrevolutionären Angriff» auf den ersten sozialistischen Staat zu unternehmen: Die Existenz eines Arbeiter- und Bauernstaates stelle für die in den kapitalistischen Ländern herrschende «Bourgeoisie» eine zu grosse Bedrohung dar, als dass diese sich damit abfinden könne.111 Ein sozialistischer oder kommunistischer Staat unterstütze nämlich das Proletariat in den kapitalistischen Ländern indirekt und direkt in seinen revolutionären Bestrebungen und bewirke so letztlich den Sturz der dortigen «Bourgeoisie». Wolle die «Bourgeoisie» dies verhindern, müsse sie den kommunistischen Staat zerschlagen.
Ab 1922, als Russland sich in einer wirtschaftlichen Krisensituation befand und in den Industriestaaten Westeuropas die Revolution ausgeblieben war, änderte sich Lenins Haltung: Er erwähnte nun vermehrt die Möglichkeit eines länger dauernden Friedens zwischen der Sowjetunion und den kapitalistischen Staaten. Von der Notwendigkeit der Weltrevolution sprach er kaum mehr. Im Gegenteil: Wie oben ausgeführt, distanzierte er sich – zumindest offiziell – zunehmend vom Vorhaben eines offensiven «revolutionären Krieges». Immer mehr tendierten seine Äusserungen dahin, dass es für eine friedliche Koexistenz der Sowjetunion und der kapitalistischen Staaten nur noch einen möglichen Hinderungsgrund gebe: eine Aggression von Seiten der Kapitalisten. Es ist offensichtlich, dass hinter diesen neuen Tönen Lenins die Absicht stand, der Sowjetunion eine «Verschnaufpause» zu ermöglichen, mit dem Ziel, die Gesellschaft zu stabilisieren und die Macht der Bolschewiki zu konsolidieren.
Der Überblick über Lenins Äusserungen zum Problem von Krieg oder Frieden zwischen Kommunismus und Kapitalismus zeigt, dass Lenin diesbezüglich keine einheitliche, auf der Theorie des historischen Materialismus basierende Doktrin entwickelte. Es war vielmehr so, dass er nach seiner Machtergreifung in Russland die Frage, ob es zwischen dem Sowjetstaat und den kapitalistischen Staaten zum Krieg kommen müsse, stets aufgrund der momentanen inneren und äusseren Lage des Landes beziehungsweise in Übereinstimmung mit den Zielen seiner jeweiligen Politik beantwortete.112
1.3.1.3 Die Anpassung des marxistisch-leninistischen Kriegsverständnisses an die Bedürfnisse des Sowjetstaates durch Stalin
Der Tod Lenins zu Beginn des Jahres 1924 fiel mit der allgemeinen Erkenntnis zusammen, dass es in absehbarer Zukunft in keinem anderen Land zu einer proletarischen Revolution kommen und die Sowjetunion somit bis auf weiteres der einzige sozialistische Staat bleiben würde. Lenins Nachfolger Iosif Vissarionovič Stalin sah sich daher in erster Linie mit der Aufgabe konfrontiert, das Überleben des damals noch relativ schwachen und instabilen Sowjetstaates inmitten kapitalistischer Staaten sicherzustellen. Folge davon war, dass er die marxistisch-leninistischen Lehrsätze auf die innen- und aussenpolitischen Ziele und Möglichkeiten der UdSSR abstimmen musste. Inwiefern die marxistisch-leninistische Kriegsdoktrin von dieser Anpassung an die realen Umstände betroffen war, soll im Folgenden aufgezeigt werden.
(1) Hinsichtlich der Ursache von Krieg hatte Stalin keine anderen Vorstellungen als seine Vorgänger. Die grundlegenden Aussagen von Marx und Engels zu diesem Punkt blieben voll und ganz in Kraft.
(2) Unverändert blieben auch die bislang gültigen Ansichten über die Funktion von Krieg: Stalin ging von dem Kriegsbegriff Lenins und damit von der Clausewitz-Formel aus.113
(3) Ebenfalls keine Abweichung von der bisherigen Linie gab es bei der Einschätzung der Wirkung von Krieg: Auch Stalin betonte den Wert von Krieg als Instrument zur Begünstigung der Revolution. Wie seine Vorgänger schrieb er dabei nicht nur den «normalen» Kriegen zwischen unabhängigen, souveränen Staaten revolutionäre Wirkung zu, sondern überhaupt allen Arten von Krieg, das heisst auch den Bürgerkriegen, den «nationalen Befreiungskriegen», und den «revolutionären Kriegen» sowieso.114 Die Theorie, dass Krieg den revolutionären Prozess in Richtung Kommunismus voranbringe, hielt Stalin endgültig dadurch für bestätigt, dass im Zuge des Zweiten Weltkriegs und von Kämpfen während der Entkolonialisierung in zahlreichen Staaten der Sozialismus eingeführt worden war.
(4) Was Stalins Einstellung zum Krieg angeht, so lag diese grundsätzlich ganz in der Tradition seiner Vorgänger. Auch Stalin lehnte Krieg nicht prinzipiell ab: «[…] sind wir doch nicht gegen jeglichen Krieg. Wir sind gegen den imperialistischen Krieg als konterrevolutionären Krieg. Aber wir sind für den Befreiungskrieg, den antiimperialistischen, revolutionären Krieg, ungeachtet der Tatsache, dass ein solcher Krieg bekanntlich nicht frei ist von den ‹Schrecken des Blutvergiessens›, sondern diese sogar reichlich aufweist.»115
Stalin unterschied wie Lenin zwischen guten und schlechten Kriegen. Er verwendete dafür jedoch nicht mehr die ganz gleichen Bezeichnungen wie Lenin: Erstere nannte er «progressiv» oder «gerecht», Letztere «reaktionär» oder «ungerecht».116
«Ungerechte» Kriege waren gemäss einer Kriegsklassifizierung aus dem Jahr 1928 «Kriege der imperialistischen Staaten untereinander», «Kriege der imperialistischen Gegenrevolution gegen die proletarische Revolution beziehungsweise gegen Länder, in denen der Sozialismus aufgebaut wird» und «Unterdrückungskriege der Imperialisten» gegen «Kolonialländer».117 Zehn Jahre später definierte Stalin den «ungerechten» Krieg kurz als «Eroberungskrieg, der das Ziel hat, fremde Länder zu erobern, fremde Völker zu versklaven».118
Als «gerechten» Krieg bezeichnete Stalin demgegenüber einen «Befreiungskrieg […], der das Ziel hat, entweder das Volk gegen einen äusseren Überfall und gegen Versuche zu seiner Versklavung zu verteidigen, oder das Ziel der Befreiung des Volkes von der Sklaverei des Kapitalismus, oder endlich das Ziel der Befreiung der Kolonien und abhängigen Länder vom Joche der Imperialisten».119
Abb. 11: Lenin im Alltag. (UdSSR, Silva-Verlag)
Abb. 12: Iosif Vissarionovč Stalin grüsst am 1. Mai 1951 von der Tribüne des Lenin-Mausoleums die Teilnehmer der Maidemonstration. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1951)
In dieser Aufzählung der «gerechten» Kriege fehlt interessanterweise der offensive «revolutionäre Krieg» der Sowjetunion gegen die kapitalistischen Länder.120 Wie lässt sich diese Tatsache erklären? Vorauszuschicken ist, dass das obige Zitat keinen Einzelfall darstellt, sondern insbesondere für die spätere Stalin-Zeit typisch ist. Eine von Peter H. Vigor, dem Autor des Buches «The Soviet View of War. Peace and Neutrality» durchgeführte Gesamtanalyse der offiziellen Äusserungen und Publikationen während der Herrschaft Stalins (1924–1953) hat nämlich ergeben, dass die Erwähnung des offensiven «revolutionären Krieges» immer seltener wurde und schliesslich ganz unterblieb.121 Bedeutet dies, dass Stalin im Unterschied zu Lenin es grundsätzlich ablehnte, die Revolution mit Waffengewalt zu verbreiten? Keineswegs; auch Stalin hiess einen Krieg zum Zwecke der «Sowjetisierung» anderer Länder eigentlich stets gut. Warum dann trotzdem die Nichterwähnung dieser Kriegsart? Der Grund dafür war stets politisch-taktischer Natur: Nur wenige Monate nach Lenins Tod führte Stalin aus vornehmlich innenpolitischen Gründen122 die Doktrin vom «Sozialismus in einem Land» ein. Diese Theorie besagte, dass die sozialistische Gesellschaft in der Sowjetunion auch ohne erfolgreiche Weltrevolution erreichbar sei.123 Damit war implizit die Aussage verbunden, ein offensiver «revolutionärer Krieg» der Sowjetunion gegen die kapitalistische Staatenwelt sei nicht unbedingt notwendig. Die Doktrin vom «Sozialismus in einem Land» bildete somit die Verfestigung des in der letzten Phase der Herrschaft Lenins eingeschlagenen Richtungswechsels weg von der These von der Notwendigkeit eines offensiven «revolutionären Krieges». Wie bereits angetönt, war dieser Richtungswechsel rein situationsbedingt. Er wäre, falls sich die weltpolitischen Realitäten zu Gunsten der Sowjetunion geändert hätten, wohl wieder rückgängig gemacht worden. Bis zum Zweiten Weltkrieg änderten sich die weltpolitischen Realitäten jedoch nicht: Die Sowjetunion blieb – zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung – ein einsamer sozialistischer Staat in einer von kapitalistischen Mächten dominierten Welt und als solcher zu schwach, um einen offensiven «revolutionären Krieg» unternehmen zu können.124 Bis Ende der 1920er-Jahre griff Stalin die Idee des offensiven «revolutionären Krieges» zwar noch vereinzelt auf. Doch blieben seine diesbezüglichen Äusserungen stets relativ allgemein und unverbindlich; von der effektiven Umsetzung der Idee – nämlich einer sowjetischen Aggression gegen den Westen – sprach er nie. Ab Anfang der 1930er-Jahre unterliess er die Erwähnung des offensiven «revolutionären Krieges» dann vollständig beziehungsweise behauptete gar, die Sowjetunion habe niemals «Pläne und Absichten in Bezug auf die Weltrevolution» gehabt und lehne den «Export der Revolution» ab.125 Der Grund für diese plötzlich sehr defensive Haltung war zweifellos die zunehmende Angst vor einem Angriff Nazi-Deutschlands. Die offizielle Abkehr von der Doktrin des offensiven «revolutionären Krieges» aufgrund des Bestrebens Stalins, die UdSSR gegenüber der Weltöffentlichkeit als friedliches Land darzustellen, fand nach dem Zweiten Weltkrieg eine Fortsetzung – und zwar unter folgenden Umständen: In den Jahren nach dem Krieg gelang es der Sowjetunion, ihren Macht- beziehungsweise Einflussbereich zuerst auf Ost- und Mitteleuropa und anschliessend auf Asien auszudehnen, was im Westen als aggressiver Akt wahrgenommen wurde. Gleichzeitig war die Sowjetunion militärisch relativ schwach. Stalin fürchtete deshalb einen Angriff der kapitalistischen Westmächte. In dieser Situation hielt er es nicht für ratsam, von offensivem «revolutionärem Krieg» zu sprechen, da dies die Rufe im Westen nach einer sofortigen militärischen Zerschlagung der Sowjetunion und des Kommunismus zweifellos noch verstärkt hätte.
(5) Die vermeintliche Abwendung Stalins von der Konzeption einer weltrevolutionären Mission der Roten Armee ging einher mit einer immer stärkeren – allerdings ebenfalls nur scheinbaren – generellen Ablehnung des Aktes der Aggression:126 Spätestens ab den 1930er-Jahren verurteilte Stalin jeglichen militärischen Erstangriff eines Staates gegen einen anderen Staat. Das Wort «Aggression» [russ. «agressija»], das bis dahin in der russischen Sprache kaum verwendet worden und wenig bekannt gewesen war, hielt nun Einzug in Reden und Schriften der sowjetischen Führung – und zwar stets mit negativer Bedeutung. Diese Entwicklung schien auf eine komplette Abkehr Stalins von der Haltung Marx’, Engels’ und Lenins bezüglich des Aktes der Aggression hinzuweisen. Letztere hatten das Beginnen eines Kriegs ja nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern immer dann befürwortet, wenn es durch die «ausgebeutete Klasse» zur Erreichung ihrer revolutionären Ziele geschah. Tatsächlich jedoch bedeutete Stalins öffentliches Auftreten gegen jede Form von «Aggression» keine prinzipielle ideologische Kehrtwende. Vielmehr war dieses Auftreten Teil einer momentanen, durch die gerade herrschenden Umstände bedingten Strategie zur Verhinderung eines «imperialistischen» Angriffs auf die Sowjetunion: In den 1930er-Jahren befürchtete Stalin vor allem einen deutschen oder japanischen Angriff auf sein noch ungenügend auf einen Krieg vorbereitetes Land. Er suchte nun die Weltöffentlichkeit für eine rigorose Definition127 und Verurteilung von «Aggression» zu gewinnen und hoffte, auf diese Weise derart grossen Druck auf die potentiellen Aggressoren ausüben zu können, dass diese von einem Angriff auf die UdSSR absehen würden.
Mit dem Abschluss eines deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts und dem Überfall Deutschlands auf Polen im Spätsommer 1939 fand die auf Kriegsverhinderung ausgerichtete sowjetische Strategie allerdings ein – vorübergehendes – Ende. Die Sowjetunion wurde nun selbst zum Aggressor: Sie griff zuerst Polen und anschliessend Finnland an. Den Vorwurf, ihrer eigenen Definition entsprechend «Aggressionen» begangen zu haben, versuchte die sowjetische Regierung im ersteren Fall mit der Behauptung zu entkräften, dass in Polen infolge des deutschen Einmarsches jede staatliche Ordnung zu bestehen aufgehört habe und die Rote Armee somit die «ostslawischen Brüdervölker» habe schützen müssen.128 In Bezug auf den Sowjetisch-Finnischen Krieg insistierten die Sowjets darauf, dieser sei von den Finnen begonnen worden.129 Letztere Version akzeptierte die Generalversammlung des Völkerbundes jedoch nicht: Die sowjetische Invasion wurde offiziell als völkerrechtswidrige Aggression gebrandmarkt und mit dem Ausschluss der Sowjetunion aus dem Völkerbund geahndet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg fühlte sich Stalin gegenüber den Westmächten militärisch in einer ähnlich schwachen Position wie in den Jahren vor dem Krieg. Er reagierte darauf wiederum mit einer intensiven Propaganda gegen jegliche Art von «Aggression». So hiess es in der Botschaft des 1950 abgehaltenen Zweiten Weltfriedenskongresses an die UNO: «Keine politischen, strategischen oder wirtschaftlichen Gründe, keine mit der inneren Situation oder mit äusseren Konflikten in diesem oder jenem Staat in Zusammenhang stehende Ursachen können eine bewaffnete Einmischung irgendeines Staates in die Angelegenheiten eines anderen Staates rechtfertigen. Die Aggression ist eine verbrecherische Handlung jenes Staates, der als erster die bewaffnete Kraft unter irgendeinem Vorwand gegen einen anderen Staat anwendet.»130 Diese Propaganda war übrigens recht erfolgreich – insbesondere während des Koreakriegs Anfang der 1950er-Jahre: In gewissen Kreisen der westlichen Öffentlichkeit fand die sowjetische Brandmarkung der US-Intervention in Korea als «Aggression» grosse Zustimmung, und es wurden die Bemühungen der Sowjetunion für ein weltweit gültiges Verbot jeder Form von «Aggression» unterstützt. Dies wirkte sich zum Teil auch auf die Haltungen von westlichen Regierungen aus.
(6) Obwohl die Idee des offensiven «revolutionären Krieges» – zumindest in der Öffentlichkeit – nicht mehr erwähnt und offiziell jede Aggression verurteilt wurde, veränderte sich unter Stalin die kommunistische Einstellung zum Beginnen eines Kriegs im Grundsatz also nicht. Das heisst, von der Ideologie her gab es weiterhin nichts, was die UdSSR generell davon abhielt, andere Staaten anzugreifen.131 Die einzigen möglichen Hinderungsgründe blieben das Gebot, dass zum Mittel des Kriegs nur dann gegriffen werden dürfe, wenn das angestrebte politische Ziel nicht auf anderem – insbesondere friedlichem – Wege zu erreichen sei, sowie die Forderung, dass ein Krieg nur dann begonnen werden dürfe, wenn der Sieg in diesem als sicher angesehen werden könne und gleichzeitig der politische Preis für den Sieg nicht als zu hoch eingeschätzt werden müsse.132
(7) Wie wirkten sich diese drei kriegshemmenden Faktoren nun in der Praxis auf das Verhalten der Sowjetunion aus? Tatsache ist, dass die UdSSR während Stalins Herrschaftszeit (von 1924 bis 1953) «nur» drei Kriege gegen andere Staaten begann, nämlich 1929 gegen China und 1939 gegen Polen sowie gegen Finnland. Diese relative Zurückhaltung ist zum einen – kleineren – Teil darauf zurückzuführen, dass es der Sowjetunion in gewissen Fällen gelang, ihre expansionistischen Ziele mit anderen Mitteln als mit Krieg zu erreichen.133 So erzwang sie die Eingliederung der baltischen Staaten sowie der rumänischen Gebiete Bessarabien und Nordbukowina in die UdSSR im Jahr 1940 hauptsächlich mittels Drohungen. Und die Machtausdehnung auf die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg kam auf dem Wege von Verhandlungen mit den westlichen Alliierten sowie direkter Druckausübung auf die genannten Länder zustande. Allerdings war Stalin – wie schon Lenin – der Meinung, dass das grundlegende Ziel der kommunistischen Bewegung, nämlich die Errichtung des Sozialismus auf der ganzen Welt, allein mit nichtkriegerischen Mitteln nicht zu erreichen sei.134 Von daher wäre eigentlich damit zu rechnen gewesen, dass die Sowjetunion immer wieder Angriffe gegen kapitalistische Staaten unternehmen würde. Dass sie dies nicht tat, hängt mit den anderen oben genannten kriegshemmenden Faktoren zusammen: Entweder hielt Stalin sein Land für militärisch nicht stark genug, um offensive «revolutionäre Kriege» gegen die kapitalistische Staatenwelt erfolgreich auszutragen, das heisst, er war sich des Sieges der Sowjetunion in solchen Kriegen nicht sicher.135 Oder aber er war zur Überzeugung gelangt, dass, falls solche Kriege doch gewonnen werden konnten, daraus zu grosse negative politische Folgen für die Sowjetunion beziehungsweise die kommunistische Bewegung als Ganzes entstehen würden, als dass diese in Kauf genommen werden könnten.136
(8) Stalins Einschätzungen bezüglich der (Un-)Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Sieges in einem Krieg gegen die kapitalistischen Staaten fussten auf seinen Ansichten über die über Sieg und Niederlage in einem Krieg entscheidenden Faktoren.137 Diese Ansichten formulierte er erstmals im Jahr 1918, am deutlichsten jedoch nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941. Gemäss Stalin wurde der Ausgang eines Kriegs von fünf «ständig wirkenden Faktoren» bestimmt: «Nunmehr wird das Schicksal des Krieges nicht durch solch ein zufälliges Moment wie das Moment der Überraschung entschieden werden, sondern durch die ständig wirkenden Faktoren: die Festigkeit des Hinterlandes, die Moral der Armee, die Quantität und Qualität der Divisionen, die Bewaffnung der Armee, die organisatorischen Fähigkeiten des Kommandobestands der Armee.»138 Der erste dieser Faktoren, die Stabilität des Hinterlandes, bezog sich auf die Zivilbevölkerung eines kriegführenden Landes. Gemeint war zum einen deren moralische Fähigkeit, die Entbehrungen des Kriegs und unter anderem Bombardierungen aus der Luft auszuhalten, sowie zum anderen deren wirtschaftliche Fähigkeit, trotz dem Krieg jene Güter zu produzieren und zu transportieren, welche eine Armee für den Kampf benötigt. Hinsichtlich der Bewaffnung der Armee betonte Stalin aufgrund der im Zweiten Weltkrieg gemachten Erfahrungen zunehmend die Wichtigkeit eines hohen Motorisierungsgrades: «Der gegenwärtige Krieg ist ein Krieg der Motoren. Den Krieg gewinnt derjenige, der in der Herstellung von Motoren die Vorherrschaft erringt.»139 Die Bedeutung der übrigen «ständig wirkenden Faktoren» bedarf keiner zusätzlichen Erklärung ausser jener, dass im letztgenannten Faktor die Bezeichnung «Kommandobestand der Armee» sich nicht nur auf höhere Offiziere bezog, sondern faktisch auf alle militärische Befehlsgewalt innehabenden Personen.
An der These von den fünf «ständig wirkenden Faktoren» fällt auf, dass Stalin im Unterschied zu Marx und Engels sowie zu Lenin nicht das wirtschaftliche Gesamtpotential eines Staates als Hauptfaktor für den Sieg in einem Krieg nannte. Dies, obschon mindestens drei seiner «ständig wirkenden Faktoren» doch direkt von den allgemeinen ökonomischen Ressourcen des jeweiligen Landes abhängen: die Festigkeit des Hinterlandes, die Qualität und die Quantität der Divisionen sowie die Bewaffnung der Armee. Vigor vermutet, dass Stalin es bewusst vermied, im Zusammenhang mit den kriegsentscheidenden Faktoren von der Gesamtstärke der Wirtschaft eines Landes zu sprechen, und zwar deshalb, weil die Wirtschaftskraft der UdSSR während seiner Herrschaftszeit – insbesondere während des Zweiten Weltkriegs – wesentlich schwächer war als jene der kapitalistischen Staaten. Zu verkünden, die wirtschaftliche Gesamtstärke der kriegführenden Länder sei entscheidend, hätte bei dieser Sachlage bedeutet, die Niederlage der Sowjets in einem Krieg gegen die Kapitalisten anzukündigen. Dass dies nicht in Stalins Interesse lag, versteht sich von selbst.
Stalin anerkannte, dass neben den fünf «ständig wirkenden Faktoren» auch noch andere Faktoren auf den Verlauf eines Kriegs einwirken konnten; er stufte deren Bedeutung jedoch als gering ein. So bezeichnete er beispielsweise «militärische Bereitschaft», «militärische Erfahrung» und «Überraschung» als lediglich «temporär auftretende» beziehungsweise «vorübergehende» Faktoren, welche zwar kurzfristige taktische Erfolge herbeiführten, nicht aber den Ausgang des Kriegs als Ganzes beeinflussen könnten. Am auffälligsten war die Geringschätzung des Faktors «Überraschung». Sie muss im Zusammenhang mit den Ereignissen vom Sommer 1941 in der Sowjetunion gesehen werden: Nachdem die Rote Armee durch den Blitzangriff der deutschen Wehrmacht überrascht worden und in Bedrängnis geraten war, verkündete Stalin – einerseits zur Stärkung des Durchhaltewillens, andererseits, um nicht eigene Fehler zugeben zu müssen – dem Sowjetvolk, dass «Überraschung» kein entscheidender Faktor sei in einem Krieg und dass der Sieg stattdessen durch Überlegenheit in den «ständig wirkenden Faktoren» erreicht werde. Da der Ausgang des Zweiten Weltkriegs Stalins These bestätigte, blieb diese auch nach Kriegsende in Kraft, und zwar bis zu Stalins Tod. Das Aufkommen von Atomwaffen – und damit verbunden die erhöhte Wirkungskraft von Überraschungsangriffen – änderte daran nichts, im Gegenteil: Angesichts der nuklearen Überlegenheit der USA erschien es Stalin zur Beruhigung der eigenen Bevölkerung sinnvoll, dem Faktor «Überraschung» – zumindest in der Öffentlichkeit – weiterhin nur untergeordnete Wichtigkeit zuzuerkennen.
(9) In Bezug auf das Ausmass beziehungsweise die Form der Austragung eines Kriegs blieb Stalin ganz auf der Linie Lenins:140 Wie dieser war er der Auffassung, dass die Anzahl und die Art der von einer Kriegspartei eingesetzten Mittel vom politischen Ziel abhingen, welches diese Kriegspartei verfolge. Je wichtiger das Ziel, desto mehr und effizientere Mittel würden eingesetzt. Kriege zwischen zwei antagonistischen Klassen – egal, ob auf innerstaatlicher oder zwischenstaatlicher Ebene – seien die grausamsten Kriege: Sie würden immer unter Einsatz aller zur Verfügung stehender Mittel – sprich «unbegrenzt» – geführt.
(10) Weiterhin gültig blieb unter Stalin auch die These, dass ein Krieg – zumindest ein von Kommunisten geführter Krieg – dann beendet werde, wenn das diesem zugrunde liegende politische Ziel vollständig erreicht sei.141 Als Beleg dafür führt Peter H. Vigor unter anderem den Krieg der UdSSR gegen Finnland im Winter 1939/40 an: In diesem habe das Ziel der Sowjetunion darin bestanden, strategisch bedeutende Landstriche zu erobern, insbesondere die Grenze vor Leningrad so weit vorzuverlegen, dass diese Stadt erfolgreich verteidigt werden konnte.142 Dieses Ziel hätten die Sowjets im März 1940, als sich die Finnen zu den verlangten Gebietsabtretungen bereit erklärten, erreicht, und dementsprechend seien die Kriegshandlungen umgehend eingestellt worden.
(11) Die marxistisch-leninistische Theorie, dass es, solange auf diesem Planeten kapitalistische Staaten existierten, zwischen diesen immer wieder zu Kriegen kommen müsse, blieb in den ersten Jahren unter Stalin unverändert in Kraft.143 Angesichts der Tatsache, dass es in der Zwischenkriegszeit nur einen «proletarischen» Staat (die Sowjetunion) gab, der Rest der Welt dagegen kapitalistisch oder unter kapitalistischer Herrschaft war, zeigte sich Stalin vom baldigen Ausbruch eines neuerlichen grossen «imperialistischen Krieges» überzeugt.144
Als jedoch im Verlauf der 1930er-Jahre die Gefahr eines – insbesondere deutschen – Angriffs auf die UdSSR stark zunahm, wurden die sowjetischen Äusserungen bezüglich der Unvermeidbarkeit von innerkapitalistischen Kriegen immer zurückhaltender, ja, sie verkehrten sich in ihr Gegenteil. Die Ursache dafür lag in der politischen Strategie, mit welcher die Sowjetunion «der drohenden Gefahr des Faschismus und des Krieges»145 entgegentrat. Diese Strategie bestand aus zwei Teilen: Zum einen betrieb die sowjetische Führung – beziehungsweise die Kommunistische Internationale – unter der Losung einer «proletarischen Einheitsfront gegen Faschismus und Krieg»146 eine intensive Friedenspropaganda. In deren Rahmen wurde zu Mobilisierungszwecken betont, jeder «imperialistische Krieg» sei durch die Stärke der «Einheitsfront» und der Sowjetunion vermeidbar.147 Zum anderen rückte Stalin zunehmend vom bisherigen Konfrontationskurs gegenüber der gesamten kapitalistischen Welt ab, um im drohenden Krieg nicht völlig isoliert zu sein.148 Unter diesen Umständen wäre es kontraproduktiv gewesen, weiterhin die Theorie von der Unvermeidlichkeit innerkapitalistischer Kriege zu betonen, denn diese Theorie unterschied ja nicht zwischen «guten» und «schlechten» kapitalistischen Nationen, sondern betrachtete alle als «imperialistische Räuber».149 Obwohl die Sowjets während der Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg Kriege zwischen kapitalistischen Staaten also nicht mehr als unvermeidlich bezeichneten, fand eine direkte, offizielle Revidierung der Theorie Lenins nicht statt; es war vielmehr so, dass diese Theorie mit Schweigen übergangen wurde.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte den sowjetischen Erwägungen über die Vermeidbarkeit von Kriegen innerhalb der kapitalistischen Welt ein Ende und bedeutete die Rückkehr zur Annahme der Unvermeidbarkeit solcher Kriege.150 Bis zu Beginn der 1950er-Jahre erfuhr dieser Aspekt indes nur sehr beschränkte Beachtung in den öffentlichen Erörterungen der sowjetischen Führung, was insofern erstaunt, als die Theorie von der Unvermeidbarkeit von innerkapitalistischen Kriegen doch gerade durch den Zweiten Weltkrieg ihre Bestätigung erhalten zu haben schien. Der Grund für dieses Phänomen war zunächst der, dass die Sowjets den Zweiten Weltkrieg bis kurz nach dessen Beendigung nicht – wie den Ersten Weltkrieg – als «imperialistischen», sondern als «antifaschistischen» Krieg, als «Befreiungskrieg […], dessen […] Aufgabe […] die Wiederherstellung der demokratischen Freiheiten war»,151 einordneten, und zwar als Befreiungskrieg nicht nur der Sowjetunion, sondern auch der bürgerlichen westlichen Demokratien. Anschliessend – in den ersten Nachkriegsjahren – lag der Grund darin, dass im Rahmen der nun vorherrschenden «Zwei-Lager-Theorie» ganz klar das Thema «Krieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus» im Zentrum stand und demgegenüber dasjenige des Kriegs innerhalb des Kapitalismus nur von geringem Interesse war.
Dies änderte sich, als die sowjetische Führung Anfang der 1950er-Jahre – unter dem Eindruck des Koreakriegs und zur Vermeidung eines offenen Kriegs mit den USA – die Doktrin der «Zwei Lager» aufgab und stattdessen die Möglichkeit einer Friedlichen Koexistenz von Kapitalismus und Kommunismus hervorhob. Stalin spielte nun die zuvor stark betonten Gegensätze zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen Lager herunter und reaktivierte im Gegenzug die Theorie von der Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen kapitalistischen Ländern.152
Stalins Haltung in Bezug auf das Problem von Krieg oder Frieden zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten – konkret zwischen der Sowjetunion und der nichtkommunistischen Welt – wurde in den eben gemachten Ausführungen teilweise bereits angesprochen. Im Folgenden soll die Entwicklung dieser Haltung nun gesamthaft aufgezeigt werden.153 Im Zentrum steht also die Frage, ob Stalin Krieg zwischen den beiden Seiten als wahrscheinlich, unvermeidlich, gar unmittelbar bevorstehend oder aber als vermeidbar betrachtete. Generell kann vorausgeschickt werden, dass Stalin, für den – noch mehr als für Lenin – Doktrin in erster Linie ein Mittel zur Erreichung von spezifischen politischen Zielen bedeutete, diese Frage wie Lenin nicht auf der Grundlage der Theorie des historischen Materialismus beantwortete, sondern aufgrund der jeweiligen inneren und äusseren Situation der Sowjetunion beziehungsweise in Übereinstimmung mit den Zielen seiner momentanen Politik. Dementsprechend fielen seine Erklärungen zum Problem von Krieg oder Frieden zwischen Kommunismus und Kapitalismus zu unterschiedlichen Zeitpunkten sehr verschieden aus:
Von seiner Machtübernahme an bis zu Beginn der 1930er-Jahre betonte Stalin, ein Krieg zwischen der Sowjetunion und den «imperialistischen Staaten» sei unvermeidlich, und zwar deshalb, weil die Letzteren bestrebt seien, «die Sowjetunion einzukreisen und einen konterrevolutionären Krieg gegen sie anzuzetteln, dessen Ziel die Vernichtung der Sowjetunion und die Aufrichtung des Terrorregimes der Bourgeoisie in der ganzen Welt»154 sei. Der Ausbruch dieses Kriegs könne durch den «Interessengegensatz im Lager der Imperialisten, die Interessiertheit bestimmter Länder an wirtschaftlichen Beziehungen zur UdSSR, die Friedenspolitik der UdSSR, [den] Widerstand der Arbeiterklasse Europas, die Furcht der Imperialisten, im Fall eines Kriegs gegen die UdSSR die Revolution bei sich zu Hause zu entfachen», zwar hinausgezögert werden.155 In der näheren oder ferneren Zukunft werde ein kapitalistischer Angriff jedoch nicht zu verhindern sein: «[D]ie Voraussetzungen für einen Krieg […] reifen [heran] und der Krieg [kann], natürlich nicht morgen oder übermorgen, wohl aber in einigen Jahren, unvermeidlich werden […].»156 Diese Behauptungen scheinen auf den ersten Blick merkwürdig, war doch in den 1920er-Jahren die effektive Bedrohung der Sowjetunion gering. Erklären lässt sich der scheinbare Widerspruch damit, dass Stalin mit der Betonung der kapitalistischen Gefahr innenpolitische Ziele verfolgte: Er suchte seine unumschränkte und willkürliche Herrschaft sowie die forcierte Industrialisierung und Aufrüstung, welche seinen Untertanen harte Entbehrungen abverlangte, zu rechtfertigen.
Als 1933 in Deutschland Hitler an die Macht kam und die Sowjetunion mit einer echten Bedrohung konfrontierte, änderte Stalin seine Haltung: Im Rahmen seiner – bereits weiter oben beschriebenen – politischen Strategie zur Verhinderung einer deutschen oder japanischen Aggression gegen die Sowjetunion liess er nun die These von der Vermeidbarkeit von Krieg zwischen der kapitalistischen Welt und der Sowjetunion verkünden. Stalins Kalkül, sich durch zurückhaltende aussenpolitische Äusserungen die Option auf Sicherheitsbündnisse mit anderen Staaten zu eröffnen, erwies sich kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs als erfolgreich: Im August 1939 ermöglichte diese Taktik ihm eine Allianz mit dem ideologischen Erzfeind, Nazi-Deutschland, und damit die vermeintliche Eliminierung der unmittelbaren Kriegsgefahr. Im Zusammenhang mit der «Vermeidbarkeits-These» ist darauf hinzuweisen, dass deren Einführung in der Sowjetunion keineswegs eine Verharmlosung oder gar Negierung der «kapitalistischen Bedrohung» mit sich brachte. Stalin verwies vielmehr auch weiterhin vor allem dann auf diese Gefahr, wenn er innenpolitische Entscheidungen zu begründen hatte.157
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderte sich die Situation für die Sowjetunion insofern, als sie nun nicht mehr länger der einzige sozialistische Staat war. Dennoch hielt Stalin – zumindest öffentlich – weiterhin nur einen vom kapitalistischen Lager begonnenen Krieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus für möglich. Die Gefahr eines solchen Kriegs wurde von sowjetischer Seite in den ersten Jahren des Kalten Kriegs – im Rahmen der Doktrin der «Zwei Lager» – als sehr gross dargestellt. Als grundsätzlich unvermeidlich wurde der Krieg jedoch nicht bezeichnet. Worauf ist die starke Betonung der kapitalistischen Gefahr in der ersten Nachkriegsphase zurückzuführen? Auch wenn sie damals tatsächlich einen realen Hintergrund hatte,158 dürfte sie in erster Linie erneut machtpolitischen Zwecken gedient haben: der Stabilisierung von Stalins Herrschaft in der Sowjetunion sowie der verstärkten Anbindung der Satellitenstaaten an die Sowjetunion.
Ab den 1950er-Jahren schwächte Stalin im Zuge der Abwendung von der «Zwei-Lager»-Theorie seine Äusserungen zur Gefahr eines kapitalistischen Angriffs deutlich ab und sprach davon, dass Kriege zwischen den beiden gegensätzlichen Gesellschaftssystemen verhindert werden könnten. So antwortete Stalin in einem im Februar 1951 durchgeführten Interview auf die Frage, ob er einen neuen Weltkrieg für unvermeidlich halte: «Nein. Zumindest darf man ihn gegenwärtig nicht für unvermeidlich halten. […] Sie, die aggressiven Kräfte, halten in ihren Händen die reaktionären Regierungen und lenken sie. Gleichzeitig aber fürchten sie ihre Völker, die keinen Krieg wollen und für die Erhaltung des Friedens sind.»159 Das eben Gesagte einschränkend, fügte Stalin allerdings hinzu: «Der Krieg kann unvermeidlich werden, wenn es den Kriegsbrandstiftern gelingt, die Volksmassen durch Lügen zu umgarnen, sie zu betrügen und sie in einen neuen Weltkrieg hineinzuziehen.»160 In seiner 1952 veröffentlichten Schrift «Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR» erklärte er, dass entgegen der Theorie «die Gegensätze zwischen dem Lager des Sozialismus und dem Lager des Kapitalismus» in der Wirklichkeit schwächer seien als «die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Ländern».161 Diese Aussagen enthielten die Botschaft, dass die Sowjetunion gewillt war, Schritte zu unternehmen, um einen direkten Krieg mit den USA zu vermeiden, und sind zu sehen im Zusammenhang mit Stalins Bereitschaft, im Koreakrieg einen Waffenstillstand auszuhandeln.
1.3.1.4 Die Anpassung des marxistisch-leninistischen Kriegsverständnisses an die Bedingungen des Nuklearzeitalters unter Chruščev
Durch das Aufkommen von Atomwaffen sowie von immer weiter reichenden Trägermitteln sowohl im Westen wie im Osten entstand in den 1950er-Jahren eine gefährliche Lage: Ein mit strategischen Nuklearwaffen geführter Krieg zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus hätte wohl unweigerlich die totale Vernichtung sowohl der kapitalistischen als auch der kommunistischen Gesellschaft zur Folge gehabt. Eine solche Entwicklung lag natürlich nicht im Interesse weder der einen noch der anderen Seite.
Für die sowjetische Führung musste es nun darum gehen, die Gefahr der Zerstörung der Sowjetunion beziehungsweise des Kommunismus so weit wie möglich zu minimieren. Dies bedingte unter anderem eine Revision der kommunistischen Kriegstheorie – insbesondere ihrer Aussagen über den Krieg als wichtiges Mittel zur Ausbreitung des Kommunismus sowie der Aussagen über die Unmöglichkeit der Vermeidung von Krieg in einer Welt mit kapitalistischen Staaten. Die Aufgabe, die kommunistische Kriegslehre den Bedingungen des nuklearen Zeitalters anzupassen, fiel Stalins Nachfolger Nikita Sergeevič Chruščev zu, denn Stalin selbst hatte sich, obwohl die Atomwaffen während seiner Amtszeit eingeführt wurden, geweigert, offiziell anzuerkennen, dass diese den Charakter des Klassenkampfes oder die Rolle von Krieg in den Beziehungen zwischen den Staaten beeinflussten.162
(1/2) Während die Einschätzung der Ursache von Krieg unter Chruščev gleich blieb wie unter seinen Vorgängern,163 ergaben sich in den Ansichten über die Funktion von Krieg gewisse Veränderungen:164 Die meisten sowjetischen Militärtheoretiker verteidigten zwar weiterhin die Gültigkeit des von Lenin betonten Clausewitz’schen Lehrsatzes, der Krieg sei eine Fortsetzung und ein Instrument der Politik.165 Es gab jedoch auch einige Autoren, welche eine andere Meinung vertraten: Sie erklärten, dass der Kernwaffenkrieg aufgrund seines «eindeutigen Zerstörungs- und Vernichtungscharakters» nicht als ein «verlässliches Mittel zur Erreichung politischer Ziele» betrachtet werden könne,166 und verlangten offen, im nuklearen Zeitalter solle die Clausewitz-Formel in den Satz umgewandelt werden: «Der Krieg kann nur eine Fortsetzung der Torheit sein.»167 Chruščev selbst wagte es nicht, den von Lenin aufgestellten Grundsatz direkt zu verwerfen. Aber er sagte öffentlich, dass es undenkbar sei, den Kommunismus auf den radioaktiv verseuchten Trümmern aufzubauen, die ein neuer Weltkrieg hinterlassen würde.168 Diese und ähnliche Äusserungen von ihm deuten darauf hin, dass er wohl nicht mehr an dem bislang vertretenen Standpunkt festhielt, Politik und Krieg seien zusammengehörige Grössen.
(3) Einem Wandel unterlagen während der Herrschaft Chruščevs auch die Auffassungen zur Wirkung von Krieg:169 In offiziellen Erklärungen wurde zwar nach wie vor betont, dass «in der Epoche des Imperialismus die Weltkriege, die die sozial-politischen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft auf die Spitze treiben, unvermeidlich zu revolutionären Umwälzungen führen» würden.170 Diese Behauptung verlor jedoch, da in der sowjetischen Führung die Einsicht in die immense Zerstörungskraft eines Atomkriegs wuchs, zunehmend ihren realen Bezug und wurde nurmehr aus propagandistischen und psychologischen Gründen171 aufrechterhalten. In Wirklichkeit fand in der UdSSR nun ein – allerdings nicht kontinuierliches – Abrücken vom Lehrsatz der revolutionsfördernden Wirkung eines zukünftigen Weltkriegs statt. Georgij M. Malenkov, Vorsitzender des Ministerrats, wagte bereits 1954 die Aussage, ein nuklearer Krieg könne zur gegenseitigen Zerstörung der kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaft führen. Chruščev selbst widersetzte sich zunächst – nicht zuletzt aus machtpolitischen Erwägungen – der unorthodoxen Behauptung Malenkovs; allmählich aber gelangte er dann zu der gleichen Überzeugung. Ab Ende der 1950er-Jahre wies auch er – unter anderem aufgrund einer ideologischen Kontroverse mit den chinesischen Kommunisten über die Notwendigkeit beziehungsweise die Vermeidbarkeit von Kriegen172 – immer deutlicher auf die im Fall eines Weltkriegs bestehende Möglichkeit der gegenseitigen nuklearen Vernichtung hin.173 Zudem sagte er: «Wir wissen, dass im Kriegsfall vor allem die Werktätigen und ihre Vorhut, die Arbeiterklasse, Schaden erleiden werden.»174 Chruščev glaubte also, dass ein Nuklearkrieg zwischen Ost und West den Prozess in Richtung Weltkommunismus nicht beschleunigen, sondern vielmehr verzögern würde. Seiner Ansicht nach konnte im Kernwaffen- und Raketenzeitalter nur noch eine Kategorie von Kriegen revolutionsbegünstigende Wirkung entfalten, nämlich die «nationalen Befreiungskriege».175 Bei dieser Kriegsart müsse – als einziger – weiterhin nicht mit einer nuklearen Eskalation gerechnet werden. Als aktuelles Beispiel führte Chruščev den – von 1954 bis 1962 dauernden – algerischen Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich an.
Abb. 13: Nikita Sergeevič Chruščev. (Osteuropabibliothek Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1961)
(4) Bezüglich seiner allgemeinen Einstellung zum Krieg unterschied sich Chruščev nicht von seinen Vorgängern:176 Wie jene verwahrte er sich gegen eine generelle Ablehnung von Krieg und stellte sich auf den Standpunkt, dass die Beurteilung eines konkreten Kriegs aufgrund der Frage vorgenommen werden müsse, «welchen Klassencharakter dieser Krieg besitzt, von welchen Klassen und zu welchem Zweck er geführt und von welchen Klassen er vorbereitet und gelenkt wird».177 Entsprechend dieser Grundhaltung behielt Chruščev auch die Unterscheidung zwischen «gerechten» und «ungerechten» Kriegen bei.
Chruščevs vom Anbruch der nuklearen Ära beinflusste, etwas improvisiert wirkende Kriegsklassifizierung umfasst drei Grundtypen von Kriegen: «Weltkriege», «lokale Kriege» sowie «nationale Befreiungskriege». Der Begriff «Weltkrieg» bezeichnete dabei eine vom «Lager des Imperialismus» begonnene, global ausgedehnte militärische Auseinandersetzung zwischen der «imperialistischen» und der sozialistischen Staatenkoalition. Ein solcher Krieg war nach offizieller sowjetischer Darstellung «ein aggressiver, ungerechter Eroberungskrieg von seiten des Imperialismus und ein gerechter revolutionärer Befreiungskrieg von seiten der Staaten der sozialistischen Völkergemeinschaft».178 Mit «lokalen Kriegen» meinte Chruščev kleinere «imperialistische Kriege» in lokalem, begrenztem Rahmen: in erster Linie Kriege, die von «den Imperialisten» geführt würden, «um nationale Befreiungsbewegungen zu unterdrücken, um Kolonien zu erobern oder sie zu behalten»;179 in zweiter Linie verstand er unter diesem Begriff aber auch Kriege zwischen «imperialistischen» Mächten. Sämtliche «lokalen Kriege» galten als «ungerecht» beziehungsweise «volksfeindlich». Als «gerecht» beziehungsweise «revolutionär» wurden demgegenüber die «nationalen Befreiungskriege» angesehen.180 Unter diese dritte Kategorie subsumierte Chruščev «Bürgerkriege und sonstige Volkskriege, die auf die Abwehr imperialistischer Aggressionen mit Eroberungsabsichten, auf einen Kampf um die Freiheit und Unabhängigkeit der Heimat hinauslaufen».181
(5) Die Haltung der Sowjetunion zum Akt der Aggression war unter Chruščev die gleiche wie während der Stalin-Zeit:182 Weiterhin wurde offiziell jede Form von militärischem Erstangriff eines Staates gegen einen anderen Staat kategorisch verurteilt; gemäss sowjetischer Darstellung konnten weder politische noch strategische noch wirtschaftliche Umstände eine Aggression rechtfertigen.183 Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass nach sowjetischer Definition nur Staaten Aggressionen begehen konnten. «Unterdrückte Klassen» – sei es das «Proletariat» eines kapitalistischen Staates oder sei es die einheimische Bevölkerung einer Kolonie – wurden demgegenüber in jedem Fall als berechtigt angesehen, einen Bürgerkrieg oder einen «nationalen Befreiungskrieg» anzufangen; ein solches Vorgehen stellte aus Sicht der Sowjets nie eine Aggression dar.
Der Grund für die rigorose sowjetische Ablehnung von militärischen Aggressionsakten von Staaten gegen andere Staaten – sowie für die Tatsache, dass Chruščev jegliche sowjetische Angriffsabsichten entschieden in Abrede stellte184 und die Verwendung des Begriffs «revolutionärer Krieg» gänzlich unterliess185 – war wie unter Stalin kein ideologischer, sondern ein taktischer: Es ging der sowjetischen Führung darum, die UdSSR gegenüber der Weltöffentlichkeit als friedliebend darzustellen und auf diese Weise die Gefahr eines Kriegs zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Lager zu verkleinern. Dieses Vorhaben wurde angesichts der während der 1950er-Jahre auf beiden Seiten stark anwachsenden Nuklearwaffenarsenale (mit der Sowjetunion in der schwächeren Ausgangsposition), durch welche sich das Zerstörungsrisiko in einem zukünftigen Krieg massiv vergrösserte, immer dringlicher.186 Die Basis für die Ermöglichung einer langfristigen, nicht zum Krieg führenden Beziehung zwischen Kommunismus und Kapitalismus bildete das Prinzip der «Friedlichen Koexistenz» von Staaten mit unterschiedlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen.187 Dieses Konzept wurde von Chruščev im Februar 1956 auf dem XX. Parteikongress der KPdSU vorgestellt188 und 1961 wie folgt im neuen Parteiprogramm verankert: «Friedliche Koexistenz setzt voraus: Verzicht auf Kriege als Mittel zur Entscheidung von Streitfragen zwischen den Staaten, Entscheidung dieser Fragen durch Verhandlungen; Gleichberechtigung, Verständigung und Vertrauen unter den Staaten, Berücksichtigung der Interessen des anderen; Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, jedem Volk muss das Recht zugestanden werden, alle Fragen seines Landes selbständig zu entscheiden; strikte Respektierung der Souveränität und der territorialen Integrität aller Länder; Ausbau der wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit auf der Grundlage der vollständigen Gleichheit und des gegenseitigen Vorteils.»189
In Anbetracht der bisherigen Ausführungen stellt sich die Frage, ob sich denn die Sowjetunion mit dem im November 1956 erfolgten Einmarsch ihrer Truppen in Ungarn nicht selbst einer Aggression – im Sinn ihrer eigenen Definition – schuldig machte?190 Die Sowjets verneinten dies zwar mit dem Hinweis darauf, dass die Rote Armee auf Ersuchen der ungarischen Volksregierung nach Budapest geschickt worden sei, um jener zu helfen, einen Aufstand zu unterdrücken und die Ordnung wiederherzustellen.191 Diese Begründung war jedoch alles andere als hieb- und stichfest, denn die Sowjets bezogen sich hierbei offensichtlich auf die von János Kádár geführte, unter sowjetischem Einfluss stehende Gegenregierung, welche zum Zeitpunkt ihres «Hilferufs» weder die rechtmässige ungarische Regierung war, noch den Volkswillen verkörperte. Zu behaupten, die Sowjetunion habe gegenüber Ungarn auch nach ihren eigenen Massstäben eine Aggression verübt, ist somit sicherlich gerechtfertigt.
(6) Chruščev widersprach dem Vorwurf, «die Sowjetunion habe das Prinzip der friedlichen Koexistenz nur aus taktischen, konjunkturbedingten Erwägungen aufgestellt»,192 scharf: «Es ist […] bekannt, dass wir uns mit der gleichen Beharrlichkeit auch früher, seit den ersten Jahren der Sowjetmacht, für die friedliche Koexistenz eingesetzt haben. Folglich ist das kein taktischer Schachzug, sondern das Grundprinzip der sowjetischen Aussenpolitik. Wenn also eine Gefahr für die friedliche Koexistenz von Ländern mit verschiedenen sozialen und politischen Systemen besteht, so geht sie keineswegs von der Sowjetunion, keineswegs vom ‹sozialistischen Lager› aus. Hat ein sozialistischer Staat auch nur den kleinsten Beweggrund, einen aggressiven Krieg zu entfesseln?»193 Chruščevs Beteuerung, die Sowjetunion beabsichtige keinen Angriff auf die kapitalistische Welt, kann aufgrund des heutigen Wissensstandes194 als durchaus glaubwürdig bezeichnet werden. Sein Versuch jedoch, einen solchen Angriff als grundsätzlich – das heisst für immer – unmöglich darzustellen, erscheint fragwürdig, steht er doch im Widerspruch zu den Aussagen der marxistisch-leninistischen Lehre zum Beginnen eines Kriegs: Wie weiter oben gezeigt wurde, lehnt diese Ideologie einen solchen Akt nicht generell ab, und es spielt aus ihrer Sicht auch keine Rolle, wer in einem Krieg der Angreifer ist. Auch wenn diese Aussagen nun in den Hintergrund gerückt wurden, so hatten sie unter Chruščev doch weiterhin Gültigkeit.195 Es muss somit davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen dafür, dass die Sowjets einen Krieg begannen, letztlich nach wie vor die gleichen waren wie bis anhin:196 Erstens musste ausgeschlossen werden können, dass das angestrebte Ziel mit friedlichen Mitteln erreicht werden konnte. Zweitens musste man sich des Sieges in diesem Krieg sicher sein. Und drittens durfte der politische Preis für den Sieg nicht zu hoch sein, das heisst, die «Errungenschaften» sowie die weitere Entwicklung des Kommunismus durften nicht gefährdet werden. Letzteres bedeutete konkret vor allem, dass die Sicherheit und die Macht der Sowjetunion nicht gefährdet werden durften, denn die sowjetischen Entscheidungsträger erachteten die Interessen der proletarischen Revolution als identisch mit jenen der UdSSR, wobei sie den Interessen der Sowjetunion in der Praxis zunehmend Priorität einräumten – entsprechend dem schon unter Stalin geltenden Grundsatz: «Was gut ist für die UdSSR, ist gut für den Kommunismus.»
(7) Die Frage, ob der Weg zur Errichtung des Sozialismus auf der ganzen Welt ein evolutionärer oder ein revolutionärer sein würde, wurde von Chruščev anders beantwortet als von seinen Vorgängern.197 Um trotz der Doktrin der Friedlichen Koexistenz weiterhin am grundsätzlichen ideologischen Ziel des weltweiten Sieges des Kommunismus festhalten zu können,198 brach Chruščev mit der These vom notwendigerweise gewaltsamen Übergang zum Sozialismus199 und stellte stattdessen die Behauptung auf, dass eine kommunistische Revolution auch mit rein friedlichen Mitteln – das heisst auf parlamentarischem Wege – bewerkstelligt werden könne. Diese Haltung fand 1961 Eingang ins neue Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: «Die Kommunisten waren nie und sind auch heute nicht der Auffassung, dass der Weg zur Revolution unbedingt über Kriege zwischen den Staaten führt. Die sozialistische Revolution hängt nicht unbedingt mit einem Krieg zusammen. Obwohl beide von den Imperialisten entfesselten Weltkriege mit sozialistischen Revolutionen endeten, sind Revolutionen durchaus ohne Krieg möglich. Die grossen Ziele der Arbeiterklasse können ohne einen Weltkrieg erreicht werden. Heute sind die Bedingungen dafür günstiger denn je. […] Unter den modernen Verhältnissen hat die Arbeiterklasse mit ihrer Vorhut an der Spitze in einer Reihe von kapitalistischen Ländern die Möglichkeit, […] die Staatsmacht ohne Bürgerkrieg zu erringen […]. Wenn sich die Arbeiterklasse auf die Mehrheit des Volkes stützt und den opportunistischen Elementen, die von der Politik des Paktierens mit den Kapitalisten und Gutsherren nicht lassen können, eine entschiedene Abfuhr erteilt, kann sie den reaktionären volksfeindlichen Kräften eine Niederlage beibringen, eine stabile Mehrheit im Parlament erringen und dieses aus einem Instrument zur Verteidigung der Klasseninteressen der Bourgeoisie in ein Instrument des werktätigen Volkes verwandeln; sie kann den ausserparlamentarischen Kampf der breiten Massen entfalten, den Widerstand der reaktionären Kräfte brechen und die notwendigen Voraussetzungen für eine friedliche Verwirklichung der sozialistischen Revolution schaffen.»200 Chruščev war der Überzeugung, dass der Kommunismus sich in einem friedlichen Wettstreit der Gesellschaftssysteme weltweit durchsetzen werde. Diese Überzeugung beruhte auf seinem Glauben an die grundsätzliche Überlegenheit des kommunistischen beziehungsweise sozialistischen Systems: «Wenn wir davon sprechen, dass im Wettbewerb der zwei Systeme – des kapitalistischen und des sozialistischen – das sozialistische System siegen wird, so bedeutet das keineswegs, dass der Sieg durch die bewaffnete Einmischung der sozialistischen Länder erreicht wird. Unsere Zuversicht in den Sieg des Kommunismus gründet sich darauf, dass die sozialistische Produktionsweise gegenüber der kapitalistischen entscheidende Vorteile besitzt. Eben darum dringen die Ideen des Marxismus-Leninismus immer tiefer ins Bewusstsein breiter Massen der Werktätigen der kapitalistischen Länder ein, wie sie ins Bewusstsein von Millionen Menschen in unserem Lande und in den Ländern der Volksdemokratie eingedrungen sind.»201
Der friedliche Übergang zum Sozialismus wurde von der sowjetischen Führung nun nicht nur für möglich gehalten, sondern klar bevorzugt. Gleichzeitig wies sie allerdings darauf hin, dass «Revolutionskriege und Volksaufstände» weiterhin «nicht ausgeschlossen» seien,202 müsse doch damit gerechnet werden, dass «die herrschenden Klassen die Macht nicht freiwillig abtreten»203 und «gegen die Völker Gewalt anzuwenden versuchen»204 würden. Deshalb wurde die Forderung aufgestellt, dass alle kommunistischen Revolutionäre prinzipiell darauf vorbereitet sein müssten, den Übergang zum Sozialismus nicht nur mit friedlichen, sondern auch mit gewaltsamen Mitteln herbeizuführen: «Der Erfolg des Kampfes der Arbeiterklasse für den Sieg der Revolution wird davon abhängen, inwiefern sie und ihre Partei es lernen, sich aller Formen des Kampfes zu bedienen, der friedlichen wie der nichtfriedlichen, der parlamentarischen wie der ausserparlamentarischen, und ob sie zur schnellsten und überraschendsten Ersetzung einer Kampfform durch eine andere bereit sind.»205
Um seine These von der nun bestehenden Möglichkeit, den Klassenkampf gegen die Kapitalisten auch ohne gewaltsame Konfrontation zu gewinnen, ideologisch zu untermauern, versuchte Chruščev, sie auf Lenin zurückzuführen,206 was allerdings fragwürdig erscheint angesichts der Tatsache, dass Lenin stets die Wichtigkeit der Rolle des Kriegs für die kommunistische Revolution betont hatte.207 Chruščev scheint sich dieser Problematik selbst bewusst geworden zu sein, grenzte er sich doch später eher von Lenin ab, indem er betonte, man könne heutzutage aufgrund der veränderten Weltlage nicht mehr einfach mechanisch wiederholen, was Lenin vor vielen Jahrzehnten gesagt habe.208
(8) Die Ansichten bezüglich der über den Ausgang eines Kriegs entscheidenden Faktoren unterlagen während der Ära Chruščev einem Wandel.209 Von 1953 bis 1959 galten grundsätzlich unvermindert die von Stalin als «ständig wirkende Faktoren» bezeichneten Einflüsse als entscheidend. Allerdings rückte man nun von deren Verabsolutierung beziehungsweise Dogmatisierung ab und trennte sich – im Zuge der Entstalinisierung – auch von der bisherigen Formulierung. Statt von den «ständig wirkenden Faktoren» wurde ab 1956 meistens schlicht von den «entscheidenden Faktoren im Krieg» gesprochen. Und anstelle der stereotypen Aufzählung der fünf von Stalin definierten Faktoren war nun in allgemeinerer und flexiblerer Form von den drei Faktoren «wirtschaftliches Potential», «moralisches Potential» sowie «militärisches Potential» eines Landes die Rede.
Mit «wirtschaftlichem Potential» meinten die Sowjets jene Einrichtungen eines Staates, welche den Streitkräften die zur Kriegführung erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen. Die Hauptelemente dieses Potentials sind die Industrie und das Transportwesen. Aus sowjetischer Sicht war es in einem modernen Krieg von zentraler Bedeutung, dass die militärische Produktion und Versorgung während des gesamten Verlaufs dieses Konfliktes aufrechterhalten werden konnte. Dies deshalb, weil die zu erwartenden massiven Nuklearschläge voraussichtlich einen Grossteil des vor Kriegsbeginn bereitgestellten Materials zerstören würden, der Krieg jedoch trotzdem von langer Dauer sein würde. Als das wichtigste Mittel, um das fortgesetzte Funktionieren der «Militärwirtschaft» in Kriegszeiten zu ermöglichen, erachteten die Sowjets – neben militärischen Abwehrmassnahmen – eine möglichst dezentrale Verteilung der Industrie. Hierzu fügten sie an, dass die Voraussetzungen für eine Streuung der Produktionsstandorte in sozialistischen Staaten dank der dort vorherrschenden Planwirtschaft sehr viel besser seien als in kapitalistischen Staaten, wo sich die «Monopole» einem solchen Vorhaben widersetzen würden. Die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems beschränkte sich nach Ansicht der Sowjets übrigens nicht nur auf den eben genannten Bereich, sondern war eine generelle. So behaupteten sie, bei gleichem wirtschaftlichem Gesamtpotential sei das militärwirtschaftliche Leistungsvermögen eines sozialistischen Staates immer grösser als jenes eines kapitalistischen Staates.
Wie dem «wirtschaftlichen Potential» kam nach sowjetischer Auffassung im Zeitalter von Nuklearkriegen auch dem «moralischen Potential» eines Landes erhöhte Bedeutung zu: Angesichts der verheerenden Auswirkungen von Atomwaffen, von denen höchstwahrscheinlich auch das Hinterland der kriegführenden Staaten betroffen sein würde, wären die Anforderungen bezüglich Standhaftigkeit, Ausdauer und Disziplin sowohl an die Truppe als auch an die Zivilbevölkerung in einem zukünftigen Krieg extrem hoch. Damit ein Volk diese Anforderungen erfüllen konnte, war es in den Augen der Sowjets unabdingbar, dass sich dieses voll und ganz mit den Kriegszielen seiner Regierung identifizieren konnte. Diesbezüglich seien die sozialistischen Länder gegenüber den kapitalistischen klar im Vorteil, denn die Moral der Streitkräfte eines Staates mit einer «fortschrittlichen» gesellschaftlichen und politischen Ordnung, welcher einen «gerechten Krieg» führe, werde immer höher sein als die Moral der Streitkräfte eines Staates mit einem «reaktionären» System, welcher einen «ungerechten, aggressiven Krieg» führe.
Unter «militärischem Potential» schliesslich verstanden die Sowjets Quantität, Qualität, Aufstellung von sowie Reserven an militärischem Personal (Mannschaft und Kader) und Material (vor allem Waffen). Da sie der Überzeugung waren, dass ein zukünftiger Krieg zwischen Weltmächten lange dauern und äusserst verlustreich sein würde, betonten sie nun vor allem die gestiegene Wichtigkeit des ununterbrochenen Nachschubs an Waffen und Munition sowie von zahlenmässig starken und gut trainierten Reservetruppen.
Nicht zu den «entscheidenden Faktoren» gezählt wurde nach wie vor der Faktor «Überraschung». Dies mag auf den ersten Blick erstaunen, waren doch im Verlauf der 1950er-Jahre durch das Aufkommen nuklearer und thermonuklearer Waffen sowie von Hochgeschwindigkeits- und Langstrecken-Trägermitteln (Düsenflugzeuge und Raketen) die Möglichkeit und die Wirkung von Überraschungsangriffen objektiv gesehen deutlich grösser geworden. Tatsächlich anerkannten nun – im Unterschied zur Stalin-Zeit – auch die Sowjets die gestiegene Bedeutung des Faktors «Überraschung» in modernen Kriegen. Sie räumten sogar ein, dass ein Überraschungsangriff mit strategischen Nuklearwaffen unter gewissen Umständen – wenn der angegriffene Staat klein oder schlecht vorbereitet war – den Zusammenbruch des attackierten Staates verursachen konnte. In einem Krieg zwischen gut vorbereiteten und wachsamen Weltmächten jedoch war dies ihrer Meinung nach nicht möglich: Der Umfang der Streitkräfte und die voraussichtliche territoriale Ausdehnung der Kriegshandlungen wären zu gross, als dass der Einsatz von strategischen Nuklearwaffen zu einem direkten und raschen Ende des Kriegs führen könnte.
Im Januar 1960 gab Chruščev eine Änderung der in der Sowjetunion geltenden Haltung bezüglich der kriegsentscheidenden Faktoren bekannt:210 «Heutzutage wird die Verteidigungsfähigkeit des Landes nicht dadurch bestimmt, wie viele Soldaten wir unter den Waffen halten, wie viele Menschen die Uniform tragen. Wenn man von den allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Faktoren absieht […], so hängt die Verteidigungsfähigkeit des Landes in entscheidendem Mass davon ab, welche Feuerkraft und welche Zustellungsmittel diesem Land zur Verfügung stehen.»211 Mit anderen Worten: Die entscheidende Rolle in einem zukünftigen Krieg würden nun die Nuklearwaffen und die Raketen spielen. Wenn diese Kriegsmittel in Form von strategischen Nuklearschlägen gegen militärische, wirtschaftliche und politische Objekte auf dem Territorium des Gegners am Anfang eines Kriegs zum Einsatz gelangten, seien die langfristig wirkenden Faktoren – insbesondere das wirtschaftliche Gesamtpotential eines kriegführenden Staates – nicht mehr länger von ausschlaggebender Wichtigkeit.
Dass die Schläge der strategischen Raketen- und Kernwaffenkräfte kriegsentscheidend waren, bedeutete gemäss Chruščev nicht, dass automatisch jene Seite den Krieg gewann, welche als Erste und überraschend solche Schläge ausführte. Er behauptete, es sei sehr wohl möglich, dass der Sieg an den angegriffenen Staat gehe, vorausgesetzt, dieser verfüge über ein genügend grosses Territorium und habe sich in Friedenszeiten ausreichend darauf vorbereitet, den gegnerischen Nuklearschlag auszuhalten sowie umgehend selbst noch heftiger zurückzuschlagen. Chruščev zeigte sich überzeugt, dass die Sowjetunion diese Voraussetzungen erfüllte: «Das Territorium unseres Landes ist riesengross, wir haben die Möglichkeit, die Raketentechnik zu streuen und sie gut zu tarnen. Wir schaffen ein solches System, dass man immer, wenn die einen für den Gegenschlag bestimmten Mittel ausser Gefecht geraten sind, die zweite Garnitur einsetzen und die Ziele von Ersatzstellungen aus treffen kann.»212 Der Faktor «Überraschung» – so wichtig er nun, im Zeitalter von Nuklearraketen, sein konnte – war nach Ansicht Chruščevs somit weiterhin nicht notwendigerweise von entscheidender Bedeutung für den Ausgang eines Kriegs. Dieses Herunterspielen der Rolle des Überraschungsmoments erscheint angesichts des den strategischen Nuklearraketen zugeschriebenen Zerstörungspotentials sowie angesichts der zu Beginn der 1960er-Jahre de facto gar nicht vorhandenen sowjetischen Zweitschlagskapazität fragwürdig. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Chruščev sich dessen durchaus bewusst war. Einige Autoren vermuten jedenfalls, dass er in Wirklichkeit dem Überraschungsfaktor nun sehr wohl entscheidende Wichtigkeit beimass, dass es ihm aber zu gefährlich erschien, dies offiziell zuzugeben. Ein solcher Schritt hätte nämlich – gegen aussen – die Abschreckungswirkung der UdSSR geschwächt und – im Innern – die Moral von Bevölkerung und Armee untergraben.213
Was war der Grund dafür, dass Chruščev im Jahr 1960 plötzlich die qualitative und quantitative Stärke des Arsenals an atomaren Raketen eines Landes als den kriegsentscheidenden Faktor bezeichnete? Er selbst begründete diesen Schritt mit den waffentechnischen Veränderungen in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre: Die Entwicklung und Einführung von Atom- und Wasserstoffwaffen sowie vor allem von ballistischen Trägerraketen sowohl im Westen wie im Osten habe aufgrund der ungeheuren Zerstörungskraft dieser neuen Kriegsmittel zu einem grundlegenden Wandel des Charakters des modernen Kriegs geführt und habe somit die bisherigen Annahmen bezüglich der kriegsentscheidenden Faktoren obsolet werden lassen. Dieser Erklärung folgte unter anderem die Feststellung, dass die nukleare und thermonukleare Feuerkraft eine Verkleinerung der Streitkräfte ermögliche, «durch deren Verwirklichung ein bedeutender Teil der Soldaten und Offiziere zur Arbeit in den Betrieben, auf den Baustellen, in den Kolchosen, in den wissenschaftlichen Institutionen und Lehranstalten»214 zurückkehren könne. Damit wies Chruščev auf ein wirtschaftliches Motiv für seine Hervorhebung der Nuklear- und Raketenwaffen hin: die Revitalisierung der zivilen Wirtschaft durch Arbeitskräfte, die bis anhin in den konventionellen Streitkräften gebunden gewesen waren. Mit dem Bekenntnis zum Primat der strategischen Raketentruppen und der damit verbundenen Absicht, die übrigen Streitkräfte zu verringern, dürfte Chruščev auch noch andere Zwecke verfolgt haben: Einmal ging es ihm wohl darum, ein Ansteigen der Militärausgaben zu verhindern; dann wollte beziehungsweise musste er wahrscheinlich der demographischen Entwicklung in der Sowjetunion – die Anzahl der für die Armee zur Verfügung stehenden Männer ging zu Beginn der 1960er-Jahre stark zurück – Rechnung tragen; und schliesslich könnte er – durch die Zurückstufung des Offizierskorps der traditionellen Waffengattungen – auch einen machtpolitischen Gewinn angestrebt haben.
Chruščevs einseitige Betonung der Bedeutung von Kern- und Raketenwaffen stiess bei den meisten sowjetischen Militärs auf Ablehnung. Sie waren weiterhin der Meinung, dass auch in einem Nuklearkrieg grosse Truppenmassen und konventionelle Waffen nötig und zumindest mitentscheidend seien. Der Widerstand der Militärs führte 1961 zu einer teilweisen Modifizierung der von Chruščev im Jahr zuvor gemachten Aussagen. Verteidigungsminister Malinovskij ergänzte den zentralen Leitsatz, dass die entscheidende Funktion in einem künftigen Krieg den strategischen Nuklearraketen zukomme, um die Anmerkungen, der endgültige Sieg über den Gegner könne nur durch gemeinsame Operationen aller Waffengattungen erreicht werden und es würden mehrere Millionen Mann starke Armeen benötigt. Diese Kompromissformel stellte nun die offizielle sowjetische Auffassung dar und wurde dementsprechend auch im 1962 erstmals erschienenen Standardwerk «Militär-Strategie» verwendet. Die in der «Militär-Strategie» bezüglich der kriegsentscheidenden Faktoren gemachten Ausführungen waren allerdings zum Teil widersprüchlich oder zumindest ambivalent,215 was darauf hindeutet, dass dieses Thema keineswegs abschliessend geregelt war und nach wie vor unterschiedliche Standpunkte dazu bestanden.
(9) Das Ausmass beziehungsweise die Form der Austragung eines Kriegs wurde Chruščevs Ansicht nach durch die politischen Ziele der Kriegsparteien bestimmt – so wie es Lenin auf der Grundlage von Clausewitz postuliert hatte.216 In Bezug auf den Krieg zwischen zwei antagonistischen Klassen galt unter Chruščev weiterhin der Leitsatz, das Ziel jeder der beiden Klassen bestehe nicht nur in der Besiegung des Gegners, sondern in dessen Vernichtung. Ein solcher Krieg stelle für beide Seiten also einen Kampf um die eigene Existenz dar, und dementsprechend würden sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um den Krieg zu gewinnen beziehungsweise um ihren Untergang zu verhindern. Mit anderen Worten: Ein solcher Krieg sei ein «unbegrenzter Krieg». Komme es zu einem Krieg zwischen den kapitalistischen USA und der kommunistischen UdSSR, so sei dies «die höchste Form des Klassenkampfes», denn die beiden Kriegsparteien verfolgten darin «die entscheidendsten aller Ziele», nämlich – die USA – die Zerstörung des kommunistischen Gesellschaftssystems der östlichen Welt sowie – die Sowjetunion – die Zerstörung des kapitalistischen Gesellschaftssystems der westlichen Welt. Um ihr jeweiliges Ziel zu erreichen, würden sowohl die Amerikaner als auch die Sowjets zwangsläufig ihre mächtigsten Waffen zum Einsatz bringen. Während der Herrschaft Chruščevs waren dies die strategischen Nuklearraketen. Chruščev war dementsprechend der Überzeugung, dass jeder Krieg, in welchen die USA und die UdSSR involviert waren, mit strategischen Nuklearwaffen geführt werde.
(10/11) Während sich die Ansichten über die Voraussetzungen für die Beendigung eines Kriegs unter Chruščev nicht änderten,217 ging mit der Einführung der Politik der Friedlichen Koexistenz die Revidierung der bis anhin gültigen These, dass in einer Welt mit kapitalistischen Staaten Kriege grundsätzlich unvermeidbar seien, einher.218 Chruščev stellte sich zwar weiterhin auf den Standpunkt, solange «der Imperialismus» bestehe, bleibe die ökonomische Grundlage der Kriege erhalten. Und dementsprechend würden die «reaktionären Kräfte, die die Interessen der kapitalistischen Monopole vertreten, auch weiterhin kriegerische Abenteuer und Aggressionen suchen» und «danach trachten, einen Krieg zu entfesseln».219 Erst «mit dem Sieg der Arbeiterklasse in der ganzen Welt, mit dem Sieg des Sozialismus» würden «alle sozialen und nationalen Ursachen für das Entstehen von Kriegen beseitigt sein» und würde es «der Menschheit möglich, sich für alle Zeiten von dieser furchtbaren Geissel zu befreien».220 Gleichzeitig zeigte sich Chruščev aber überzeugt, dass es «eine schicksalhafte Unvermeidbarkeit der Kriege»221 nun nicht mehr gebe. Seiner Meinung nach konnten grundsätzlich alle von Kapitalisten geführten Kriege verhindert werden – vorausgesetzt, es gelinge, «sowohl die Kräfte des sozialistischen Lagers als auch die Völker aller Länder, alle friedliebenden Kräfte zum Kampf für die Verhütung aggressiver Kriege» zu mobilisieren.222 Mit anderen Worten: Nicht nur die Kriege zwischen kapitalistischen und kommunistischen Staaten erschienen Chruščev nicht mehr länger unvermeidlich, sondern ebenso die Kriege innerhalb der kapitalistischen Welt sowie die (Kolonial-)Kriege zwischen kapitalistischen Staaten und unterentwickelten Staaten.223
Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass Chruščev diese Arten von Krieg zwar für vermeidbar, aber keineswegs für ausgeschlossen hielt.224 Als «am wahrscheinlichsten» bezeichnete er Kriege «der Imperialisten» gegen die sozialistischen Staaten,225 denn anders als Stalin, der zu Beginn der 1950er-Jahre die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Ländern sowie die Unvermeidbarkeit von innerkapitalistischen Kriegen hervorgehoben hatte, behauptete Chrušˇev nun, die Widersprüche zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen Lager seien gegenwärtig grösser: «Natürlich bestehen auch jetzt unter den imperialistischen Ländern akute Gegensätze und Antagonismen, besteht der Wunsch, sich auf Kosten anderer, schwächerer Länder zu bereichern. Die Imperialisten müssen aber dabei die Sowjetunion und das ganze sozialistische Lager im Auge behalten, und sie hüten sich, untereinander Kriege anzuzetteln. Sie sind bestrebt, ihren Differenzen die Schärfe zu nehmen. […] Kriege werden hauptsächlich von den Imperialisten gegen die Länder des Sozialismus und vor allem gegen die Sowjetunion als den mächtigsten sozialistischen Staat vorbereitet. Die Imperialisten möchten unsere Macht erschüttern und damit die einstige Herrschaft des Monopolkapitals wiedererrichten.»226
Wie im eben angeführten Zitat beispielhaft zum Ausdruck kommt, begründete Chruščev seine These von der Vermeidbarkeit kapitalistischer Kriege mit den stark gestiegenen Einflussmöglichkeiten des «sozialistischen Lagers» in der Welt: Die friedliebenden Kräfte seien nun – anders als vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – mächtig genug und verfügten über die nötigen Mittel, um «die Imperialisten» davon abzuhalten, Kriege zu beginnen.227 Tatsächlich war es jedoch nicht so sehr diese Verschiebung in der Machtkonstellation zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Lager gewesen, welche den ideologischen Wechsel zur Doktrin der Vermeidbarkeit von Krieg ausgelöst hatte, sondern vielmehr Chruščevs Bedürfnis, die Ideologie mit der auf die Verhinderung eines nuklearen Weltkriegs ausgerichteten Politik der Friedlichen Koexistenz in Übereinstimmung zu bringen.
Es stellt sich nun noch die Frage, ob Chruščev seine Vermeidbarkeitsthese nur auf die von Kapitalisten initiierten Kriege bezog oder ob er sie auch für die sogenannten «nationalen Befreiungskriege», also für Kriege der «unterdrückten Klassen», als gültig erachtete. Seine Antwort darauf veränderte sich im Lauf seiner Herrschaftszeit: In der ersten Phase von 1956 bis Anfang der 1960er-Jahre scheint er tatsächlich alle Kriegskategorien für vermeidbar beziehungsweise für zu vermeidend gehalten zu haben. Darauf jedenfalls lässt seine stets undifferenziert geäusserte Erklärung, dass «die Kriege» vermeidbar seien, schliessen. Zu Beginn der 1960er-Jahre kehrte Chruščev dann aber – wohl unter dem Eindruck der massiven chinesischen Kritik an der bisherigen Haltung – zur ursprünglichen marxistisch-leninistischen Auffassung zurück und stufte die «nationalen Befreiungskriege» wieder als gänzlich unvermeidbar ein: «Befreiungskriege wird es geben, solange der Imperialismus existiert, solange der Kolonialismus existiert. Das sind revolutionäre Kriege. Solche Kriege sind nicht nur zulässig, sondern auch unausbleiblich, da die Kolonialherren den Völkern nicht aus freien Stücken die Unabhängigkeit gewähren.»228
Die bisherigen Ausführungen legen den Schluss nahe, dass die vollständige Abschaffung von Krieg auch unter Chruščev erst nach dem weltweiten Sieg des Sozialismus für erreichbar gehalten wurde. Dem war jedoch nicht so: Den Sowjets erschien es nun möglich, dass unter gewissen Voraussetzungen «noch vor dem vollen Sieg des Sozialismus-Kommunismus im Weltmassstab der Krieg gänzlich aus dem Leben der Völker verschwinden»229 werde. Die Voraussetzungen dafür wurden dann als gegeben erachtet, wenn sich der Sozialismus im grösseren Teil der Welt durchgesetzt hätte.230
1.3.1.5 Die Anpassung des marxistisch-leninistischen Kriegsverständnisses an die Bedingungen der westlichen «flexible response»-Doktrin unter Brežnev
Nach Chruščevs Sturz im Oktober 1964 bildete sich im Kreml eine «kollektive Führung» mit Leonid Il’ič Brežnev als Parteichef und Aleksej Nikolaevič Kosygin als Regierungschef.231 Die neuen Machthaber – beziehungsweise in erster Linie der sowjetische Generalstab – gelangten Mitte der 1960er-Jahre zum Schluss, dass die USA dem Einsatz von Nuklearwaffen nun abgeneigt seien.232 Dieses Fazit beruhte auf einem – durch die Absetzung Chruščevs ermöglichten und durch die in den Nato-Staaten geführte Diskussion um die Glaubwürdigkeit der US-Nukleargarantie für Westeuropa geförderten – neuen sowjetischen Verständnis des amerikanischen Konzepts der flexiblen Reaktion («flexible response»). Das Konzept der flexiblen Reaktion hatte im Jahr 1961 die starre, auf strategischen Nuklearwaffen basierende US-Abschreckungskonzeption der massiven Vergeltung («massive retaliation») abgelöst und sah vor, einen tatsächlichen oder angedrohten Angriff mit einer an die Bedrohung angepassten Mischung aus konventionellen und nuklearen Potentialen zu beantworten.233 Bis Mitte der 1960er-Jahre waren die Sowjets trotz dieser veränderten strategischen Ausrichtung der USA der Ansicht, dass die Amerikaner und ihre Bündnispartner in einem Krieg in Europa immer taktische Nuklearwaffen und spätestens im Fall einer sich abzeichnenden Niederlage auch strategische Nuklearwaffen zum Einsatz bringen würden. Nun jedoch deuteten die Sowjets das Konzept der flexiblen Reaktion dahin gehend, dass die Nato in einem Krieg in Europa die Anwendung von taktischen Nuklearwaffen so lange wie möglich hinausschieben wolle und dass die Amerikaner – aus Furcht vor Nuklearschlägen gegen ihr eigenes Territorium – nicht mehr länger bereit seien, zum Schutze Europas in jedem Fall strategische Nuklearwaffen gegen die Sowjetunion abzufeuern. Dass die amerikanische Nukleargarantie für Westeuropa in Frage gestellt war, liess sich aus sowjetischer Sicht auch aus dem von den Amerikanern 1964 angenommenen Konzept der garantierten Zweitschlagkapazität («assured second strike capability») ableiten. Dieses konnte als Absage an einen strategischen Erstschlag interpretiert werden beziehungsweise als Indiz dafür, dass die USA nur dann zum Mittel strategischer Nuklearwaffen griffen, wenn sie selbst direkt attackiert würden.
Ausgehend von diesen neuen Vorstellungen über das mutmassliche Verhalten des potentiellen Gegners in einem künftigen Krieg folgerten die Sowjets, dass ein solcher Krieg nicht mehr zwangsläufig zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen ihnen und den Amerikanern führen müsse. Mit anderen Worten: Die – bislang als unvermeidlich erachtete – nukleare Verwüstung der Sowjetunion könne unter Umständen nun verhindert werden. Voraussetzung dafür, dass dieses Ziel erreicht werden konnte, war allerdings, dass die Sowjets auf strategische Nuklearschläge gegen die USA verzichteten und damit das Ziel der vollständigen Zerstörung des kapitalistischen Weltsystems aufgaben. Dieser Schritt wiederum bedingte – wie im Folgenden ausgeführt werden wird – eine teilweise Revision der kommunistischen Kriegstheorie, konkret die Revision der Lenin’schen These, dass Kriege zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten immer von beiden Seiten mit dem Ziel der kompletten Zerstörung des gegnerischen Gesellschaftssystems und unter Einsatz aller verfügbaren Waffen geführt würden.
Abb. 14: Leonid Il’ič Brežnev. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Ogonëk. Jahrgang 1966)
(1) Bezüglich der Ursache von Krieg galt unter Brežnev weiterhin die These, dass Krieg ökonomisch bedingt sei: «Der Krieg […] entsteht mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, den antagonistischen Klassen und dem Ausbeuterstaat und verschwindet mit ihnen.»234 Dementsprechend sei Krieg «eine historische Erscheinung, die nur während der Dauer der Existenz der antagonistischen Klassengesellschaften auftritt.»235 Im «imperialistischen Stadium des Kapitalismus» diene der Krieg «der Monopolbourgeoisie als Mittel, die bereits aufgeteilte Welt von Zeit zu Zeit entsprechend dem sich aufgrund der ungleichmässigen ökonomischen und politischen Entwicklung des Kapitalismus ständig verändernden Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Staaten neu aufzuteilen und Völker, die sich von ihrem Joch befreit und den (sozialistischen oder auch nichtsozialistischen) Weg einer selbständigen nationalen Entwicklung beschritten haben, erneut zu unterwerfen.»236 Mit dem weltweiten Sieg des Sozialismus werde die Menschheit «für immer von der Gefahr eines Krieges befreit, da es in der sozialistischen Gesellschaft keine gesellschaftlichen Kräfte – Klassen oder Schichten – gibt, die an der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Völker und somit an einem Krieg interessiert sind».237
(2) Hinsichtlich der Funktion von Krieg fand demgegenüber eine Veränderung in der sowjetischen Einschätzung statt:238 Die während der Chruščev-Zeit vorhandene Tendenz, anzuerkennen, dass ein Nuklearkrieg wohl militärisch nicht führbar beziehungsweise nicht eindeutig gewinnbar wäre, und daraus zu folgern, dass Lenins auf Clausewitz beruhendes Diktum vom Krieg als Fortsetzung der Politik obsolet geworden sei, wurde nun – unter anderem angesichts des zunehmend für möglich gehaltenen «begrenzten Kriegs» – von verschiedenen Militärtheoretikern als fatalistisch und politisch gefährlich kritisiert. Als Folge davon erlangte die Clausewitz-Formel wieder verstärkte Gültigkeit. Gemäss Meissner war ab dem XXIII. Parteitag der KPdSU im Frühling 1966 die offizielle sowjetische Auffassung die, dass «auch der Krieg mit Raketenkernwaffen ein Mittel der Politik sein könne».239
(3) Die eben beschriebene Entwicklung hatte direkte Auswirkungen auf die unter Brežnev vorherrschenden Ansichten bezüglich der Wirkung von Krieg:240
Die Gültigkeit der These, dass Kriege den Prozess in Richtung Weltkommunismus unterstützen und beschleunigen würden, welche während der Herrschaft Chruščevs stark eingeschränkt worden war, wurde nun auch auf Nuklearkriege ausgedehnt. So schrieb beispielsweise Oberstleutnant Evgenij Ivanovič Rybkin: «Wenn diese wissenschaftliche Lehre in der Zeit gültig war, als Kriege nur mit konventionellen Waffen geführt wurden, so verliert sie unter den Bedingungen des nuklearen Raketenkrieges keineswegs ihre Gültigkeit […].»241 Dies bedeutete allerdings nicht, dass die Sowjets den «revolutionären Fortschritt» nun mittels eines nuklearen Kriegs gegen das kapitalistische Lager herbeiführen wollten, sondern muss vielmehr als Zeichen verstanden werden, dass sie sich nicht durch eine zu eng formulierte Doktrin die Hände binden wollten. Jeder Konfliktfall sollte individuell analysiert werden, um das konkrete sowjetische Vorgehen festzulegen.
Generell sahen die Sowjets – insbesondere die Militärs – im Vergleich zur Chruščev-Periode grössere Möglichkeiten zur Einflussnahme im Bereich der «nationalen Befreiungskriege».242 Diese erschienen ihnen nach wie vor als deutlichster Beleg für die revolutionsbegünstigende Wirkung von Krieg, war doch im Zuge von Kämpfen während der Entkolonialisierung in zahlreichen Staaten der Sozialismus eingeführt worden. Ab Mitte der 1960er-Jahre beobachteten die Sowjets dementsprechend erwartungsvoll, welche Auswirkungen der amerikanische Misserfolg im Vietnamkrieg hatte – speziell auf die USA selbst. Eine eigentliche Revolution konnten sie dort zwar nicht ausmachen, immerhin aber eine grosse politische Krise und schliesslich massive Veränderungen in der Struktur der amerikanischen Gesellschaft. Dies schien ihnen Grundlage genug zu sein für die Folgerung, dass auch die USA wegen eines Kriegs der proletarischen Revolution einen Schritt nähergerückt seien.243
(4) Die generelle Einstellung zum Krieg veränderte sich nach dem Sturz
Chruščevs nicht.244 Es wurde weiterhin betont, dass der Marxismus-Leninismus «im Gegensatz zu den dogmatischen Auffassungen vom Krieg als einem absoluten Übel» zwischen «gerechten und ungerechten, reaktionären und revolutionären Kriegen» unterscheide: «Kriege, die dazu dienen, die von der herrschenden Klasse eines Landes betriebene Politik der Unterdrückung und Ausbeutung des eigenen Volkes wie auch fremder Völker mit den Mitteln des bewaffneten Kampfes fortzusetzen, den Herrschaftsbereich von Ausbeuterklassen gewaltsam auszudehnen und die Macht der reaktionären Kräfte gewaltsam aufrechtzuerhalten, sind ungerecht. Gerecht sind Kriege, die die Völker für ihre Befreiung von nationaler und kolonialer Unterdrückung und die die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen um die Befreiung vom Klassenjoch führen.»245
Chruščevs simplifizierende Kriegstypologie jedoch wurde nicht beibehalten, sondern vielmehr offen angegriffen: Die sowjetischen Theoretiker kritisierten, Chruščev habe nicht genügend scharf zwischen gerechten und ungerechten Kriegen unterschieden und so zu wenig deutlich gemacht, dass «das einzig richtige Kriterium für die Definition des Wesens von Kriegen […] ihr sozio-politischer Inhalt»246 sei. Neu wurden nun meistens fünf Arten von Kriegen aufgeführt; drei eindeutig «gerechte» und zwei eindeutig «ungerechte». Zu den Letzteren gehörten zum einen «Weltkriege zwischen einander entgegengesetzten Gesellschaftssystemen» – denn solche Kriege wurden nach sowjetischer Auffassung immer von den «Imperialisten» begonnen – und zum anderen «Kriege zwischen imperialistischen Staaten». Als «gerechte» Kriege wurden demgegenüber die folgenden charakterisiert: Erstens «Kriege zur Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes», womit Kriege gemeint waren, die zwar von ihrer Form her ebenfalls global und zwischen entgegengesetzten Gesellschaftssystemen geführt wurden, in welchen es aber um die historische Pflicht des «Weltproletariats» ging, die Errungenschaften des Sozialismus zu verteidigen; zweitens «Bürgerkriege», worunter bewaffnete Kämpfe der unterdrückten Klassen gegen die Unterdrückerklassen innerhalb eines Staates verstanden wurden; und drittens «nationale Befreiungskriege», das heisst bewaffnete Kämpfe «der Völker der kolonialen und abhängigen Länder für ihre Befreiung vom imperialistischen Joch auf jede Art und Weise»247 oder Kriege «der jungen Nationalstaaten gegen die Restauration des Kolonialjochs».248
(5) Unverändert in Kraft blieb unter Brežnev die Doktrin der Friedlichen Koexistenz zwischen Kommunismus und Kapitalismus.249 Sie wurde weiterhin für die der gegenwärtigen, gemäss sowjetischer Darstellung vom «Kampf um den Frieden»250 geprägten Weltlage angemessenste Form der Aussenpolitik erachtet. Dementsprechend wies die sowjetische Führung die Idee, dass die UdSSR einen oder mehrere kapitalistische Staaten angreifen könnte, nach wie vor weit von sich und hielt stattdessen am Axiom fest, dass ein Krieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus nur durch das kapitalistische Lager begonnen werde könne. Die Behauptung, in der sozialistischen Gesellschaft gebe es «keine Klassen und andere Kräfte, die an einem Krieg interessiert sein könnten»,251 auch nicht an einem «revolutionären Krieg» gegen die kapitalistischen Staaten,252 stand aber ideologisch noch immer auf wackeligen Beinen. Dasselbe gilt für die ebenfalls weiterhin praktizierte generelle Ablehnung des Aktes der Aggression. Diese Ablehnung wurde unter Brežnev – besonders nach dem Einmarsch der Sowjets in die Tschechoslowakei 1968 – übrigens weniger stark betont als unter seinen Vorgängern. So gab die sowjetische Führung Ende der 1960er-Jahre die Formel, dass keine politischen, strategischen oder wirtschaftlichen Erwägungen eine Aggression rechtfertigen könnten, stillschweigend auf.253 Ganz offensichtlich war sie zur Auffassung gelangt, dass diese Formel den sowjetischen Interessen nun nicht mehr entsprach. Wie schon im Fall Ungarns war der Sowjetunion nach der Intervention in der ČSSR nämlich vorgeworfen worden, selbst nach ihren eigenen Massstäben eine Aggression verübt zu haben.254 Die Sowjets hatten zwar erneut versucht, diesen Vorwurf unter Verweis auf einen angeblichen tschechoslowakischen «Hilferuf» zu entkräften,255 dürften sich aber selbst bewusst gewesen sein, dass diese legalistische Argumentation alles andere als überzeugend war. Um derartige «Unannehmlichkeiten» in Zukunft zu verhindern, proklamierten die Sowjets von nun an, Aggressionen könnten nur von «imperialistischen» Staaten begangen werden.256 Gleichzeitig verkündete Brežnev die These von der «begrenzten Souveränität der sozialistischen Staaten», welche besagte, dass die «internationale Pflicht der Kommunisten» ein – notfalls auch militärisches – Eingreifen gebiete, wann immer in einem kommunistisch beherrschten Land der «Sozialismus» bedroht sei; denn es gelte, eine Schwächung des gesamten «sozialistischen Lagers» abzuwenden.257 Mit dieser sogenannten «Brežnev-Doktrin» sowie der erwähnten neuen Definition von «Aggression» verschaffte sich die sowjetische Führung praktisch eine Blankovollmacht, jederzeit gegen alle ihr missliebigen Entwicklungen in ihrem Einflussbereich vorzugehen, ohne dabei nach ihren eigenen Massstäben eine Aggression zu verüben.
(6) Obwohl die Sowjets auch unter Brežnev die Möglichkeit eines von ihnen begonnenen Kriegs gegen das kapitalistische Lager offiziell klar verneinten, sprach rein ideologisch weiterhin nichts Grundsätzliches dagegen.258 Die einzigen möglichen Hinderungsgründe für einen sowjetischen Angriffskrieg dürften nach wie vor die drei folgenden gewesen sein: erstens die Erkenntnis, dass das angestrebte politische Ziel ebenso gut mit nichtkriegerischen Mitteln erreicht werden konnte, zweitens die fehlende Gewissheit des eigenen Sieges in diesem Krieg und drittens eine zu grosse Furcht vor negativen Begleiterscheinungen eines Sieges für die Sicherheit und die Macht der Sowjetunion – konkret insbesondere vor massiver nuklearer Zerstörung des eigenen Territoriums.
(7) Als Folge der andauernden Gültigkeit des Konzepts der Friedlichen Koexistenz zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten blieb unter Brežnev auch die von Chruščev aufgestellte These weiter in Kraft, «dass der Sozialismus ohne Krieg über den Kapitalismus zu triumphieren vermag».259 Dieser Grundsatz bedeutete – wie schon zu Chruščevs Zeiten – nicht, dass die Sowjets den Krieg als Mittel zur Förderung der Weltrevolution gänzlich ausschlossen. Dem friedlichen, evolutionären Übergang zum Sozialismus wurde zwar Priorität eingeräumt, doch für den Fall, dass sich dieser Weg als nicht gangbar erweisen sollte, blieb der Rückgriff auf Waffengewalt eine Option. Die Sowjets schätzten dabei die Möglichkeiten zum Einsatz von gewaltsamen Mitteln nun als etwas grösser ein als während der Ära Chruščev: Als zulässig angesehen wurden nicht mehr nur nationale Befreiungskriege sowie Bürgerkriege in Gestalt der Bürger-Befreiungskriege, sondern verschiedene Formen der Einmischung, die grösstenteils den Charakter einer Intervention besassen. Nicht in Frage kamen demgegenüber nach wie vor die sogenannten «internationalen Kriege», das heisst der atomare Weltkrieg und begrenzte, lokale Kriege, bei denen Eskalationsgefahr bestand.
(8) Die sowjetischen Ansichten bezüglich der über Sieg und Niederlage in einem Krieg entscheidenden Faktoren waren nach Chruščevs Sturz geprägt von einer deutlichen Relativierung der Vorrangstellung der strategischen Nuklearraketen gegenüber anderen, insbesondere langfristig wirkenden Faktoren.260 Wie in Punkt 9 ausgeführt werden wird, setzte sich in der Sowjetunion um die Mitte der 1960er-Jahre die Erkenntnis durch, dass zukünftige Kriege zwischen West und Ost unter Umständen ohne den Einsatz strategischer Nuklearwaffen ausgetragen werden konnten. Als Folge davon wurde Faktoren wie der Mobilmachung, den Reserven an militärischem Personal und Material sowie dem «wirtschaftlichen Potential» eines Landes nach Kriegsausbruch nun wieder grössere Wichtigkeit zuerkannt. Auch die Bedeutung des «moralischen Potentials» wurde verstärkt betont: «Man darf […] die Kernwaffen nicht zum Fetisch erheben, wie einige bürgerliche Militärideologen dies tun. Bei der Beurteilung der Auswirkungen von Kernwaffen und technischem Gerät auf die Methoden der Kriegführung hat man stets die Frage zu berücksichtigen, in welchen Händen diese Waffen sich befinden. Wie die Erfahrungen der Geschichte zeigen, wird von neuen Methoden und Formen des bewaffneten Kampfes, von neuen Waffen und technischen Geräten zur Errichtung des Sieges über den Feind dann der beste Gebrauch gemacht, wenn sich ihrer dasjenige Volk und diejenige Armee bedienen, die einen gerechten Krieg, einen Befreiungskrieg führen, die den Wert der Freiheit und Unabhängigkeit, die Errungenschaften des Sozialismus und Kommunismus verteidigen und sich durch hohe sittlich-politische Qualitäten auszeichnen. In dieser Hinsicht wird auch ein möglicher Weltkrieg mit Raketen-Kernwaffen keine Ausnahme bilden. Auch in ihm werden sich die schöpferischen Fähigkeiten jener Völker, die sich zu einem gerechten Kampf erhoben, die Ziele und Aufgaben des Krieges begriffen und sich entsprechend auf ihn vorbereitet haben, mit ungebrochener Kraft offenbaren. Es kann keinen Zweifel daran bestehen, dass die der Aggression die Stirn bietenden Völker dem Feind mit Kampfmethoden entgegentreten werden, die den seinigen überlegen sind.»261
(9) Die Frage nach der Form der Austragung eines Kriegs zwischen zwei einander entgegengesetzten Klassen – insbesondere eines Kriegs zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten – wurde in der Brežnev-Periode anders beantwortet als während der Stalin- und der Chruščev-Zeit:262 Wie zu Beginn dieses Unterkapitels erwähnt, gelangte die sowjetische Führung unter dem Eindruck der amerikanischen Konzepte der flexiblen Reaktion sowie der garantierten Zweitschlagkapazität Mitte der 1960er-Jahre zur Auffassung, dass ein militärischer Konflikt zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten nicht – wie seit Lenins Zeiten behauptet – zwangsläufig von beiden Seiten mit dem Ziel der vollständigen Zerstörung des gegnerischen Gesellschaftssystems und unter Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Kriegsmittel geführt werden müsse. Selbst ein Krieg, in welchen gleichzeitig die Supermächte UdSSR und USA involviert waren, müsse nicht mehr unbedingt zur letzten Entscheidungsschlacht zwischen den beiden Weltsystemen werden. Mit anderen Worten: Die Sowjets hielten nun «begrenzte Kriege» zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus für möglich, also Kriege, in denen die Konfliktparteien nicht alle verfügbaren Mittel einsetzten, sondern beispielsweise auf die Verwendung von strategischen Nuklearwaffen oder von Nuklearwaffen überhaupt verzichteten. Voraussetzung für einen solchen «begrenzten Krieg» war aus sowjetischer Sicht, dass die in diesem Krieg verfolgten Ziele beschränkt und somit die Folgen einer Niederlage für den Verlierer von relativ geringer Bedeutung waren. Falls dies nicht der Fall war, der Verlierer die Konsequenzen einer Niederlage in einem Krieg also als existenzgefährdend einstufte, dann, so waren die Sowjets überzeugt, komme es weiterhin zu einem «unbegrenzten Krieg», in welchem auch Atomwaffen – taktische und strategische – eingesetzt würden. In den Augen der Sowjets konnte nur ein bezüglich seiner regionalen Ausdehnung beschränkter Krieg, das heisst ein sogenannter «lokaler Krieg», ein «begrenzter Krieg» sein. Hatte sich ein Krieg auf den Grossteil oder die Gesamtheit unseres Planeten ausgebreitet und war somit zu einem globalen Krieg, zu einem «Weltkrieg», geworden, so standen nach Ansicht der Sowjets sowohl für die kapitalistische als auch für die kommunistische Seite unweigerlich derart wichtige Interessen auf dem Spiel, dass es zu einem «unbegrenzten Krieg» kommen musste.
(10/11) Die von Lenin formulierte Auffassung, dass für die Beendigung von Kriegen das vollständige Erreichen der ihnen zugrunde liegenden politischen Ziele nötig sei, blieb unter Brežnev unverändert in Kraft.263 Dasselbe gilt für die von Chruščev entwickelten Thesen über die Vermeidbarkeit beziehungsweise die endgültige Überwindung von Krieg. So hiess es weiterhin, dass «imperialistische Kriege in der heutigen Epoche nicht mehr unvermeidlich» seien, da «es auf Grund der Existenz der sozialistischen Staaten, der ihre Friedenspolitik unterstützenden jungen Nationalstaaten und aller an der Erhaltung des Friedens in den kapitalistischen Ländern selbst interessierten gesellschaftlichen Kräfte heute objektiv möglich» sei, «den Imperialismus an der Entfesselung eines neuen Weltkriegs zu hindern und ihn zur Einstellung begrenzter imperialistischer Kriege zu zwingen».264 Ausgenommen von der Vermeidbarkeitsthese blieben die «nationalen Befreiungskriege» und die «Bürgerkriege».265 Bezüglich der Möglichkeit der gänzlichen Abschaffung von Krieg lautete der Grundsatz nach wie vor, dass «mit dem Sieg des Sozialismus im Weltmassstab […] die Menschheit für immer von der Gefahr eines Krieges befreit» werde, «da es in der sozialistischen Gesellschaft keine gesellschaftlichen Kräfte – Klassen oder Schichten – gibt, die an der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Völker und somit an einem Krieg interessiert sind».266 Dazu wurde allerdings – wie schon unter Chruščev – angefügt, die mit der Politik der Friedlichen Koexistenz einhergehende «Veränderung des Kräfteverhältnisses zu Gunsten der Kräfte des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus» schaffe allmählich Bedingungen, unter denen «noch vor dem vollen Sieg des Sozialismus und Kommunismus im Weltmassstab der Krieg gänzlich aus dem Leben der Völker verschwinden wird».267
1.3.1.6 Fazit
Das Kernstück der marxistisch-leninistischen Lehre vom Krieg ist die These, dass der Krieg seinem Wesen nach ein Produkt des Kapitalismus beziehungsweise des Imperialismus sei. Sowohl Marx und Engels als auch alle ihre ideologischen Nachfolger erachteten als Ursache von Krieg nämlich das Privateigentum an den Produktionsmitteln beziehungsweise die Aufteilung der Gesellschaft in unterdrückende und unterdrückte Klassen.
Die Funktion von Krieg beschrieben die Begründer des Marxismus-Leninismus – speziell Lenin – in Anlehnung an Clausewitz als «Fortsetzung der Politik mit gewaltsamen Mitteln». Krieg im Allgemeinen war für sie demzufolge ein grundsätzlich wertneutrales Instrument zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele einer Klasse. Das Aufkommen von Nuklear- und Raketenwaffen und die daraus erwachsende massiv erhöhte Vernichtungsgefahr im Fall eines Kriegs führten unter Chruščev zur Infragestellung der weiteren Gültigkeit der Clausewitz-Formel. Nach der Machtübernahme Brežnevs wurde dieser Theoriestreit jedoch zu Gunsten der Ansicht entschieden, dass auch der Krieg mit Raketenkernwaffen ein Mittel der Politik bleibe.
In Bezug auf die Wirkung von Krieg wiesen Marx und Engels einerseits auf die vielen äusserst negativen Aspekte hin, welche der Krieg in Form von Tod, Leiden, Not und Elend für den einzelnen Arbeiter und Bauern mit sich bringe. Andererseits betonten sie – und diesen Gesichtspunkt gewichteten sie stärker – , welch überaus positive Auswirkungen Krieg für die Sache des «Proletariats» als Ganzes haben könne. Krieg könne nämlich den revolutionären Prozess beschleunigen und so den Triumph des Kommunismus näherbringen. Auch Lenin und Stalin hoben in der Folge den Wert von Krieg als «Hebamme» für die Verbreitung des Kommunismus beziehungsweise für die Stärkung der sowjetischen Machtposition hervor. Anders Chruščev: Er gelangte im Lauf der 1950er-Jahre zur Erkenntnis, dass ein Weltkrieg im Kernwaffen- und Raketenzeitalter wohl einer Selbstvernichtung gleichkäme oder doch den ohnehin unvermeidlichen kommunistischen Sieg unnötig erschweren und verzögern würde. Seiner Ansicht nach konnten nun nur noch die «nationalen Befreiungskriege» revolutionsbegünstigende Wirkung entfalten. Die Bedeutung von Krieg als Faktor, welcher die proletarische Revolution förderte, ging während dieser Periode somit grossenteils verloren. Nach Chruščevs Sturz wurde diese Entwicklung dann zumindest teilweise wieder rückgängig gemacht.
Die Einstellung der Marxisten-Leninisten zum Krieg war im untersuchten Zeitraum geprägt davon, dass sie ihn nie generell ablehnten. Vielmehr unterschieden sie stets zwischen guten beziehungsweise «gerechten» und schlechten beziehungsweise «ungerechten» Kriegen. Zur ersten Kategorie zählten Kriege, die zum Zwecke der Verbreitung oder Verteidigung des Kommunismus geführt wurden, zur zweiten Kategorie Kriege, die nur den Interessen der «Kapitalisten» dienten.
Die Frage nach dem Aggressor in einem Krieg wurde von Marx, Engels und Lenin als irrelevant angesehen. Eine prinzipielle Verurteilung des Aktes der Aggression war für sie kein Thema, im Gegenteil: Sie hielten es für richtig, selbst Kriege zu beginnen, wann immer es ihnen schien, dass die Sache des Kommunismus dies verlange. Nach der Gründung Sowjetrusslands allerdings wurden die Äusserungen zu diesem Thema immer zurückhaltender, und spätestens Anfang der 1930er-Jahre kam es zu einer regelrechten Kehrtwende: Stalin stellte nun jegliche Absicht eines offensiven «revolutionären Krieges» entschieden in Abrede und setzte sich für ein weltweit geltendes generelles Aggressionsverbot ein. Der Grund für diese Haltungsänderung war freilich kein ideologischer, sondern ein politisch-taktischer: Angesichts der exponierten Lage der Sowjetunion als einziger sozialistischer Staat sowie ihrer relativen militärischen Schwäche fürchtete Stalin Angriffe der kapitalistischen Staaten auf sein Land. Um diese zu verhindern, versuchte er, einerseits die UdSSR gegenüber der Weltöffentlichkeit als friedliebend darzustellen und andererseits institutionelle Sicherungen gegen Aggressionen zu erreichen. Da sich die Sowjets auch nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber den Westmächten nicht in einer Position der Stärke fühlten, führten sie die Propaganda gegen jegliche Art von Aggression – unter Chruščev eingebettet in die Politik der Friedlichen Koexistenz – fort. Das Verhalten der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs sowie 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei weist allerdings darauf hin, dass die offiziell postulierte Ablehnung des Aktes der Aggression stets nur eine scheinbare war und in Tat und Wahrheit die ursprüngliche marxistisch-leninistische Haltung zum Beginnen eines Kriegs in Kraft blieb.
Obwohl für Marxisten-Leninisten keinerlei moralische oder ethische Hinderungsgründe für die Anwendung von Krieg existierten, mussten für einen solchen Schritt doch gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. Die von Marx und Engels formulierten Grundbedingungen lauteten: Es muss ausgeschlossen werden können, dass das angestrebte Ziel mit friedlichen Mitteln erreicht werden kann, und der Sieg in diesem Krieg muss als sicher angesehen werden können. Nach der Entstehung der Sowjetunion gesellte sich dazu noch eine dritte Voraussetzung: Die zu erwartenden negativen Begleiterscheinungen eines Sieges für die Sicherheit und die Macht der UdSSR – als staatlicher Verkörperung des Kommunismus – durften nicht zu schwerwiegend sein.
Unterschiedlich bewertet wurde im Verlauf der Zeit die Rolle der militärischen Gewalt für den Sieg der Revolution: Während Marx’ und Engels’ Äusserungen zu diesem Thema uneinheitlich ausfielen, war nach Meinung Lenins für die weltweite Errichtung des Sozialismus auf jeden Fall bewaffnete Gewalt notwendig. Diese Haltung blieb bis Mitte der 1950er-Jahre unverändert. Dann unternahm Chruščev unter dem Eindruck der Gefahr eines nuklearen Weltkriegs eine ideologische Kehrtwende: Er stellte die Behauptung auf, dass eine kommunistische Revolution auch mit rein friedlichen Mitteln – das heisst auf parlamentarischem Wege – bewerkstelligt werden könne. Der Rückgriff auf Waffengewalt blieb allerdings eine Option – für den Fall, dass sich der friedliche Weg als nicht gangbar erwies. Chruščevs Ansichten behielten auch nach seiner Entmachtung Gültigkeit: Dem evolutionären, gewaltlosen Übergang zum Sozialismus wurde weiterhin Priorität eingeräumt.
Der wichtigste den Verlauf und den Ausgang eines Kriegs beeinflussende Faktor war sowohl für Marx und Engels als auch für Lenin die wirtschaftliche Basis einer Gesellschaft. Vor allem von Letzterem wurde daneben auf die zunehmende Bedeutung der «Moral» der Bevölkerungen der an diesem Krieg beteiligten Staaten hingewiesen. Stalins Vorstellungen zu diesem Thema waren inhaltlich praktisch dieselben wie die seiner Vorgänger, in der Form unterschieden sie sich jedoch: Stalin nannte – wohl aus innenpolitisch-taktischen Gründen – nicht das wirtschaftliche Gesamtpotential eines Staates als Hauptfaktor für den Sieg in einem Krieg, sondern bezeichnete fünf «ständig wirkende Faktoren» als entscheidend. Nicht zu diesen gehörte – trotz dem Aufkommen von Nuklearwaffen nach dem Zweiten Weltkrieg – der Faktor «Überraschung». In den ersten Jahren nach Stalins Tod blieb die zentrale Bedeutung der fünf «ständig wirkenden Faktoren», wenn auch nun anders bezeichnet und strukturiert, grundsätzlich erhalten. Gleichzeitig wurde dem Faktor «Überraschung» etwas grössere Wichtigkeit zuerkannt. Im Jahr 1960 jedoch erfolgte ein vollständiger Bruch mit den bisherigen Vorstellungen: Chruščev betonte nun erstmals den Vorrang der Feuerkraft, das heisst der nuklearen Waffen, gegenüber dem Menschenpotential, also in erster Linie der konventionellen Landmacht. Gemäss Chruščev waren fortan die strategischen Nuklearraketen das bestimmende und entscheidende Element eines künftigen Kriegs, wohingegen die konventionelle Bewaffnung zunehmend an Bedeutung verlieren würde. Unter Brežnev wurde diese Entwicklung dann teilweise wieder rückgängig gemacht.
Der Marxismus-Leninismus geht – basierend auf Clausewitz – davon aus, dass die Anzahl und die Art der von einer Kriegspartei in einem militärischen Konflikt eingesetzten Mittel vom politischen Ziel, welches diese Kriegspartei verfolgt, bestimmt werden. Je wichtiger dieses Ziel, desto mehr und effizientere Mittel würden verwendet. In Bezug auf den Krieg zwischen zwei antagonistischen Klassen galt bis zur Chruščev-Periode der Leitsatz, in einem solchen Fall bestehe das Ziel jeder der beiden Klassen zwangsläufig in der kompletten Zerstörung des gegnerischen Gesellschaftssystems, und dementsprechend würden beide Seiten sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zum Einsatz bringen. Nach dem Sturz Chruščevs wurde diese Einschätzung – unter dem Eindruck des amerikanischen Konzepts der flexiblen Reaktion – jedoch «entradikalisiert»: Von nun an wurden unter der Voraussetzung, dass beide Kriegsparteien beschränkte Ziele verfolgten, «begrenzte Kriege» zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus für möglich gehalten.
Zur Beendigung eines Kriegs von Seiten der Kommunisten kam es gemäss der stets gleichbleibenden marxistisch-leninistischen Auffassung genau dann, wenn die dem Krieg zugrunde liegenden politischen Ziele vollständig erreicht waren. Eine Fortsetzung des Kriegs «um des Krieges willen» wurde schärfstens abgelehnt.
Die Ansichten über die Vermeidbarkeit von Kriegen unterlagen von Marx bis Brežnev einem recht starken Wandel. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Kriege zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Ob solche Kriege als vermeidbar anzusehen waren oder nicht, wurde nämlich weniger auf der Grundlage der Ideologie entschieden als vielmehr aufgrund der jeweiligen inneren und äusseren Lage der Sowjetunion beziehungsweise in Abhängigkeit von den momentanen politischen Zielen der sowjetischen Führung. Die ursprüngliche marxistisch-leninistische Haltung zum Thema Vermeidbarkeit von Kriegen war die, dass, solange der Kapitalismus – der als Klassengesellschaft ja von Natur aus kriegerisch-aggressiv sei – bestehe, Kriege grundsätzlich unvermeidlich seien. Diese Aussage wurde nach der Entstehung des Sowjetstaats jedoch relativiert: In den 1930er-Jahren liess Stalin im Rahmen seiner auf die Verhinderung einer deutschen oder japanischen Aggression gegen die Sowjetunion abzielenden Friedenspropaganda die These von der Vermeidbarkeit von Kriegen verkünden. In erster Linie waren damit natürlich die Kriege zwischen der kapitalistischen Welt und der UdSSR gemeint, doch wurden auch die innerkapitalistischen Kriege nicht explizit davon ausgenommen. Nach einer durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten teilweisen Rückkehr zur Auffassung, dass Kriege bei Fortbestehen des Kapitalismus unvermeidlich seien, folgte zu Beginn und dann vor allem in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre eine neuerliche Betonung der Vermeidbarkeit von Kriegen: Im Kontext der Doktrin der Friedlichen Koexistenz erklärte Chruščev ab 1956, dank den stark gestiegenen Einflussmöglichkeiten des «sozialistischen Lagers» in der Welt könnten nun sämtliche «imperialistischen Kriege» verhindert, wenn auch nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Als unvermeidbar stellte Chruščev – ebenso wie nach ihm Brežnev – nur noch die «nationalen Befreiungskriege» hin.
Bezüglich der gänzlichen Beseitigung des Phänomens «Krieg» galt lange Zeit der Grundsatz, dass diese möglich sei, jedoch erst dann, wenn der Gegensatz zwischen unterdrückenden und unterdrückten Klassen überall aufgehoben worden sei, sprich: nach der Errichtung des Kommunismus auf der ganzen Welt. Erst dann nämlich sei die für die Entstehung von Kriegen verantwortliche Ursache endgültig beseitigt. Unter Chruščev wurde diese These – im Zusammenhang mit der Behauptung vom rasanten Aufstieg des «sozialistischen Weltsystems» – abgeändert. Von nun an hiess es offiziell, der Krieg werde bereits dann gänzlich «aus dem Leben der Völker verschwinden», wenn sich der Sozialismus im grösseren Teil der Welt durchgesetzt habe, also schon vor dem völligen und endgültigen Verschwinden des Kapitalismus in der ganzen Welt.
1.3.2 Die Ansichten bezüglich Frieden
Bedingt durch die Geschichtsphilosophie des Marxismus-Leninismus gilt in dieser Ideologie der Grundsatz, dass Inhalt und Charakter eines Friedenszustandes immer der jeweiligen ökonomischen Gesellschaftsformation entsprechen.268 So wird ein dauerhafter, «echter» Frieden in der Klassengesellschaft für unmöglich gehalten. Der materielle Interessengegensatz zwischen der «Ausbeuterklasse» und der «ausgebeuteten Klasse» sei nämlich unversöhnlich und führe zwangsläufig immer wieder zu Konflikten. In der Klassengesellschaft sei Frieden somit stets nur «ein Zustand des Nichtkriegs, eine Pause zwischen den Kriegen, in der die herrschenden Klassen beziehungsweise Klassenfraktionen neue Kriege vorbereiten und versuchen, andere Staaten und Völker mit nichtkriegerischen Mitteln zu unterwerfen».269 Ein «echter», «ewiger» Frieden sei nur in einer Gesellschaft möglich, in der es keine «Ausbeuterklasse» gebe. In dieser klassenlosen Gesellschaft sei Frieden dann nicht bloss möglich, sondern geradezu unvermeidbar: «Er ist die notwendige Folge des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und der dementsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse und inneren Gesetzmässigkeiten der sozialistisch-kommunistischen Produktionsweise.»270
Die Erkenntnis, dass nur in der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus «echter» Frieden möglich sei, erklärt, warum für Marxisten-Leninisten das Herstellen von Frieden als Zustand nie ein eigenständiges Ziel bildete. Sie nannten dieses immer nur im Zusammenhang mit der Errichtung des Kommunismus: Für Lenin bedeutete Frieden einfach die Erreichung und Umsetzung der eigenen, kommunistischen Ziele. Die Forderung nach Frieden sei inhalt- und sinnlos, wenn damit nicht die Forderung nach einer sozialistischen Revolution verbunden sei.271 Auch für Stalin war Frieden kein eigentliches Thema. Er erklärte, dass Frieden dann herrschen werde, wenn der Kapitalismus überwunden und der Kommunismus errichtet sei: «Erst im Reiche des Sozialismus kann völliger Friede hergestellt werden.»272 Diese Auffassung, in welcher der Begriff des Friedens mit jenem des Kommunismus zusammenfiel, vertraten ebenso Chruščev und Brežnev: Das unter ihnen gültige Konzept der Friedlichen Koexistenz von Kapitalismus und Kommunismus hielt vollständig am grundlegenden marxistisch-leninistischen Ziel der proletarischen Weltrevolution fest und ebenso an der Idee, dass erst diese Revolution den «echten» Frieden mit sich bringe.273
Die marxistisch-leninistische Einstellung zum Frieden in einer Klassengesellschaft beziehungsweise in einer Welt mit kapitalistischen Staaten ist eng mit der Einstellung zum Krieg verbunden.274 Wie Krieg wird im Marxismus-Leninismus nämlich auch Frieden in Clausewitz’schem Sinn als ein Instrument zur Durchsetzung einer bestimmten Politik gesehen: «Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik, die die herrschenden Klassen der kriegführenden Staaten lange vor dem Krieg getrieben haben, mit Mitteln der Gewalt. Der Friede ist die Fortsetzung der gleichen Politik, unter Berücksichtigung jener Veränderungen im Kräfteverhältnis der Gegner, die durch die Kriegshandlungen eingetreten sind.»275 Mit anderen Worten: Ob Krieg oder Frieden herrscht, hänge davon ab, welche der beiden Möglichkeiten von einem Staat oder einer Bevölkerungsgruppe in der jeweiligen Situation als das zweckmässigste Instrument zur Erreichung der eigenen Ziele angesehen werde.
Aus marxistisch-leninistischer Perspektive ist Frieden somit grundsätzlich weder ein positiver noch ein negativer, sondern ein wertneutraler Zustand. Frieden ist zwar das Gegenteil von Krieg, aber nicht a priori «besser» als Krieg.276
Aus dem bisher Gesagten wird klar, dass das marxistisch-leninistische Verständnis von Frieden mit jenem des Pazifismus nicht übereinstimmt. Die Vertreter des Marxismus-Leninismus nahmen gegenüber der pazifistischen Bewegung denn auch stets eine klar ablehnende Haltung ein:
Lenin machte deutlich, dass ein «Friede ohne weiteres»,277 wie ihn die Pazifisten anstreben, keinen Sinn mache: «Pazifismus und abstrakte Friedenspredigt sind eine Form der Irreführung der Arbeiterklasse. […] Eine Friedenspropaganda, die nicht begleitet ist von der Aufrufung der Massen zu revolutionären Aktionen, kann in der gegenwärtigen Zeit nur Illusionen erwecken, das Proletariat dadurch demoralisieren, dass man ihm Vertrauen in die Humanität der Bourgeoisie einflösst, und es zu einem Spielzeug in den Händen der Geheimdiplomatie der kriegführenden Länder machen. Insbesondere ist der Gedanke grundfalsch, dass ein sogenannter demokratischer Frieden ohne eine Reihe von Revolutionen möglich sei.»278 Wer «einen dauerhaften und demokratischen Frieden» wolle, der müsse «für den Bürgerkrieg gegen die Regierungen und die Bourgeoisie sein».279 Dementsprechend forderte Lenin: «Es gilt zu wählen: Für den Sozialismus oder für die Unterwerfung unter die Gesetze der Herren Joffre und Hindenburg, für den revolutionären Kampf oder Liebedienerei vor dem Imperialismus. Einen Mittelweg gibt es hier nicht.»280
Stalins Urteil über den Pazifismus war ebenfalls unmissverständlich: «Manch einer glaubt, der imperialistische Pazifismus sei ein Instrument des Friedens. Das ist grundfalsch. Der imperialistische Pazifismus ist ein Instrument der Kriegsvorbereitung, er dient zur Bemäntelung dieser Vorbereitung mittels pharisäischer Friedensphrasen.»281
An der grundsätzlichen Ablehnung des Pazifismus änderte auch die Einführung des Prinzips der Friedlichen Koexistenz Ende der 1950er-Jahre nichts, denn Chruščev sowie anschliessend Brežnev unterschieden das Konzept der Friedlichen Koexistenz deutlich vom Pazifismus: Der Pazifismus betrachte «das Problem Krieg oder Frieden» fälschlicherweise nicht von dessen «Wesen», das heisst von dessen «sozialökonomischen Wurzeln», sondern bloss «von der Erscheinung» her.282 Er lehne deshalb nicht nur «lokale und Weltkriege», sondern – zu Unrecht – auch «nationale Befreiungskriege und revolutionäre Volksaufstände» ab: «Die Pazifisten […] negieren völlig, dass die Gewalt auch eine progressive Rolle spielen kann, und wenden sich gegen alle, also auch gegen gerechte und revolutionäre Kriege.»283
Insgesamt wurde der Pazifismus als «bourgeoise» beziehungsweise «kleinbürgerliche ideenpolitische Richtung und sozialpolitische Bewegung» bezeichnet, «welche den konkreten historischen Zugang zu den Kriegen und zur Verteidigung verkennt».284 Der Pazifismus übersehe, dass Kriege ohne Beseitigung ihrer Quelle, das heisst ohne Überwindung von Privateigentum der Produktionsmittel, nicht abgeschafft werden könnten. Deshalb zeige er auch keine realen Wege zur Kriegsverhinderung auf. Trotz dieser grundsätzlichen Kritik am Pazifismus schlossen Marxisten-Leninisten eine Zusammenarbeit mit Pazifisten nicht a priori aus.285 Im Kampf gegen den Imperialismus konnte eine solche Kooperation durchaus von Nutzen sein.
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass der Marxismus-Leninismus zwei Arten von Frieden unterscheidet: einen «Frieden auf Zeit», auch «Friedliche Koexistenz» genannt, sowie einen «ewigen Frieden». Letzterer gilt als unerreichbar, solange auf der Welt unterschiedliche gesellschaftliche Klassen existieren. Der «Frieden auf Zeit» wird wie der Krieg als ein Mittel zur Durchsetzung der politischen Interessen einer bestimmten Klasse beziehungsweise eines bestimmten Staates angesehen.
1.3.3 Die Verwendung des Begriffs «Kalter Krieg» im Ostblock286
Stefan Wiederkehr
Die Definition und die Verwendung des Begriffs «Kalter Krieg» [russ. «cholodnaja vojna»] im Ostblock unterlagen während der hier interessierenden Periode einem historischen Wandel. Dieser widerspiegelte die Entwicklung der marxistisch-leninistischen Ideologie im sowjetischen Herrschaftsbereich nach dem Zweiten Weltkrieg sowie das aussenpolitische Verhältnis zu den Vereinigten Staaten.
Die eben gemachte Aussage beruht auf der Analyse von Begriffsdefinitionen in sowjetischen Enzyklopädien und Lehrbüchern. Offizielle Begriffsdefinitionen haben in geschlossenen Gesellschaften – wie der sowjetischen – normativen Charakter. Daher lässt sich anhand des Eintrags «Kalter Krieg» in Referenzwerken die offizielle sowjetische Sicht auf den Kalten Krieg rekonstruieren. Als besonders aufschlussreich erweisen sich dabei die feinen Veränderungen zwischen verschiedenen Auflagen desselben Werkes.287
Der Terminus «Kalter Krieg» ist im Russischen eine Entlehnung. Er wurde
1946/47 nach dem Auseinanderbrechen der Siegerkoalition des Zweiten Weltkriegs im angelsächsischen Sprachraum geprägt und hatte sich noch vor Ende der 1940er-Jahre in der westlichen Publizistik fest etabliert. Die sowjetischen Enzyklopädien und Wörterbücher der Stalin-Zeit enthielten noch keinen Eintrag «Kalter Krieg». Der Vorwurf, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten bereiteten einen neuen Weltkrieg gegen die Sowjetunion und die sozialistischen Staaten vor, wurde in Reden und Leitartikeln zwar oft und vehement vorgetragen, aber der Ausdruck «Kalter Krieg» wurde in diesem Zusammenhang kaum je benützt.
Der Grund dafür ist in der Tatsache zu sehen, dass Stalin grundsätzlich an Lenins These festhielt, «heisse» Kriege seien unausweichlich, solange kapitalistische Staaten existierten. Es blieb daher kein ideologischer Raum für die Vorstellung von einem fortdauernden Zustand des «Kalten Kriegs».288
Zwei Jahre nach Stalins Tod fand der Begriff «Kalter Krieg» erstmals Aufnahme in ein sowjetisches Referenzwerk. Das «Enzyklopädische Wörterbuch» definierte «Kalten Krieg» 1955 als eine «Erscheinungsform der aggressiven Abenteurerpolitik, die der Block der imperialistischen Staaten unter Führung der USA, die nach der Weltherrschaft streben, seit Beendigung des Zweiten Weltkriegs (1939–1945) führt». «Ziel des ‹Kalten Kriegs›», so hiess es weiter, «ist die Vorbereitung eines Kriegs gegen die Länder des demokratischen [d. h. sozialistischen, d. Vf.] Lagers.»289 Wie stets in der sowjetischen Periode kennzeichnen an dieser Stelle Anführungszeichen den Begriff «Kalter Krieg» als Sprachgebrauch des Gegners.290
Bereits zwei Jahre später, nach der «Geheimrede» Chruščevs am XX. Parteikongress der KPdSU, die die Entstalinisierung einleitete, erschien der Vorwurf an die andere Seite in deutlich abgeschwächter Form: Die «Grosse Sowjetenzyklopädie» bezichtigte in ihrer zweiten Auflage (1957) nicht mehr die Staaten selbst, sondern nur noch die «reaktionären Kreise der imperialistischen Mächte» eines «aggressiven politischen Kurses». Dem kapitalistischen Lager wurde nicht mehr unterstellt, die Weltherrschaft anzustreben und einen Krieg «tout court» vorzubereiten, sondern nur noch die Absicht, «keine friedliche Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen zuzulassen» und die «Umstände für die Entfesselung eines neuen Weltkriegs» vorzubereiten. Schliesslich wurde die gegnerische Politik nicht mehr als «Abenteurerpolitik» qualifiziert, sondern daran gemessen, ob sie die nach sowjetischer Lesart «allgemein anerkannten Normen der diplomatischen Beziehungen zwischen Staaten» verletze.291
Es war ein ideologischer Wandel, der es der sowjetischen Seite nach dem Tode Stalins möglich machte, die westliche Nachkriegspolitik als «Kalten Krieg» zu bezeichnen: An die Stelle der These von der Unausweichlichkeit des Kriegs, solange der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus existiert, trat unter Chruščev die Doktrin der «Friedlichen Koexistenz» der sozialistischen und der kapitalistischen Staaten. Das Parteiprogramm der KPdSU von 1961 erklärte diese zur «objektiven Notwendigkeit in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft».292 Die sowjetische Führung bewältigte auf diese Weise ideologisch die Tatsache, dass die Gefahr eines Atomkriegs die beiden Supermächte zu einer begrenzten Zusammenarbeit und zu einem Nebeneinander der gesellschaftlichen Systeme zwang.
Im Gleichschritt mit der Verringerung des Rückstandes im Rüstungswettlauf wuchs in den folgenden Jahren das Selbstvertrauen der sowjetischen Seite. Die sowjetischen Referenzwerke stellten die Entspannung des Verhältnisses zwischen den beiden Supermächten als Resultat der Friedensbemühungen des sozialistischen Lagers und als Folge seines Machtzuwachses dar. In der «Grossen Sowjetenzyklopädie» war bereits 1957 die Rede «von der konsequent verfolgten friedliebenden Politik der Stärkung der internationalen Sicherheit und der Entspannung»293 der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Die Verfasser des «Diplomatischen Wörterbuches» formulierten aber sieben Jahre später noch immer im Konjunktiv, dass der «Triumph» der Politik der Friedlichen Koexistenz «die Völker von der Drohung des Kriegs erlösen würde».294 In der nächsten Auflage (1973) hingegen stellten sie befriedigt fest, dass «die USA und die übrigen westlichen Mächte unter dem Einfluss […] der Veränderung des Kräfteverhältnisses in der internationalen Arena gezwungen waren, ihre Politik immer mehr den neuen Realitäten des Friedens anzupassen und von den hinfälligsten Dogmen des ‹Kalten Kriegs› abzurücken».295 Nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki sollte 1978 die dritte Auflage der «Grossen Sowjetenzyklopädie» den «Kalten Krieg» gar als beendet bezeichnen.296
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die sowjetische Seite den Terminus «Kalter Krieg» erst nach dessen erstem Höhepunkt überhaupt aufgriff und dass sie diesen sehr früh aus der Retrospektive betrachtete – als ein Phänomen, das dank den eigenen Friedensanstrengungen im Abklingen begriffen war oder deswegen zumindest prinzipiell überwunden werden konnte. Allerdings muss betont werden, dass der Ostblock jederzeit mit einem Rückfall des Westens in aggressives Verhalten rechnete und mit Vehemenz auf internationale Krisen wie beispielsweise den Abschuss eines amerikanischen U-2-Aufklärungsflugzeuges über Sverdlovsk 1960 reagierte.297
Der Katalog der Methoden des «Kalten Kriegs», deren sich der Feind nach sowjetischer Auffassung bediente, gewann im Lauf der Zeit stetig an Länge, aber auch an Banalität: Neben militärischen Aspekten im engeren Sinn wie der Bildung von Militärblöcken, dem Wettrüsten und der nuklearen Einschüchterung souveräner Staaten zählte die «Grosse Sowjetenzyklopädie» 1978 schliesslich, um nur einige Beispiele zu nennen, Handelsdiskriminierung, nachrichtendienstliche Tätigkeit, antikommunistische Propaganda und die Verhinderung des Aufbaus kultureller Beziehungen zum «Arsenal der Methoden» des Gegners.298 Die sowjetische Definition des «Kalten Kriegs» versachlichte sich allmählich, sie wurde sprachlich emotionsloser und bürokratischer. Diese Veränderung hing einerseits mit der Normalisierung der Beziehungen zwischen den Supermächten zusammen, andererseits entsprach sie einer generellen Entwicklung der sowjetischen Propagandasprache: Typisch für deren Abkehr vom agitatorischen Hetzstil der Zwischenkriegszeit ist unter anderem die Tendenz zu mehrgliedrigen, voraussagbaren Ausdrücken und zu inhaltsleerer Formelhaftigkeit.299
Insgesamt lassen sich in der Rezeptionsgeschichte des Begriffs «Kalter Krieg» in der Sowjetunion zwei Hauptperioden unterscheiden:
Auf dem realen Höhepunkt der Systemkonfrontation zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs einerseits und dem Ende des Koreakriegs sowie dem Tod Stalins andererseits fehlte der Terminus «Kalter Krieg» im sowjetischen Sprachgebrauch weitgehend.
Erst die Entstalinisierung unter Chruščev und das faktische Abklingen des Kalten Kriegs machten die systematische Verwendung des Begriffs «Kalter Krieg» in der Sowjetunion überhaupt möglich, wobei dieser immer durch Anführungszeichen als fremder Sprachgebrauch markiert blieb. «Kalter Krieg» bezeichnete im sowjetischen Verständnis bis in die 1980er-Jahre stets eine aggressive Politik der kapitalistischen gegen die sozialistischen Staaten. Innerhalb dieses unverrückbaren Rahmens ist jedoch ein historischer Wandel feststellbar. Die sowjetische Definition des «Kalten Kriegs» versachlichte sich: Das dem Feind zugeschriebene Instrumentarium wurde im Lauf der Zeit immer raffinierter, dessen angebliche Absichten entfernten sich in den 1960er-Jahren immer weiter vom Ziel, einen neuen Weltkrieg zu entfachen. Dies sollte schliesslich so weit gehen, dass die sowjetische Seite den «Kalten Krieg» nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki vorübergehend als Phänomen der Vergangenheit betrachtete.
Der Vollständigkeit halber sei abschliessend darauf hingewiesen, dass sich mit dem Ende des Sowjetsystems in den Staaten des ehemaligen Ostblocks die Definition und die Verwendung des Begriffs «Kalter Krieg» radikal veränderten. Es erfolgte der Schritt auf eine höhere Abstraktionsstufe. Seither wird der «Kalte Krieg» mehrheitlich nicht mehr als antisowjetische Politik des Westens verstanden, sondern – wie im Westen – als historische Epoche, in der das System der internationalen Beziehungen durch eine Bipolarität gekennzeichnet war.