Читать книгу Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht? - Hans Rudolf Fuhrer - Страница 9
ОглавлениеZielsetzung und Fragestellung
Die Aufgabe beziehungsweise das Ziel der Arbeitsgruppe «Sicht Ost» im Rahmen des Projektes zur Erforschung der Geschichte des Schweizerischen Generalstabs von 1945 bis 1966 bestand darin, auf der Grundlage der heute zugänglichen Quellen die Sichtweise und die (insbesondere militärischen) Massnahmen des Ostblocks in Bezug auf die Schweiz (und damit die tatsächliche Bedrohung der Schweiz durch den Ostblock) zu untersuchen und darzustellen.
Ausgehend von dieser Zielsetzung wurden folgende zentrale Forschungsfragen formuliert:
1. Welche politischen Absichten verfolgten die Sowjetunion und ihre europäischen Satellitenstaaten mit ihren militärischen Rüstungen und ihrer offensiven Militärdoktrin in der Zeit von 1945 bis 1966? War ihre Politik in dieser ersten Phase des Kalten Kriegs aggressiv, hatte sie die Weltherrschaft zum Ziel? Oder war die Machtpolitik der UdSSR vorwiegend defensiv, wollte sie nur die Aggression fremder Mächte abwehren?
2. Wie beurteilten die Sowjetunion und ihre europäischen Satellitenstaaten die Sicherheitspolitik, die Neutralität, die Armee, die Aufrüstung und die militärische Bereitschaft der Schweiz in unserer Forschungsperiode?
3. Welche Rolle spielte die Schweiz in den militärischen Planungen der Sowjetunion und ihrer europäischen Satellitenstaaten 1945–1966? Wie gefährlich und welcher Art war die Bedrohung der Schweiz durch den Ostblock?
Unsere Forschungsergebnisse in den Rahmen des Gesamtprojektes «Geschichte des schweizerischen Generalstabs» stellend, sollen abschliessend die östliche Wahrnehmung und die östlichen Massnahmen in Bezug auf die Schweiz der Bedrohungswahrnehmung und den daraus resultierenden Lageeinschätzungen und Verteidigungsvorkehrungen der politischen und militärischen Führung der Schweiz in den Jahren 1945 bis 1966 gegenübergestellt werden.
Audiatur et altera pars!
Wenn bisherige ideologische Gräben zugeschüttet und für den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Zukunft Vorurteile abgebaut werden sollen, so muss die östliche Wahrnehmung des «Kalten Kriegs» vorbehaltlos ernst genommen werden. Dazu gehört auch zu akzeptieren, dass nicht nur die kapitalistische, sondern ebenso die kommunistische beziehungsweise sozialistische Ideologie das materielle Wohlergehen der Menschen zum Ziel hatte. Unbestritten ist, dass die beiden Gesellschaftsentwürfe dieses Ziel in der Praxis auf unterschiedlicher Basis und auf unterschiedlichen Wegen zu erreichen versuchten. Als entscheidender Unterschied zwischen dem sozialistischen System des Ostens und dem kapitalistischen System des Westens ist die grössere Freiheit, Offenheit und Flexibilität der westlichen demokratischen Gesellschaftssysteme hervorzuheben, welche im Gegensatz zur grundsätzlich starren, zentralistischen und totalitären marxistisch-leninistischen Doktrin private Initiative, nationale und wirtschaftliche Regionalität und Selbständigkeit zuliessen. Diese vorwiegend auf Demokratie, Individualität und Wettbewerb abgestützten westlichen Modelle – in östlicher Lesart «kapitalistische und imperialistische» Strukturen – erlaubten insgesamt eine bessere Anpassung an neue Herausforderungen und Veränderungen als die sozialistische Planwirtschaft. Westeuropa kam zugute, dass die USA im Gegensatz zur Sowjetunion 1945 gestärkt aus dem Krieg hervorgegangen waren und keine unterdrückenden Hegemonialansprüche geltend machten. Sie konnten ihren Verbündeten unvergleichlich mehr bieten als die Machthaber in Moskau.
Wenn im Folgenden die östliche Sichtweise ernst genommen wird, so sollen damit die krassen Menschenrechtsverletzungen auf jener Seite des Eisernen Vorhanges nicht vergessen oder bagatellisiert werden, ebenso wenig dass der «real existierende Sozialismus» die proklamierten gesellschaftlichen Ziele in der Wirklichkeit der kommunistischen Länder in wichtigen Bereichen verfehlt hat. Jederzeit muss aber fairerweise mitbedacht werden, dass auch der Westen keine «weisse Weste» vorweisen kann. In dieser globalen Auseinandersetzung von zwei polaren Gesellschaftssystemen gibt es nicht nur «Gute» und «Böse», «Rechtsstaaten» und «Unrechtsstaaten», «Schurken» und «Biedermänner». Im Weiteren gilt es dankbar zu bedenken, dass das sowjetische Volk und die Rote Armee unsägliche Leiden und Opfer auf sich genommen haben, um Europa von der Herrschaft des Nationalsozialismus zu befreien.
Leitsatz dieser Studie muss deshalb uneingeschränkt der alte demokratische und dialektische Grundsatz sein: audiatur et altera pars; man muss für eine historische Bewertung der «Sicht Ost» möglichst unvoreingenommen auch die östliche Seite hören. Die sorgfältige Quellenkritik ist dabei oberstes wissenschaftliches Gebot.
Die «Sicht Ost» am Beispiel eines Referats von Marschall Kulikov
Im Sinn einer ersten Begegnung mit der östlichen Denk- und Sichtweise soll im Folgenden ein von Marschall Viktor Georgievič Kulikov, dem letzten Oberkommandierenden der Streitkräfte des Warschauer Vertrags,1 anlässlich der Frühjahrstagung der Militärischen Führungsschule 1999 in der Aula der ETH Zürich gehaltenes Referat zusammengefasst und teilweise wörtlich zitiert wiedergegeben werden.2 Das Referat ist von einzigartiger Aussagekraft, was legitimiert, ihm relativ viel Platz einzuräumen. Es war das erste und mit grösster Wahrscheinlichkeit das letzte Mal, dass ein Marschall der Sowjetunion in Uniform an einer schweizerischen Hochschule gesprochen hat. Das Tragen der Uniform im Ausland und die frühere Funktion des Referenten lassen den Schluss zu, dass er weitestgehend die Auffassung der militärischen Führungsschicht der Sowjetunion und nicht nur seine persönliche Meinung wiedergegeben hat.
Die Hauptfaktoren des Kalten Kriegs
Nach Marschall Kulikovs Ansicht wurde der Kalte Krieg (1945–1989) durch drei Hauptfaktoren bestimmt: Zum ersten sei der Kalte Krieg eine totale ideologische Konfrontation zweier globaler Machtblöcke gewesen, die alle Bereiche des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, militärischen und politischen Lebens aller Völker betroffen habe. Zum zweiten sei er gekennzeichnet gewesen durch das Aufkommen der Atomwaffen als politischer Faktor. Und zum dritten seien beide Blöcke vom Willen erfüllt gewesen, das im Zweiten Weltkrieg Erkämpfte zu halten. Wegen dieser drei Faktoren habe von 1945 bis 1989 ein stetiger Kampf um strategische Einflussgebiete stattgefunden.
Faktor 1: die ideologische Konfrontation
Zum ideologischen Aspekt äusserte sich Kulikov wie folgt: Nach dem Krieg seien die grundsätzlichen Unterschiede in der sozialen und politischen Gesellschaftsordnung, in den Wertsystemen und Ideologien der damaligen Sowjetunion auf der einen Seite und des Westens, in erster Linie der USA, auf der anderen Seite zu wichtigen Faktoren für die Spaltung der verbündeten Siegerstaaten des Zweiten Weltkriegs und für den Übergang zur Ost-West-Konfrontation geworden. Das Streben der UdSSR, die Staaten Osteuropas zu dominieren und dort die sozialistischen Regimes zu festigen, habe zwei Gründe gehabt; zum einen einen ideologischen Grund, die Verbreitung des Weltkommunismus, und zum anderen einen geopolitischen Grund, die Schaffung eines Sicherheitsgürtels für die im 20. Jahrhundert zweimal überfallene Sowjetunion.
Die Ideologisierung des «Kalten Kriegs» habe für die UdSSR äusserst negative Folgen gehabt. Sie habe vor allem die Wahrnehmung der jeweiligen Regierungsschicht in Moskau getrübt, «was natürlich die Ausarbeitung eines realistischen aussenpolitischen Kurses erschwerte».3 Ende der 1950er-Jahre habe der «kommunistische Weg» auf den westlichen Menschen keine Anziehungskraft mehr ausgeübt. Ohne die dafür verantwortlichen Umstände explizit zu nennen, machte Kulikov mit dieser Aussage die für die Überzeugungskraft beziehungsweise Glaubwürdigkeit des Kommunismus verheerende Wirkung der sowjetischen Intervention in Ungarn 1956 deutlich.
Abb. 1: Viktor G. Kulikov, geb. 1921, Oberkommandierender der sowjetischen Truppen in Deutschland 1967–1969, Generalstabschef und erster stellvertretender Verteidigungsminister der UdSSR, Marschall der Sowjetunion, Oberkommandierender des Warschauer Vertrages 1977–1989. («Aargauer Zeitung», 29. 3. 1999, AZ-Archiv)
Faktor 2: das Aufkommen der Atomwaffen als neuer politischer Faktor
Bezüglich des atomaren Aspekts sagte Marschall Kulikov, man könne den Beginn des «Kalten Kriegs» mit dem Entscheid des US-Präsidenten Harry S. Truman, japanische Städte zu bombardieren, ansetzen. Die USA seien im August 1945 mit ihrem Einsatz nuklearer Mittel nicht so sehr einer militärischen Notwendigkeit gefolgt, als vielmehr dem Wunsch, der UdSSR die eigene Stärke zu demonstrieren. In der Folge hätten die Atomwaffen als neuer Kräftefaktor in vielerlei Hinsicht den Beginn, den Verlauf und die Beendigung des Kalten Kriegs bestimmt.
Kulikov führte dazu aus: «Das Erreichen der militärisch-strategischen Parität zwischen der UdSSR und den USA zu Beginn der Siebzigerjahre hatte weitreichende Folgen. Auf der einen Seite sicherte dieses Gleichgewicht der Sowjetunion und den Staaten des Warschauer Vertrages ein genügend hohes Niveau an Sicherheit und trug zu einer allgemeinen Entspannung und zur Verbesserung der internationalen Lage in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre bei. Aber auf der anderen Seite zeichnete sich deutlich die Unmöglichkeit einer Anwendung von Atomwaffen ab. Die militärische Stärke begann als Machtfaktor eines Staates an Wert zu verlieren.»4 Während der Westen diese Entwicklung rechtzeitig erkannt und verstärkt auf die zivilen Bereiche gesetzt habe, sei in der UdSSR weiterhin ein riesiger Anteil ihres Bruttosozialprodukts zur ständigen Steigerung des militärischen Potentials verbraucht worden. Die übersteigerten Ausgaben für die Verteidigung hätten sich im tieferen Lebensniveau der sowjetischen Völker widerspiegelt.
Atomwaffen, so Kulikov, «waren, sind und werden immer» nur ein Mittel der Abschreckung, das heisst ein politisches Mittel, sein, denn: «Die Anwendung von Atomwaffen bedeutet die gegenseitige Vernichtung aller Zivilisationen in der Welt. Es wird niemanden geben, dem ein solcher Sieg dienen wird. Ich war bei den Versuchen mit thermonuklearen Bomben anwesend. Wir alle waren Zeugen des Freisetzens einer sehr kleinen Menge an Radioaktivität während des Vorfalls im Reaktor von Tschernobyl. Seither kommen wir nicht mehr los vom schlimmen Gefühl und den Hässlichkeiten, die dieses Ereignis mit sich gebracht hat. Wie soll man sich erst die Wirkung von Hunderten, Tausenden von Atombomben mit unendlich grösserer Wirkungskraft auf Städte vorstellen?»5
Faktor 3: das Behaupten des im Zweiten Weltkrieg Erkämpften
Zum dritten Aspekt der globalen Auseinandersetzung des Kalten Kriegs führte Kulikov Folgendes aus: Nach dem Kriegsende 1945 seien zwischen den zwei nun wichtigsten Weltmächten – den USA und der UdSSR – nicht nur ideologische Differenzen aufgetreten, sondern es hätten sich auch unvereinbare geopolitische und wirtschaftliche Interessen gezeigt. Die machtpolitische Rivalität der beiden Grossmächte sei derart gross gewesen, dass es auch dann zum Kalten Krieg gekommen wäre, wenn sich die Sowjetunion nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs vom Kommunismus losgesagt hätte. Diese Aussage präzisierend, erklärte Kulikov: «Als Resultat des Krieges war die vorher scheinbar für immer unterbrochene Kontinuität der russischen Geschichte wiederhergestellt. Die Sowjetunion begann den Westen als geopolitische Fortsetzung des russischen Imperiums mit seinen weitreichenden geopolitischen Interessen wahrzunehmen. Die totale Niederlage Deutschlands schuf ein Vakuum, welches die Sowjetunion aktiv auszufüllen begann. Der Westen seinerseits war in keinerlei Hinsicht gewillt, seine Position aufzugeben und sich mit einem wachsenden russischen Einfluss abzufinden. Dies musste unvermeidlich zu einer Nachkriegsnebenbuhlerschaft zwischen den Siegern führen.»6
Der Westen habe versucht, die Resultate des Zweiten Weltkriegs zu seinen Gunsten zu verändern, während der Osten an der Bewahrung der Resultate interessiert gewesen sei.
Der Kampf um strategische Einflussgebiete
Marschall Kulikovs Auffassung, der Westen habe in der Nachkriegszeit versucht, seine Macht auf Kosten der Sowjetunion zu vergrössern, widerspiegelt sich in seinen Ausführungen zum Verlauf des Kalten Kriegs. So sagte er: «Ein wichtiger Meilenstein des ‹Kalten Krieges› stellte die Annahme der Truman-Doktrin durch die USA am 12. März 1947 dar. Diese bestimmte faktisch während der darauffolgenden 40 Jahre die Aussenpolitik Washingtons. Dieses Dokument postulierte die Politik der USA zur Unterstützung der freien Völker, welche sich den Versuchen der Unterjochung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von aussen widersetzten. Aber, wie viele Forscher heute zeigen, unterstützten die USA in der Praxis öfters nicht freie Völker, sondern auch repressive Regimes […].» Und weiter: «[In den ersten Nachkriegsjahren, d. Vf.] festigten die USA und die westlichen Länder ihren Einfluss in verschiedensten Regionen der Welt. Am 4. April 1949 wurde in Washington der Nordatlantische Vertrag unterschrieben. So wurde die Gründung der Nato – der fundamentalen militärisch-politischen Gruppierung westlicher Staaten – rechtskräftig. In ihrer Tätigkeit richteten sich die zentralen Organe der Nato von Anfang an auf einen Krieg mit der UdSSR in der allernächsten Zukunft aus. Gleichzeitig mit der Ausdehnung und Festigung des Nato-Blockes unternahmen die USA und die westlichen Länder Anstrengungen zur Gründung eines Systems militärischer Blöcke in anderen Regionen der Welt. Im September 1951 wurde im Gebiet des Stillen Ozeans der militärisch-politische Block ANZUS unter Zusammenschluss der USA, Australiens und Neuseelands gegründet. Im September 1954 wurde an der Konferenz von Manila ein Vertrag über die gemeinsame Verteidigung von Südostasien (SEATO) unterzeichnet, aufgrund dessen durch den Zusammenschluss der USA, Grossbritanniens, Frankreichs, Australiens, Neuseelands, Thailands, der Philippinen und Pakistans ein weiterer militärischer Block gegründet wurde. 1955 wurde die Formgebung eines militärischen Blockes im Nahen und Mittleren Osten – des Bagdad-Paktes – beendet, der später die Bezeichnung CENTO bekam. Ihm traten Grossbritannien, die Türkei, Iran, Pakistan und der Irak bei.
Nach der Unterzeichnung der Pariser Übereinkunft im Oktober 1954 und ihrer Ratifikation im Mai 1955 wurde zum Einbezug der BRD in die Nato eine ‹grüne Strasse› geöffnet. Dies wurde in Moskau als offene Herausforderung aufgenommen. Stalin und auch die folgende sowjetische Regierung fürchteten sich, wie in der gegenwärtigen Zeit aus Dokumenten bekannt wurde, vor einer Wiedergeburt Deutschlands und Japans. Als Antwort darauf unterschrieben am 14. Mai 1955 Albanien, Bulgarien, Ungarn, die DDR, Polen, Rumänien, die UdSSR und die Tschechoslowakei einen kollektiven Bündnisvertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe, der als Warschauer Vertrag in die Geschichte einging. Faktisch war dies ein erzwungenes Antwortmittel mit dem Ziel, ein Gleichgewicht der Kräfte und eine Stabilität in den Beziehungen zwischen dem Osten und dem Westen herzustellen und aufrechtzuerhalten.
Der Kampf um die Einflusssphären zwang die kolonialen Machthaber in Westeuropa nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs, mit Unterstützung der USA beträchtliche Kräfte zur Unterdrückung der nationalen Befreiungsbewegungen einzusetzen. Grossbritannien und Holland führten dreimal Kriegshandlungen gegen die im September 1945 gegründete unabhängige Republik Indonesien durch. Grossbritannien führte Kolonialkriege gegen die nationalen Befreiungsbewegungen der Völker in Malaysia, Kenia, Ägypten und Südjemen. Frankreich begann im September 1945 den Krieg in Algerien und versuchte die Unabhängigkeitsbewegungen der Völker Madagaskars, Tunesiens und Marokkos zu unterdrücken. Im Dezember 1946 entbrannte der Krieg in Vietnam, in den später auch die USA eingetreten sind. In allen Fällen erhielten die nationalen Befreiungsbewegungen Unterstützung von Seiten der UdSSR und den Staaten des Warschauer Vertrags, was zu neuen Windungen der Anspannungsspirale der Beziehung zwischen West und Ost führte.
Die Führung der USA setzte während des ganzen Verlaufes des «Kriegs» in übersteigerter Weise ihre Hoffnung auf die Stärke als Instrument der Lösung aller internationalen Probleme. Profitierend davon, dass sich das Kräfteverhältnis in den ersten Nachkriegsjahren klar zu Gunsten der USA entwickelte, gab die amerikanische Führung genügend Beweise ihrer Führung einer «Politik aus der Position der Stärke». Die USA verzichteten auf die konsequente Suche nach einer für beide Seiten annehmbaren Lösung mit der UdSSR am Verhandlungstisch.
Amerikanische Forscher gehen in ihren neueren Arbeiten davon aus, wie neue sowjetische Archivdokumente zeigen, dass die UdSSR in ökonomischen, politischen und militärischen Gebieten viel schwächer war, als man früher angenommen hatte. Auch der Grad der ‹Einheitlichkeit› und das Mass der Abhängigkeit der osteuropäischen Verbündeten der UdSSR von Moskau werden neuerdings in Zweifel gezogen. Und in dieser Situation stellt sich die Frage, wie angemessen die Handlungen der amerikanischen Administration waren, ihren Kurs auf eine globale Kontrolle und auf ein Aufhalten des Kommunismus auszurichten. Am Platz ist auch die Frage: Wurde nicht absichtlich in früheren amerikanischen Bewertungen die Stärke der sowjetischen Macht im Hinblick auf eine effektivere Eskalation der Konfrontationsspirale übertrieben?»7
Aggressionsplanungen?
Für die vorliegende Studie von besonderem Interesse ist Marschall Kulikovs Aussage, die sowjetische Führung habe keine Aggression gegen den Westen und erst recht nicht gegen die Schweiz geplant: Nach den Konferenzen von Jalta und Potsdam sei die Teilung Europas beschlossene Sache gewesen und habe nicht mehr zur Diskussion gestanden. Ein weiteres Vorrücken – sei es in Europa oder Asien – habe sich die Sowjetunion nicht vorgenommen. Es sei deshalb historisch nicht korrekt, von Welteroberungsabsichten oder anderen machtpolitischen «Ambitionen» der UdSSR zu sprechen. Wörtlich sagte Kulikov: «Die sowjetische Führung hatte sich, wie Archivdokumente bezeugen, nicht die Aufgabe eines geopolitischen Angriffs auf den Westen vorgenommen. Nun, ich möchte das kurz ausführen: Ich arbeitete im Generalstab der sowjetischen Streitkräfte. Ich führte selbst dieses wichtigste Organ der militärischen Führung. Zwölf Jahre lang führte ich das Oberkommando der Streitkräfte des Warschauer Vertrages und war in engem Kontakt mit dem sowjetischen Generalstab. Ich sage es nochmals deutlich: Es gab keine Vergeltungsoder Angriffspläne gegen den Westen. Die Studien des Generalstabs prüften allein alle möglichen Vorbereitungen imperialistischer Länder, in erster Linie der Vereinigten Staaten von Amerika, der Bundesrepublik Deutschland, zur Erreichung der Dominanz sowie den stets grösser werdenden Abstand in der Technologie, besonders in der Atomraketenbewaffnung. Und schliesslich erreichten wir mit grösster Anstrengung den Gleichstand. Wie der weise Aussenminister Gromyko einst gesagt hat: Es gilt gleiche und reale Sicherheit auf der ganzen Welt zu erreichen. Es ist diese Frucht, die wir heute haben.»8
Ob Marschall Kulikovs Behauptung der Wahrheit entspricht, gilt es im Rahmen dieser Arbeit quellenkritisch zu untersuchen. Vojtech Mastny, der Koordinator des «Parallel History Project on Nato and the Warsaw Pact»9, warnt aufgrund seiner eigenen Erfahrungen allerdings vor zu hohen Erwartungen bezüglich sowjetischer Angriffspläne gegen Westeuropa: «Die Frage, die im Zusammenhang mit der Erforschung der Archive stets gestellt wird, ist die nach den Überraschungen, die dort vermutlich zu finden seien. Zu dieser Frage lautet meine bevorzugte Antwort: Die grösste Überraschung ist, dass es keine grossen Überraschungen gibt. Damit meine ich, dass die Dokumente einwandfrei belegen, dass das Denken und die interne Kommunikation der sowjetischen Führer im grossen und ganzen so waren, wie sie damals nach aussen auch zu sein schienen.»10
Der Kalte Krieg – eine gigantische Absichtsspiegelung
These
Der Vorwurf Marschall Kulikovs, die westliche Seite habe die «rote Gefahr» bewusst als sehr gross dargestellt, um einerseits die Sowjetunion strategisch einzukreisen und um andererseits die durch den Zweiten Weltkrieg unverteilten strategischen Zonen der Welt für sich allein zu beanspruchen, führt uns zu folgender These:
Beide Machtblöcke nahmen – in einer gigantischen Absichtsspiegelung – von der feindlichen Gegenseite an, diese warte nur auf einen günstigen Moment der Schwäche der eigenen Seite, um ihre Weltmachtpläne zu verwirklichen und militärisch anzugreifen.
Theoretische Erwägungen11
Das Phänomen der gegenseitigen Absichtsspiegelung ist der einschlägigen Wissenschaft vertraut. Hingewiesen sei diesbezüglich auf den im Buch «Bild und Begegnung: kulturelle Wechselseitigkeit zwischen der Schweiz und Osteuropa im Wandel der Zeit»12 von Osteuropahistoriker Carsten Goehrke angewandten soziologischen Ansatz. Mit solchen Modellen werden die in der gegenseitigen Wahrnehmung zum Ausdruck kommenden Stereotype analysiert. Als Schlüssel zum Verständnis der Gesetzmässigkeiten nationaler Stereotypenbildung sieht Goehrke das Ingroup-Outgroup-Modell, insbesondere den Erklärungsansatz der Social-Identity-Theorie.13 Gemäss diesem entstehen Vorurteile dort, wo zwei heterogene Wertsysteme aufeinanderprallen; sie kleiden sich dabei fast immer in die Gewänder von Stereotypen. «Auf die Vorstellungen übertragen, welche Völker voneinander entwickelt haben, bedeutet dies aber: Nationale Stereotype entspringen Vorurteilen, die einer übergreifenden Identitätsstiftung und Identitätsvergewisserung dienen und daher das eigene Volk positiv gegen andere Völker abzugrenzen haben. Dies bedeutet aber auch, dass den nationalen Stereotypen aller Völker konkurrierende Wertnormen und Urteilskriterien zugrunde liegen und Vorurteile im Sinn vorgeprägter Urteile daher als genauso relativ betrachtet werden müssen wie Urteile.»14 Die Social-Identity-Theorie geht davon aus, dass nationale Vorurteile und Stereotype bereits «von Kindsbeinen an» erlernt werden und das Wahrnehmungsvermögen oft derart stark beeinflussen, dass Eindrücke und Erfahrungen, welche ihnen nicht entsprechen, ausgeblendet oder als Ausnahmen betrachtet werden. Die Beständigkeit der Fremdbilder erkläre sich zudem aus ihrer Komplementarität zu Selbstbildern oder Autostereotypen: In dem Mass, wie sich ein Mensch selbst an den Selbstbildern seiner eigenen Gruppe orientiere, grenze er sich auch ab von Fremdbildern, denen er gerade nicht entsprechen könne oder wolle.
Der Übergang von Fremd- zu Feindbildern ist oft fliessend. Feindbilder sind nach Ansicht von Kurt R. und Kati Spillmann15 durch sieben typische Merkmale gekennzeichnet:
«1. Misstrauen (‹Alles, was vom Feind kommt, ist entweder schlecht oder – wenn es vernünftig aussieht – aus unredlichen Motiven entstanden.›)
2. Schuldzuschiebung (‹Der Feind ist schuld an der existierenden Spannung beziehungsweise an dem, was an den herrschenden Umständen für uns negativ ist.›)
3. Negative Antizipation (‹Was immer der Feind unternimmt, er will uns schaden.‹)
4. Identifikation mit dem Bösen (‹Der Feind verkörpert in allem das Gegenteil dessen, was wir sind und anstreben; er will unsere höchsten Werte vernichten und muss deshalb selbst vernichtet werden.›)
5. Nullsummendenken (‹Was dem Feind nützt, schadet uns› und umgekehrt.)
6. De-Individualisierung (‹Jeder, der zur feindlichen Gruppe gehört, ist eo ipso ein Feind.›)
7. Empathieverweigerung (‹Mit unserem Feind verbinden uns keine Gemeinsamkeiten; es gibt keine Information, die uns von unserer Feind-Auffassung abbringen könnte; den Feinden gegenüber sind menschliche Gefühle und ethische Kriterien gefährlich und fehl am Platz.›).»
Gemäss Spillmann/Spillmann besteht der entscheidende Unterschied zwischen Stereotypen und Feindbildern darin, dass es sich bei Letzteren nicht einfach um Orientierungshilfen und -hypothesen handle, sondern um Orientierungsdiktate, welche kategorisch einer bestimmten Gruppe (Hexen, Juden, Kommunisten usw.) die Schuld für bestimmte bedrohliche oder unverständliche Ereignisse zuschieben. Sie folgern weiter: «Damit werden die eigenen Werte erhöht, die Gruppenkohäsion gestärkt, der diffuse innere Angstdruck kann nach aussen verlegt werden.»
Zum Abbau von Feindbildern sei in erster Linie eine «Re-Individualisierung» nötig, verbunden mit einem Wiederaufbau der emotionalen und kognitiven Differenzierungen. Der Abbau müsse sowohl innerhalb der eigenen Gruppe geschehen, «wo sich schon früh in der Eskalationsphase eine Intoleranz gegenüber unterschiedlichen Bewertungen und Wahrnehmungen entwickelt», als auch nach aussen, «dem Feind selber gegenüber, der als stereotype Kategorie nicht nur seine Individualität, sondern oft auch seine Menschlichkeit verloren hat». Als wichtigste Schritte auf dem Weg zum Abbau von Feindbildern betrachten die beiden Autoren Information und Kontakt, ergänzt durch Kommunikationstraining der Gesprächspartner.16
Diese Analyse der Funktion von Feindbildern bildet einen wichtigen Aspekt der Studien Kurt R. Spillmanns zur Friedens- und Konfliktforschung an der ETH Zürich.17 Als Aufgabe dieser Forschung bezeichnet er, «Spannungen zu vermindern und Konflikte ohne Gewalt zu lösen, beziehungsweise – wie es das Wesen der Forschung ist – nach Wegen zu suchen und Beiträge zu leisten zur Ergründung der Voraussetzungen, von denen aus solche Tätigkeiten sinnvoll ausgeübt werden können». Ausgangspunkt der Konfliktforschung ist nach Spillmann das «konkrete Bedürfnis jedes Staates, nicht Opfer von Konflikten seiner Umwelt zu werden», womit er bewusst den Begriff des Friedens aufgrund von dessen «verführerischer Leerformel» umgeht.18 Wahrnehmungen von Nicht-Übereinstimmungen, das heisst Konflikten, seien zunächst einmal grundlegende funktionale Elemente des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, und es sei aussichtslos, sie ausmerzen zu wollen. Kriege erwüchsen primär aus Zwischengruppenkonflikten, wobei im Verlauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung zur Lösung von Innergruppenkonflikten kontrollierte Formen der Konfliktaustragungen entwickelt worden seien, welche eine Tötungshemmung mit einschlössen. Die Konfliktforschung stehe deshalb vor der paradoxen Problematik, «dass gerade der von uns so hoch geschätzte Wert ‹Sicherheit› ein wesentliches, wenn auch verborgenes Motiv für Kriege – und damit für extreme Unsicherheit – zu sein scheint».
Eine sinnvolle Konfliktforschung muss nach Auffassung Spillmanns bei der Frage einsetzen, «was bei dieser Umwandlung des Sicherheitsbedürfnisses in praktische Unsicherheit passiert, d. h. welche Elemente zur Inkubation von Kriegen beigetragen haben, und welche Elemente zu einer solchen Inkubation heute beitragen beziehungsweise beitragen könnten». Diesbezüglich könnten rationale und nichtrationale Faktoren unterschieden werden. Zur Illustration verweist Spillmann auf das Beispiel des Kalten Kriegs: Die rationale Einschätzung der Gefahren habe die Supermächte davon abgehalten, während des «Kalten Kriegs» einen Konflikt zu riskieren. Andererseits habe gerade die traumatische Erfahrung des deutschen Überfalls vom Sommer 1941 die Sowjetunion dazu geführt, ihre Streitkräfte ganz systematisch für geballte und rasche Offensivaktionen nach Westen auszulegen, wodurch dem Gegner gleich zu Beginn hohe Verluste hätten beigefügt werden sollen, um selbst den erwarteten längeren Abnützungskrieg zu überstehen.
Für Spillmann ist klar, «dass der entscheidende Faktor in diesem Szenario die Wahrnehmung der Bedrohung ist». Die Wahrnehmung aber könne leicht verzerrt werden, sei es durch falsche Informationen, sei es durch selektive Wahrnehmung, kognitive Dissonanz oder vorgefasste Meinungen. An dieser Stelle komme der Kommunikation zwischen den Konfliktparteien eine grosse Bedeutung zu. Sie werde jedoch bereits durch das Problem der adäquaten Übermittlung erheblich erschwert. «Andere Denkvoraussetzungen, andere Raster in der Wirklichkeitsdefinition spielen eine entscheidende Rolle bei der Konstellation von […] Konflikten.» An der Bewusstmachung dieser Faktoren müsse die Konfliktforschung heute in höchstem Mass interessiert sein. Diese Bewusstmachung umfasse nicht nur die «Förderung der Fähigkeit zur Empathie», worunter Spillmann ein möglichst vorurteilsfreies Sich-Hineinfühlen oder Sich-Hineindenken in den anderen versteht, sondern auch die permanente Selbstreflexion über die eigenen Denkvoraussetzungen, die eigenen Widerstände und Ängste. Dies erfordere einen Verzicht auf «emotionale Entlastung, zu der uns die Freund-Feind-Unterscheidung immer wieder drängen will», ferner die «Fähigkeit, starke Spannungen und Konflikte im eigenen Inneren aushalten zu können, statt sie – was bedeutend einfacher ist – nach aussen zu projizieren».
Zusammenfassend hält Spillmann fest: «In der Bewusstmachung unbewusster, zu Konflikten drängender Wahrnehmungsmuster steckt viel Potential für einen aktiven Beitrag zur Friedenssicherung.» Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll versucht werden, dieses Potential auszuschöpfen.
Forschungsstand
Wir gliedern den Forschungsstand, bei welchem wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern Schwerpunkte setzen, entsprechend den oben formulierten Forschungsfragen.
Zur Militärdoktrin und zu den dahinterstehenden politischen Absichten der Sowjetunion und des Warschauer Vertrags
Auf eine ausführliche Besprechung der westlichen und östlichen Literatur zum Kalten Krieg im Allgemeinen sowie zu einzelnen Ereignissen im Besonderen wird an dieser Stelle verzichtet. Diesbezüglich sei auf Daniel A. Nevals Dissertation «Mit Atombomben bis nach Moskau» verwiesen, welche einen Abriss der einschlägigen Literatur bietet,19 auch wenn darin vielleicht ein Werk der allerjüngsten Zeit nicht erfasst ist. Trotz der imposanten Fülle gilt es noch viel zu tun. Die Geschichte des Warschauer Vertrags ist nicht mehr eine Blackbox. Herausragend ist die umfangreiche Studie von Frank Umbach «Das rote Bündnis».20 Eine eindrückliche Gesamtschau bieten die von Vojtech Mastny im Jahr 2006 unter dem Titel «War Plans and Alliances in the Cold War. Threat Perceptions in the East and West» publizierten zwölf Aufsätze verschiedener Autoren.21 Vom gleichen Autor ist unter anderem 2003 in deutscher Sprache ein längerer Überblicksartikel über die ersten zehn Nachkriegsjahre erschienen.22
Zur Entwicklung der sowjetischen Militärdoktrin entstand während und nach dem Kalten Krieg eine ganze Reihe von Darstellungen westlicher Autoren.23 Zu erwähnen sind auch die Zeitzeugenbefragungen von Jan Hoffenaar vom Niederländischen Institut für Militärgeschichte mit Unterstützung des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Demgegenüber wurde von östlicher Seite zu diesem Thema bis zum Erscheinen von Sokolovskijs «Militär-Strategie»24 im Jahr 1962 keinerlei Literatur herausgegeben beziehungsweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Vertiefte Einblicke in den Inhalt der sowjetischen Generalstabsausbildung, unter anderem bezüglich der Grundprinzipien der Militärstrategie sowie bezüglich der militärgeographischen Betrachtungsweise, ermöglichten erst die 1989 veröffentlichten sogenannten «Voroshilov-Lectures».25 Es handelte sich dabei um Ausführungen, welche auf Vorlesungen basierten, die zwischen 1973 und 1975 an der Vorošilov-Generalstabsakademie gehalten worden waren.
Zur Beurteilung der politischen und militärischen Entwicklung der Schweiz durch die Ostblockstaaten
Die Debatten über die schweizerische Neutralitätspolitik26 und Militärpolitik während des Kalten Kriegs blieben lange Zeit praktisch ausschliesslich auf die Sichtweisen «von innen» und «von Westen» beschränkt. Militärgeschichtliche Publikationen, welche sich mit der östlichen Wahrnehmung der politischen und insbesondere militärischen Entwicklung der Schweiz befassten und dabei auf Archivmaterial aus Osteuropa beruhten, gab es kaum.27 Diese Lücke füllte die im Rahmen des Nationalfondsprojektes zur Erforschung der Geschichte des Schweizerischen Generalstabs von 1945 bis 1966 entstandene und bereits mehrfach erwähnte Dissertation von Daniel A. Neval. Sein inhaltlicher Ansatz erfährt in der vorliegenden Studie einerseits eine Straffung und Vertiefung und andererseits eine Erweiterung um zusätzliche Forschungsresultate. Das Aufzeigen des militärischen Blickwinkels im Rahmen der Geschichte des Schweizerischen Generalstabs scheint uns nicht nur wichtig, sondern notwendig, kann doch ohne die Analyse der Sichtweise des als wahrscheinlichster und gefährlichster Feind angesehenen Machtblocks die Arbeit der Generalstabsabteilung nicht bewertet werden.
Zur Bedrohung der Schweiz durch die Sowjetunion und den Warschauer Vertrag
Die Frage nach der Rolle der Schweiz in den militärischen Planungen des Warschauer Vertrags sowie nach der sich daraus ergebenden Bedrohung ist bis heute erst in Ansätzen wissenschaftlich aufgearbeitet. Im Folgenden wählen wir besonders typische Veröffentlichungen aus, um auch die Entwicklung der Forschung aufzuzeigen.
Publikationen nach der Öffnung der DDR-Archive
Im Zuge der «Wende» von 1989/90, dem Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik und der Wiedervereinigung Deutschlands fielen rund 500 000 streng geheime ostdeutsche militärische Akten in die Hände der westdeutschen Behörden. Darunter waren einschlägige Dokumente zu den strategischen und operativen Kriegsplanungen des ehemaligen Warschauer Vertrags. Damit eröffnete sich die einzigartige Chance, Einsicht in geheime Akten eines kurz zuvor noch dem feindlichen Lager angehörenden Staates zu nehmen.
Die Veröffentlichung der ersten auf diesen DDR-Dokumenten basierenden Forschungsergebnisse durch den deutschen Sicherheitsexperten Lothar Rühl28 sowie die Pressekonferenz und der Bericht des deutschen Verteidigungsministers Gerhard Stoltenberg Anfang 1992 zum Thema «Militärische Planungen des Warschauer Paktes in Zentraleuropa»29 liessen Brigadier Prof. Dr. Fritz Stöckli folgern, dass eine Operationslinie des Warschauer Vertrags durch die beiden neutralen Länder Österreich und die Schweiz geführt habe.30 1993 schrieb er in der «Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift» (ASMZ): «An den Absichten des zerfallenen Warschauer Paktes (WAPA) kann kein Zweifel mehr bestehen: Auch die Schweiz wäre einem von langer Hand vorbereiteten Ansturm aus dem Osten ausgesetzt gewesen. […] Die WAPA-Strategen planten […] einen Stoss durch die Schweiz, um den Nato-Kräften in den Rücken zu fallen. Auch in die Vorbereitungen des Luftkriegs gegen Westeuropa wurde die Schweiz einbezogen.» Diese Aussagen relativierte er weiter unten, indem er zugab, dass die Schweiz nur auf einem kleinen Teil der Dokumente des WAPA erscheine. Gleich anschliessend stellte er fest, die Schweiz sei seit der Ära Stalin von den Sowjets als feindselig und – als kapitalistisches Nichtmitglied der Nato – seit den 1960er-Jahren als potentielles Ziel betrachtet worden. Mit einer Besetzung der Schweiz hätte verhindert werden sollen, dass sie zu einer Bastion der westeuropäischen Verteidigung geworden wäre. Diese These muss nun aufgrund des neuen Materials in tschechoslowakischen Archiven neu beurteilt werden. Weiter schrieb Stöckli, aus «ebenfalls kürzlich deklassifizierten Dokumenten» gehe hervor, dass die Schweiz unter den strategischen Zielen erwähnt gewesen sei, die in den Kursen der Militärakademie des sowjetischen Generalstabs behandelt worden seien. Die Sektoren Zürich und Genf seien ausdrücklich zitiert worden.31 Er schliesst mit der Folgerung: «In diesem Zusammenhang kann man eingestehen, dass die schweizerische Neutralität nur insofern in Betracht gezogen worden wäre, als sie den Interessen des WAPA gedient hätte.»
Abb. 2: Die sechs operativen Hauptrichtungen einer ersten Phase der vom Warschauer Pakt bis Ende der 1980er-Jahre geplanten Offensive (Skizze nach den Angaben von Rühl und dem Bericht Stoltenbergs). Der Stoss einer Armeegruppe auf der 6. operativen Hauptrichtung benützt die Hochrheinachse und verletzt sowohl die österreichische als auch die schweizerische Neutralität. (Fritz Stöckli: Die Stunde der Wahrheit. Die Schweiz in den Plänen des Warschauer Paktes, ASMZ 5/1993, S. 217)
Abb. 3: Auffällig ist einerseits, dass die Stossgruppe 5 (Österreich/Bayern) das schweizerische Territorium nicht berührt, wohl aber das neutrale Österreich durchquert. Zu beachten gilt andererseits, dass kein Stoss in den oberitalienischen Raum erfolgt. (Bericht Stoltenberg. Militärische Planungen des Warschauer Paktes in Zentraleuropa. Bundesminister der Verteidigung. Januar 1992)
Abb. 4: Diese Darstellung ist die vollständigste und umfasst auch die vorgesehenen Grossen Verbände in den einzelnen Fronten. (Informationen zur Sicherheitspolitik Nummer 20/Juli 1999 der Landesverteidigungsakademie/Militärwissenschaftliches Büro, S. 3. Vgl. Lothar Rühl: Angriffsplanungen des Warschauer Paktes gegen Westeuropa. In: ÖMZ, Heft 6/1991, S. 501–508)
Parlamentarische Vorstösse
Die Offenlegung grosser Aktenbestände der früheren DDR und die damit verbundene Hoffnung, Antwort auf die Frage nach den tatsächlichen Absichten des Ostblocks gegenüber der Schweiz während des Kalten Kriegs zu erhalten, weckten auch das Interesse von schweizerischen Politikern. So kam es in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre zu zwei nationalrätlichen Vorstössen, wobei sich der erste auf die ostdeutsche Spionagetätigkeit in der Schweiz und der zweite auf die militärische Bedrohung der Schweiz durch den Warschauer Vertrag bezog.
Die Forderung nach einer Untersuchung der Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR – der sogenannten «Stasi» – in der Schweiz erhob eine im Juni 1995 eingereichte Einzelinitiative von Nationalrat Walter Frey (SVP, Zürich).32 Nachdem der Nationalrat im Juni 1996 die Initiative knapp gutgeheissen hatte, arbeitete die Kommission für Rechtsfragen der grossen Kammer den Entwurf für einen entsprechenden Bundesbeschluss aus. Der Bundesrat nahm zu diesem im Juni 1998 in positivem Sinn Stellung: Trotz Bedenken stimmte er der Einsetzung eines Experten zu, der die Tätigkeit der «Stasi» in der Schweiz im Speziellen und die Beziehungen zwischen der DDR und der Schweiz im Allgemeinen zu untersuchen hatte.33 Der Wissenschaftler sollte für die Ablieferung seines Berichtes fünf Jahre Zeit haben und über ein Budget von rund vier Millionen Franken verfügen können. Dies sei vertretbar, schrieb das EJPD, zumal spätere Abklärungen wegen der Verschlechterung der Quellen einen grösseren Aufwand verursachen würden. Der Nationalrat stimmte dem Bundesbeschlussentwurf im März 1999 zu; der Ständerat jedoch entschied im September 2000 auf Nichteintreten. Im Differenzbereinigungsverfahren, das bis im Juni 2001 dauerte, blieben beide Räte bei ihren Entscheidungen, sodass die Initiative schliesslich nicht umgesetzt wurde.34
Im Juni 1997 reichte Nationalrat Fredi Alder (SP, St. Gallen) eine von 51 Nationalräten mitunterzeichnete Interpellation35 ein mit folgendem Wortlaut: «Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sind verschiedene Angriffs- und Verteidigungspläne des Warschauer Paktes bekannt geworden. Es wäre interessant, diese realen Pläne mit jenen Szenarien, Annahmen und Planspielen zu vergleichen, mit denen die Schweizer Armee bis 1989 gearbeitet hat. Der Bundesrat wird um Beantwortung folgender Fragen gebeten: 1. Sind militärische Pläne des Warschauer Paktes bekannt, in die auch die Schweiz miteinbezogen wurde? 2. Erweisen sich die militärischen Szenarien der Schweizer Armee aus den siebziger und achtziger Jahren im Licht der bekannten Pläne des Warschauer Paktes als realistisch?»
Der Bundesrat präzisierte in seiner Antwort vom 10. September 1997 zunächst die undifferenzierte Bezeichnung «militärische Pläne des Warschauer Paktes»: «Es muss unterschieden werden zwischen gesamtheitlichen Operationsplanungen, deren Ausarbeitung ausschliesslich den sowjetischen Streitkräften vorbehalten war, und Teilplanungen von Operationen durch Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes. Weil die militärische Struktur des Warschauer Paktes auf einem sowjetischen Kommandosystem und nicht auf einem partnerschaftlich integrierten Zusammenwirken im Stile der Nato beruhte, hatten die einzelnen Mitgliedstaaten generell auch nur dort Einblick in die Operationsplanungen und konnten diese beeinflussen, wo deren Teilnahme mit eigenen Streitkräften von der Sowjetarmee vorgegeben war. Bis heute hat der Westen noch keinen Zugang zu Originalunterlagen über die Operationsplanungen. Beschränkt zugänglich sind einzig Einzeldokumente aus dem Bestand der Nationalen Volksarmee (NVA) der früheren DDR. In den Monaten vor der deutschen Wiedervereinigung wurden Akten und Daten der NVA in grossem Umfang vernichtet – offenbar auch auf Weisung der Sowjetunion. Die grosse Zahl von NVA-Archiven hat aber der Vernichtungsaktion Grenzen gesetzt. Über 25 000 erhaltene Dokumente sind zur Auswertung an die Deutsche Bundeswehr gelangt. Darin sind aber weder Gesamtplanungen noch operative Direktiven zu finden. Aus einer Vielzahl von Einzelinformationen liess sich aber das aus Publikationen bekannte Bild von Angriffsoperationen ostdeutscher, zum Teil auch sowjetischer und polnischer Streitkräfte durch Nord- und Zentraldeutschland rekonstruieren. Über die unser Land mehr interessierende Operationsrichtung durch Bayern nach Westen finden sich in den Dokumenten kaum Hinweise, weil diese Operation ohne NVA-Beteiligung vorgesehen war.» In diesem Zusammenhang verwies der Bundesrat auf das Projekt zur Fortsetzung der Geschichte des Generalstabs, in dessen Rahmen «gegenwärtig eine Kommission von Militärhistorikern zusammengestellt» werde, «deren Aufgabe u. a. darin bestehen wird, in den relevanten Militärarchiven in Moskau, Budapest und Prag vertiefte Recherchen zu unternehmen».
Die beiden konkreten Fragen der Interpellation Alder beantwortete der Bundesrat wie folgt: «1. Von den die Schweiz betreffenden Operationsplanungen der Sowjetunion waren seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die strategischen Aspekte bekannt. Danach war unser Land Teil des westlichen ‹Schauplatzes von Kriegshandlungen› und lag in der südlichsten der fünf Operationsrichtungen, der Operationsrichtung Alpen. Diese umfasste den Südraum der ehemaligen Tschechoslowakei, den nördlichen Raum Ungarns, Österreich, Liechtenstein und die Schweiz sowie den Zugang zur oberitalienischen Tiefebene. Ihre Achse verlief über Wien, Davos und Lausanne. Der etwa 180 bis 250 Kilometer breite Operationsstreifen war links durch die österreichisch-jugoslawische Grenze, Villach, Trento und Como, rechts durch die Linie Lipno–Garmisch–Baden–Basel–Besançon begrenzt. Operationsplanungen auf operativer Ebene waren nur in den Umrissen bekannt und unterlagen gemäss den Aussagen von Überläufern und ehemaligen hohen Funktionsträgern aus dem ehemaligen Ostblock über die Jahre hinweg verschiedenen Anpassungen. Wie sie sich in den entscheidenden Details entwickelt haben, wird – wenn die operativen Direktiven, Karten und Akten in den entsprechenden Archiven freigegeben werden – von der Geschichtsschreibung zu beurteilen sein.
2. Die Vorbereitungen unserer Armee brachten nach heutigem Kenntnisstand die real bestehende Bedrohung mit den Möglichkeiten unseres Kleinstaates in ein gutes Verhältnis. Die Restakten aus den Archiven der NVA vermitteln eine gute Übereinstimmung mit den Annahmen unserer Armee zu wesentlichen Grundsätzen der sowjetischen Operationsführung. Insbesondere dem Grundsatz der sowjetischen Streitkräfte, das Gefecht von Beginn an in die ganze Tiefe der Verteidigung zu tragen, hat unsere Armee mit ihrer Kampfstellung sehr gut und mit grosser dissuasiver Wirkung Rechnung getragen. Immer mehr zeichnet sich jedoch ab, dass die nukleare Bedrohung unterschätzt wurde. Vermehrt geben Offiziere der ehemaligen Ostblockstaaten an, dass geplant war, Angriffe mit Nuklearwaffen einzuleiten, wie auch damit laufend zu unterstützen. Auf taktischer Ebene ergibt sich praktisch volle Übereinstimmung der Grundsätze mit jenen, wie sie in den Reglementen unserer Armee über die Streitkräfte des Warschauer Paktes festgehalten waren und in der Armee instruiert wurden. Die militärischen Szenarien, die den Übungen unserer Armee in den siebziger und achtziger Jahren zugrunde lagen, dürfen mit gutem Gewissen als sehr realistisch bezeichnet werden.»
Anzumerken ist an dieser Stelle, dass sich die Fragen der Interpellation Alder zwar nur auf die 1970er- und 1980er-Jahre bezogen, die Antwort des Bundesrats jedoch offen liess, ob seine Aussagen ebenfalls bloss für diesen Zeitraum gültig waren oder vielmehr auch auf die vorangehende Phase des Kalten Kriegs übertragen werden konnten. Diese Unschärfe zu erhellen, ist eine der zentralen Aufgaben der vorliegenden Studie.
Weitere Forschungsresultate auf der Grundlage der DDR-Akten
Gegen Ende der 1990er-Jahre ging das zuvor grosse schweizerische Interesse an den DDR-Akten etwas verloren. Ein Grund dafür dürfte unter anderem das 1996 vom damaligen Vorsitzenden des Nato-Militärausschusses, Generalinspekteur Klaus Naumann, herausgegebene Buch «NVA. Anspruch und Wirklichkeit»36 gewesen sein. Die dort veröffentlichten Geheimakten und Expertenanalysen zu verschiedenen Aspekten der DDR-Streitkräfte liessen nämlich den Schluss zu, dass die Schweiz in den operativen Überlegungen der NVA keine Rolle gespielt hatte. Zwar kam nun deutlich zum Ausdruck, dass in den ausgewerteten Kriegsspielen und Übungen die in den 1960er-Jahren durch Sokolovskij erstmals offiziell bekannt gegebene sowjetische Militärdoktrin ihre konkrete Verwirklichung und Weiterführung gefunden hatte und dass die NVA «Teil einer nicht nur angriffsfähigen, sondern konsequent auf Offensive ausgerichteten multinationalen Militärkoalition»37 gewesen war, die Schweiz jedoch kam in den entsprechenden Dokumenten nicht vor.
Von vielen Lesern zu wenig beachtet worden ist die Tatsache, dass in den DDR-Akten kein gültiger Operationsplan, sondern nur Übungsanlagen gefunden worden sind. Dass insbesondere der Operationsbefehl des Warschauer Vertrags fehlte, ist die wohl bedeutendste Erkenntnis aus der Erforschung der ostdeutschen Geheimdokumente.
Sowjetische Angriffsplanung gegen die Schweiz als unbestreitbare Tatsache?
Im Februar 2003 erschien als Beilage zur ASMZ und zum «Schweizer Soldat» eine Studie von Matthias Kuster und Jürg Stüssi-Lauterburg unter dem Titel «Blautanne. Operationsziel Schweiz – eine Analyse».38 Die beiden Verfasser wagten angesichts der kaum zugänglichen Archive in Osteuropa nicht zu beurteilen, wie gross «die direkte militärische Bedrohung der Schweiz durch die Sowjets […] in den Fünfziger- und beginnenden Sechzigerjahren war», doch hielten sie fest: «Dass sie [die Bedrohung, d. Vf.] tatsächlich existierte, unterliegt […] keinem vernünftigen Zweifel.»39 Sie stützten sich bei dieser anscheinend unumstösslichen Feststellung praktisch ausschliesslich auf Aussagen der beiden ranghohen osteuropäischen «Überläufer» Jan Šejna und Vasilij Nikitič Mitrochin.
Stüssi-Lauterburg wiederholte seine These, dass es konkrete sowjetische Angriffspläne gegen die Schweiz gegeben haben müsse, 2007 im Vorwort zu Peter Veleffs Buch «Angriffsziel Schweiz?»40
Einbezug der Schweiz in die sowjetischen Planungen ab Anfang der 1960er-Jahre?
Dass von Seiten der Sowjetunion geplant wurde, die Schweiz anzugreifen, vermutete auch Daniel A. Neval.41 Seiner Meinung nach war dies aber erst ab Anfang der 1960er-Jahre der Fall, nachdem die sowjetische Führung zur Auffassung gelangt war, die Schweiz würde sich im Kriegsfall wohl nicht neutral verhalten. So schrieb Neval 2004 in einem Aufsatz im Katalog zur Ausstellung «Imaginer la guerre – Der Schweizerische Generalstab 1804–2004»: «Erst die Entschlossenheit, mit welcher sich die Schweizer Führung für die Anschaffung von Atomwaffen aussprach, liess die sowjetische Führung grundsätzlich an der Glaubwürdigkeit der Schweizer Neutralität zweifeln und führte mit grosser Wahrscheinlichkeit dazu, dass die Besetzung von Teilen der Schweiz in die militärische Planung aufgenommen wurde.»42 Um welche Teile der Schweiz es sich dabei konkret handelte, führte Neval in seiner Dissertation aus: «[Auf Seiten des Warschauer Vertrags, d. Vf.] wird nun zusehends davon ausgegangen, dass die Schweiz sich, noch bevor sie vom Warschauer Pakt angegriffen würde, mit der Nato verbünden würde. Die WP-Staaten wären deshalb gezwungen, durch die Besetzung der Nordwestschweiz um Basel einen Flankenangriff von Nato-Truppen via Mittelland zu verhindern. Zumindest in der ersten Phase sollten gemäss den Plänen keine weiteren Gebiete der Schweiz besetzt werden, selbst das Mittelland bliebe ausgespart, um den möglichst raschen Vorstoss Richtung Frankreich nicht zu verzögern.»43 Neval berief sich bei diesen Aussagen auf Erkenntnisse des slowakischen Militärhistorikers Miloslav Púčik,44 welcher offenbar vertieften Einblick in tschechoslowakische Militärdokumente gehabt hatte. Púčik habe, so Neval, ihn darauf aufmerksam gemacht, dass die sowjetische Kriegsplanung zu Beginn der 1960er-Jahre «eine Verstärkung der Truppenstärken entlang einer neuen strategischen Linie Prag– Nürnberg–Basel–Dijon neben den herkömmlichen Linien Moskau–Berlin–Paris und Cluj–Wien–München» zeige.45 Es könne «nicht ausgeschlossen werden, dass diese Massnahmen in einem Zusammenhang mit der Stärkung der Rheinlinie» stünden, «die auf Grund der zweifelhaft gewordenen Schweizer Neutralität notwendig» geworden sei.46
Abb. 5–8: Topographische Karten 1:50 000 des sowjetischen Generalstabs. 1957–1959/1976–1978/1980–1988. (Zentralbibliothek Zürich)
Abb. 5: Bern 1:50 000, Blatt L-32-39-B, 3 Hb 98 1 L 32 39 B, 1977.
Abb. 6: Zürich 1:50 000, Blatt L-32-18-V, 3 Hb 98 1 L 32 18 V, 1977.
Abb. 7: Schaffhausen 1:15 000, Blatt L-32-6-V, 1988. Die Karten 1:50 000 waren die Führungskarten des Generalstabs und der Truppe. Das Kartenwerk ist für Westeuropa flächendeckend. Es gilt zu beachten, dass diese Karten nach unserer Forschungsperiode gedruckt wurden.
Abb. 8: Stadtplan Winterthur 1:10 000, 5 Kx 08 3. Das Kartenwerk 1:10 000 zeigt ein grundrissgetreues Abbild von Siedlungen, Verkehrswegen, Gewässern und des Geländes. Die Karten wurden nur von wichtigen Orten erstellt. Militärisch relevante Objekte sind besonders bezeichnet: Verwaltungsgebäude (violett), kriegswichtige Objekte (grün oder violett). In dieser Karte sind besonders bezeichnet: 1 = Sportflugplatz, 2–10 = Banken, 11–26 = Fabriken (z. B. 25/26 Gebr. Sulzer), 27–29 = Kasernen, 33–40 Postämter, 43 Rathaus, 47–54 Bahnhöfe, 56 Telefonzentrale; Traglastangaben für Brücken und Strassen. An der Expo 2002 wurde eine vergleichbare Karte der Stadt Bern gezeigt. Daraus wurde geschlossen, dass die Sowjetunion gegen die Schweiz gerichtete militärische Pläne ausgearbeitet haben muss.
Kein «Angriffsziel Schweiz»?
Der Schlussfolgerung Stüssi-Lauterburgs sowie auch der These Nevals widerspricht in seinen beiden Büchern «Spionageziel Schweiz?» und «Angriffsziel Schweiz?»47 der oben bereits erwähnte Peter Veleff. Ausschliesslich auf die DDR fokussiert, gestützt auf eine intensive Quellenrecherche und ergänzt durch aussagekräftige Zeitzeugenberichte zieht Veleff erstens das Fazit, dass die operative Tätigkeit der Aufklärungsapparate der DDR in der Schweiz keine relevanten Rückschlüsse auf eine militärische Bedrohung durch den östlichen Machtblock zulasse. Die Schweiz sei für die östlichen Geheimdienste wohl lediglich «als Durchgangsland für Treffs, für Materialübergaben und im Fall erhöhter politischer Spannungen oder Krieg zwischen den beiden Machtblöcken in Europa als Beobachtungsplattform, als Fluchtland und als nachrichtendienstliche Basis für operative Tätigkeiten gegen den Hauptgegner Nato» von Interesse gewesen.48
Die Analyse der östlichen Operationsplanungen führt Veleff zweitens zur Ansicht, dass im uns interessierenden Zeitabschnitt alle strategischen Achsen des Warschauer Vertrags gegen Westeuropa die Schweiz nördlich umgangen hätten.49 Der Rhein wäre unterhalb Basels ausschliesslich auf Nato-Territorium überschritten worden. Wörtlich schreibt Veleff: «Frankreich wäre in der süddeutschen strategischen Richtung und der Bayrischen Operationsrichtung von den Kräften der dafür eingesetzten Front (zusammengesetzt aus der CVA [der Tschechoslowakischen Volksarmee, d. Vf.] und den sowjetischen Verbänden der Zentralen Gruppe der Truppen [ZGT]) um Basel herum durch die Burgunder Pforte angegriffen worden.» Dementsprechend hält Veleff zusammenfassend unmissverständlich fest: «Die Titelfrage dieses Buches:‹Angriffsziel Schweiz?› ist negativ zu beantworten: Nein, es gab (auch) auf der Ostseite keine Operationspläne gegen die Schweiz.» Zu einem anderen Schluss kommt er in Bezug auf Österreich. Gegen unseren östlichen Nachbarn hätten sowohl von Seiten des Warschauer Vertrags als auch von Seiten der Nato Interventionspläne bestanden, «für den Fall, dass zufolge der als schwach eingeschätzten Verteidigung der Gegner bereits dort eingedrungen sein sollte».
Abschliessend kommt Veleff noch auf einen dritten Aspekt zu sprechen: auf die Frage, ob das «Feindbild» und die Verteidigungsvorkehrungen der politischen und militärischen Führung der Schweiz der effektiven Bedrohungssituation angemessen gewesen seien. Veleff zeigt sich diesbezüglich überzeugt, dass die schweizerischen Entscheidungsträger «mit dem Aufbau einer starken Armee, einer guten militärischen Rüstung, einer guten Ausbildung, eines leistungsfähigen Zivilschutzes und mit der Durchführung von grossen Landesverteidigungs- und Armeestabsübungen für alle Elemente der Gesamtverteidigung richtig entschieden und damit dem Land gut gedient haben».
Zu beachten ist, dass Veleff seine Schlüsse hauptsächlich auf DDR-Quellen und Zeitzeugenaussagen der 1970er- und 1980er-Jahre abstützt. Da alle befragten hohen NVA-Offiziere an sowjetischen Generalstabsschulen studiert haben, darf jedoch angenommen werden, dass sie auch die wichtigsten operativen Überlegungen des Bündnisses gekannt haben. Es wird also zu untersuchen sein, ob ihre Aussagen auch für die ersten Jahre des Kalten Kriegs Gültigkeit haben.
Seit dem Erscheinen seines Buches «Angriffsziel Schweiz?» erhielt Peter Veleff eine unerwartete Anerkennung und eine Bestätigung der Richtigkeit seiner Forschungsergebnisse durch Kapitän zur See a. D. Walter Jablonsky. Als Chef der 1990 von Generalinspekteur Klaus Naumann eingesetzten Arbeitsgruppe zur Sichtung und Auswertung der damals neu angefallenen Militärakten der NVA kommt seiner Wertung eine besondere Bedeutung zu. Jablonsky schreibt:
«Mit Blick auf die Militärdoktrin, die strategische Richtung der WVO (Warschauer Vertrags-Organisation) und die Position der Schweiz in der strategischen und operativen Planung der WVO stimme ich Ihnen vollinhaltlich zu. Aus meiner Sicht hätte die WVO die Schweiz nie in Sicht ihrer (Gegen-)Angriffsplanung gehabt. Ausnahme – wie bei Ihnen beschrieben – :
die Schweiz hätte auf Seiten der Nato in den Krieg eingegriffen;
a) signifikante Nato-Streitkräfte hätten sich kampfbereit auf das Territorium der Schweiz zurückgezogen (‹kampfbereit› deshalb, weil die Nato-Streitkräfte bei Rückzug auf Schweizer Territorium nach Völkerrecht hätten entwaffnet und interniert werden müssen).»50
Unter Bezugnahme auf den oben zitierten «Bericht Stoltenberg» und die von Veleff hinterfragten Äusserungen des damaligen Staatssekretärs Prof. Lothar Rühl äussert sich Kapitän Jablonsky so:
«Der sogenannte ‹Stoltenberg-Bericht› war leider sehr tendenziös zusammengeschrieben. Offenbar kam es damals der militärpolitischen Führung der BRD darauf an, den Vereinten Streitkräften der WVO und vor allem der NVA Angriffsabsichten zu unterstellen. Dafür gab es aber keinen Beweis; wir haben nur Übungsunterlagen gefunden, keine ‹scharfen› Operationspläne. Und auch die Übungsunterlagen gingen von einem Angriff der Nato, dessen schneller Zerschlagung in einer Grenzschlacht und nachfolgendem weit- und tiefräumigem, entscheidenden Gegenangriff der Vereinten Streitkräfte der WVO aus. Für die zahlreichen Berichte von Professor Rühl gilt das Gleiche wie für den ‹Stoltenberg-Bericht›.»
Abschliessend meint Jablonsky: «Es ging mir wie Ihnen, als ich im Militärgeschichtlichen Institut (MGI) der Ex-DDR in Potsdam mit meiner Crew mehrmals wochenlang Archive durcharbeitete: Wir kamen gemeinsam zu Forschungsergebnissen, die in der Tat mit den alten Feindbildern aus dem Nato/WP-Konflikt nicht übereinstimmten.»
Grosses Aufsehen in der Schweiz und in Deutschland erregte ein ganzseitiger Artikel von Heinz und Michael Rühl in der NZZ vom 13./14.9.2008 unter dem Titel «Warschaupakt plante nuklearen Überfall auf Westeuropa». Die positiven und kritischen Stellungnahmen in den Leserbriefen (NZZ vom 27./28.9., S. 21) hielten sich in etwa die Waage. Erstere fühlten sich in ihrer Überzeugung bestätigt, dass die «im kürzlich erschienenen Buch von Peter Veleff protokollierten Aussagen ehemaliger in Moskau geschulter DDR-Generäle nach dem System ‹Mein Name ist Hase, ich weiss von nichts›» definitiv nicht als historische gelten können. Es ist darum wahrscheinlich, dass der Leserbrief von Siegfried Lautsch/Köln, 1983 bis 1987 Leiter der operativen Abteilung im Militärbezirk V und Planungsoffizier im Verteidigungsministerium der DDR, von dieser Gruppe auch nicht als wahr, sondern als blosse Rechtfertigung disqualifiziert wurde. Lautsch schrieb, die Darstellung der beiden Autoren, «dass der Warschaupakt bis in die späte Hälfte der achtziger Jahre einen präventiven, regional begrenzten Nuklearkrieg in Europa plante», sei irreführend. Die UdSSR und die Warschauer-Pakt-Staaten hätten nie einen überraschenden Erstschlag geplant, sondern nur für den Fall einer äusseren Aggression «alle erforderlichen Massnahmen zu ihrer Abwehr und zur Bekämpfung des Gegners» vorbereitet. Dazu gehörte «die Bereitschaft und Fähigkeit […] bei der sich bietenden Gelegenheit, noch im Verlauf der Abwehr, entschlossen anzugreifen». Ohne zu präzisieren, ob die Aussage für die ganze Periode des Kalten Kriegs gelte, verriet er, dass der Warschauer Vertrag im Rahmen eines Zwei-Phasen-Konzeptes offensive und defensive Kampfhandlungen vorbereitet habe, «die je nach politisch-militärischer Lageentwicklung angewendet werden konnten». Dem konventionellen Einsatz sei erstrangige Bedeutung zugekommen.
Von vornherein kann die Kritik von Vojtech Mastny/Arlington, Geschichtsprofessor und anerkannter Ostexperte, auch vom überzeugtesten Kalten Krieger nicht einfach übergangen werden. Mastny kritisierte, die Darstellung in der NZZ werde dem komplizierten Thema nicht gerecht. «Die Autoren ignorieren die Art und Weise, wie in der ehemaligen Sowjetunion Entscheide getroffen wurden. Sowjetische Militärplaner zerbrachen sich – wie ihre Gegenspieler bei der Nato – die Köpfe darüber, wie sie einem überraschenden Nuklearangriff des Feindes zuvorkommen könnten; sie planten einen solchen Angriff jedoch keinesfalls aus heiterem Himmel. Sie planten vielmehr, was zu tun sei, falls eine Krise aus irgendeinem Grund ausbrechen und militärische Handlungen nötig machen würde. Der Entscheid darüber lag aber nicht bei den sowjetischen Militärs, sondern in den Händen ihrer Vorgesetzten im Politbüro, die vor allem von politischen Erwägungen geleitet wurden.» Die weitergehende Kritik wurde in der NZZ nur verstümmelt wiedergegeben.51 Mastny bedauerte, dass die Autoren die Quellen nicht genannt hätten, was eine Überprüfung verunmögliche, und stellte fest, dass die bisherige Forschung nur ungenügend berücksichtigt worden sei. Die Kritik, die Autoren hätten unsachgemäss die beiden Begriffe «präventiv» und «präemptiv» synonym verwendet, ist aus völkerrechtlicher, strategischer und amerikanischer Sicht berechtigt, setzt aber voraus, dass der Unterschied allgemein bekannt ist. Als «präemptiv» wird gemeinhin ein Angriff dann bezeichnet, wenn er zweifelsfrei in eine unmittelbar bevorstehende oder bereits stattfindende Angriffshandlung eines Gegners hineinläuft. Als «präventiv» gilt eine Kriegshandlung, wenn eine Angriffsvorbereitung des Gegners zwar nicht direkt erkennbar, aber damit zu rechnen ist, dass dieser Gegner demnächst oder jedenfalls in absehbarer Zeit eine militärische Offensive startet. Bezüglich der völkerrechtlichen Legitimation ist es ein entscheidender Unterschied, ob eine militärische Aktion «präemptiv» oder «präventiv» erfolgt. Die Erstere wird in jedem Fall als legitim und in der Regel als legal beurteilt, während ein Präventivkrieg – da nicht zweifellos zum Zweck der Selbstverteidigung – völkerrechtswidrig oder mindestens umstritten ist.52
Diese verschiedenen gegensätzlichen Meinungen quellenkritisch zu werten, wird die grosse Herausforderung dieser Arbeit sein.
Zum schweizerischen «Feindbild»
Die sowjetischen Planungen gegen Europa blieben der schweizerischen Öffentlichkeit, aber auch ihren nachrichtendienstlichen Organen verständlicherweise verborgen. Die meisten Informationen waren durch die Propaganda so verstellt, dass bewusste Desinformation drohte. Trotzdem wurde schweizerischerseits immer wieder der Versuch unternommen, sich dem Geheimnis zu nähern und für die eigene Verteidigungs- und Sicherheitspolitik Schlüsse zu ziehen. Eine wichtige Quelle waren die aufgedeckten Spionagefälle mit östlichen Auftraggebern. Selbstverständlich wurden alle Möglichkeiten des offenen Nachrichtendienstes genutzt, und befreundete Nachrichtendienste dürften auch immer wieder Informationen weitergeleitet haben. Eine ergiebige Quelle waren die Berichte von Generalstabsoffizieren, welche die Chance einer Auslandkommandierung nutzen durften. Sie erfuhren in den verschiedenen Kursen und Schulen vom «Feindbild Rot» des Gastlandes und berichteten nach ihrer Rückkehr.
Strategieexperten lieferten grundsätzliche Überlegungen und stellten Konzeptionsvorschläge zur Diskussion. Hinsichtlich unseres Forschungszeitraums sind an erster Stelle Gustav Däniker und Jakob Annasohn zu nennen, die beide ein neues strategisches Denken forderten und die Basis zu einer Gesamtverteidigung legten. Däniker leitete sein 1966 erschienenes Buch «Strategie des Kleinstaats»53 mit folgender historischer Erfahrung ein: «Kleinstaaten waren zu allen Zeiten bedroht. Sie konnten sich meist nur dann behaupten, wenn ihre Existenz im Interesse der stärkeren Mächte lag, oder aber, wenn sie über eine besonders wirksame Verteidigung verfügten.»54 Däniker hatte, abgesehen von gewissen nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, keine Informationen über die konkreten militärischen Planungen des Warschauer Vertrags und blieb mit seinen Überlegungen weitgehend auf einer hohen Abstraktionsebene, was aber seiner fachlichen Kompetenz keinen Abbruch tut.
Die Ausweitung des strategischen in ein sicherheitspolitisches Denken ab Ende der 1960er-Jahre widerspiegelte sich in verschiedenen Arbeiten der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse (FSK) der ETH Zürich unter der Leitung von Prof. Kurt R. Spillmann. Die wichtigsten Ergebnisse – das Produkt verschiedener Einzelstudien – sind im Buch «Sicherheitspolitik seit 1945. Zwischen Autonomie und Kooperation»55 zusammengefasst. Dieses umfasst den ganzen Zeitabschnitt des Kalten Kriegs.
Das aktuelle Standardwerk der schweizerischen militärischen und militärpolitischen Situation in der ersten Periode des Kalten Kriegs ist zweifellos die Dissertation von Peter Braun mit dem Titel «Von der Reduitstrategie zur Abwehr. Die militärische Landesverteidigung der Schweiz im Kalten Krieg 1945–1966», die als Band X der Geschichte des Schweizerischen Generalstabs herausgegeben worden ist.56
Gesamthaft kann gesagt werden, dass die schweizerische Seite, die eidgenössische «Innensicht», bereits als gut erforscht gelten kann, wenn auch noch immer Einzelaspekte einer gründlicheren Erforschung harren.
Quellenlage
Veröffentlichte Archivdokumente
Als Reaktion auf die nach dem Ende des Kalten Kriegs einsetzende und in der Folge zunehmende Entklassifizierung von Nato-Dokumenten sowie die gleichzeitig wachsende Verfügbarkeit von Akten aus den Archiven des früheren Ostblocks wurde im Jahr 1999 unter Leitung des tschechischstämmigen US-Historikers Vojtech Mastny und unter Beteiligung verschiedener sich mit der Geschichte des Kalten Kriegs befassender Institutionen das «Parallel History Project on Nato and the Warsaw Pact» (PHP) ins Leben gerufen. 2006 wurde es in «Parallel History Project on Cooperative Security» umbenannt. Seit seiner Gründung hat das PHP in nationalen Archiven in Europa und Nordamerika mehrere Tausend Seiten Material zu sicherheitspolitischen Aspekten des Kalten Kriegs gesammelt und eine grosse Zahl dieser Archivunterlagen zusammen mit Kommentaren und Analysen auf seiner Homepage57 veröffentlicht. Die vom PHP publizierten Originaldokumente aus östlichen Archiven, speziell natürlich Kriegspläne, bildeten im Rahmen unserer Arbeit eine wichtige Ergänzung zu unseren eigenen Quellenfunden.
Als weitere Internet-Plattform sei genannt: das amerikanische «Cold War International History Project».58 Auch die Protokolle des Nationalen Verteidigungsrats der DDR sind seit Kurzem im Internet verfügbar.59
Für unsere Studie von grossem Wert sind zwei tschechische Veröffentlichungen aus dem Jahr 2007. An erster Stelle sind hierbei die von Petr Luňák herausgegebenen operativen Planungen der Tschechoslowakischen Volksarmee (ČSLA60) aus dem Zeitraum von 1950 bis 1990 zu nennen.61 Leider wird der Nutzen dieses Werkes für viele Interessierte dadurch vermindert, dass es bisher nur in tschechischer Sprache herausgekommen ist und keinerlei Kartenmaterial aufweist. Von fast ebenso grossem Wert – zwar ebenfalls auf Tschechisch, aber mit informativen Karten – ist das Buch von Karel Štěpánek und Pavel Minařík, das die neueste Forschung und die Akten zum Operationsplan von 1964 darstellt.62 Da Štěpánek aktiv an Teilen dieser Planung beteiligt war, kommt dem Kommentar ebenfalls Quellenwert zu. Die Schweiz spielt in diesen zwei kommentierten Quellensammlungen praktisch keine Rolle.
Es existiert zudem eine Quellenedition mit politischen Akten zur Schweiz.63 Als wertvoll für die Untersuchung der Frage nach der östlichen Einschätzung der allgemeinen politischen Entwicklung der Schweiz in der Nachkriegszeit erwiesen sich ausserdem die vom Informationsdienst der Schweizerischen Osteuropa-Bibliothek (OEB) beziehungsweise des Schweizerischen Ost-Instituts (SOI) herausgegebenen Übersetzungen von osteuropäischen Presseartikeln zur Schweiz.64 Zum politischen Verhältnis zwischen der Schweiz und den Ländern im sowjetischen Machtbereich wurden schliesslich auch noch veröffentlichte Dokumente aus dem Schweizerischen Bundesarchiv verwendet, zum einen die ebenfalls im oben erwähnten Band «Švejcarija – Rossija» publizierten, zum anderen solche aus der Quellensammlung «Documents Diplomatiques Suisses»/DDS.65
Unveröffentlichte Archivdokumente
Der Zugang zu den – bei der Beantwortung der Forschungsfragen dieser Studie im Mittelpunkt stehenden – unedierten Akten in mittel- und osteuropäischen Archiven war leider nur beschränkt und je nach Land in unterschiedlicher Form möglich.
In der Russischen Föderation erwiesen sich die Schwierigkeiten als am grössten. Trotz langjährigen intensiven Bemühungen und diversen erhaltenen Versprechen konnte für keines der russischen Militärarchive (insbesondere nicht für das Staatliche Militärarchiv (RGVA)66 in Moskau und auch nicht für das Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums (CAMO)67 in Podol’sk eine Einsichtsberechtigung erwirkt werden. Die äusserst wichtigen Dokumente des sowjetischen Generalstabs – darunter dessen militärische Pläne und Studien (insbesondere die vorbehaltenen Entschlüsse) – bleiben somit bis auf Weiteres unzugänglich. Im Archiv der Aussenpolitik der Russischen Föderation (AVPRF)68 konnten immerhin einige wenige, dafür äusserst interessante Berichte der sowjetischen Botschaft in Bern eingesehen werden.
Wesentlich erfolgreicher verliefen die Archivrecherchen in der Tschechischen Republik. Im Militärhistorischen Archiv (VHA9)69 in Prag, einer Abteilung des Zentralen Militärarchivs (VÚA),70 bestand die Schwierigkeit anfänglich darin, dass in den zugänglichen Findmitteln zu den Beständen des Verteidigungsministeriums nur sehr wenige Einträge zur Schweiz vermerkt waren. Die entsprechenden Dokumente konnten jedoch relativ problemlos eingesehen werden. Als hinderlich erwies sich ausserdem, dass wegen der Überschwemmung von 2002, welche Teile des Archivs unter Wasser gesetzt hatte, etliche Bestände unzugänglich oder zerstört waren. Zunächst nicht möglich schien die Einsicht in Übungs- und Operationspläne der Tschechoslowakischen Volksarmee. Diese waren grösstenteils gesperrt, und da es aufgrund der ungenügenden Findmittel äusserst schwierig zu erahnen war, welche dieser Pläne für die Schweiz hätten relevant sein können, erschien das Stellen von Gesuchen für Ausnahmebewilligungen als nicht erfolgversprechend. Dank der Vermittlung des schweizerischen Botschafters in Prag sowie des schweizerischen Militärattachés in Wien gelang es im Jahr 2007 aber schliesslich doch noch, Zugang zu den bisher gesperrten militärischen Akten der ČSLA – die Unterlagen anderer Kommandostellen des Warschauer Vertrags blieben weiterhin verschlossen – im Zentralen Militärarchiv in Prag und im Militärhistorischen Institut (VHÚ)71 in Bratislava zu erhalten. Gleichzeitig konnte auch die Einsichtnahme in Akten des politischen Nachrichtendienstes der Tschechoslowakei, welche bis Ende 2007 im Sicherheitsarchiv des Amtes für Aussenbeziehungen und Informationen (BAÚZSI)72 und seither im Institut für die Erforschung totalitärer Systeme (ÚSTR)73 liegen, erreicht werden. Die Resultate des militärischen Nachrichtendienstes wurden zerstört. Äusserst ergiebig waren die Nachforschungen im Archiv des Aussenministeriums (AMZV)74 in Prag. Hier konnten sämtliche tschechoslowakischen Konsulats-, Gesandtschafts- und Botschaftsberichte aus der Schweiz sowie einige Berichte der Territorialabteilung des Aussenministeriums eingesehen werden. In vielen dieser Dokumente sind die schweizerische Neutralität und die Schweizer Armee thematisiert. Im Staatlichen Zentralarchiv (SÚA),75 dem heutigen Nationalarchiv, wurden Akten zu den Beziehungen zwischen dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ)76 und der schweizerischen Partei der Arbeit (PdA) gefunden. Zudem waren hier auch einige interessante Dokumente militärischen Inhalts sowie solche, die Kontakte mit Schweizer Banken belegen, vorhanden. Im Archiv der Kanzlei des Präsidenten (AKPČR)77 schliesslich fand sich nur sehr wenig Material zur Schweiz, meist Glückwunschschreiben und Anfragen zu Enteignungsfällen.
In Polen gewährte das Archiv des Aussenministeriums (AMSZ)78 Einblick in sämtliche vorhandenen polnischen Gesandtschafts- und Botschaftsberichte aus der Schweiz. Ein Grossteil der ursprünglich erstellten Berichte scheint leider vernichtet worden zu sein. Im Archiv Neuer Akten (AAN)79 konnten Unterlagen über die politischen Aktivitäten polnischer Internierter in der Schweiz sowie über die Kontakte zwischen der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR)80 und der PdA eingesehen werden. Demgegenüber war die Einsichtnahme in militärische Akten – von wenigen, belanglosen Dokumenten abgesehen – leider nicht möglich. Aufgrund der vermuteten geringen Relevanz der polnischen Planungen für die Schweiz wurden keine intensiveren Versuche unternommen, doch noch Zugang zum Zentralen Militärarchiv (CAW)81 in Warschau zu erhalten.
Auch in den ungarischen Archiven durften realistischerweise keine direkt die Schweiz betreffenden militärischen Dokumente erwartet werden, war doch das primäre Einsatzgebiet der Ungarischen Volksarmee (MNH)82 der südwestliche – und nicht der westliche – Kriegsschauplatz. Trotzdem wurden sowohl das Militärgeschichtliche Archiv (HL),83 wo sich die Akten des Verteidigungsministeriums und des Generalstabs befinden, als auch das Ungarische Staatsarchiv (MOL),84 wo unter anderem die Akten des Aussenministeriums eingelagert sind, so gut wie möglich durchforstet. Bei dieser Recherche half der am 18. November 2006 verstorbene Dr. Josef Borus, Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, in freundschaftlicher Weise, verschlossene Türen zu öffnen und persönliche Kontakte zu Zeitzeugen zu knüpfen.
Unterlagen aus der Deutschen Demokratischen Republik, vor allem zur Nationalen Volksarmee (NVA), wurden in folgenden deutschen Archiven eingesehen: im Bundesarchiv-Militärarchiv (BA/MAF) in Freiburg i. Br., in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) in Berlin sowie im Archiv der/des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) in Berlin. Die Nachforschungen zur DDR wurden dadurch erschwert, dass ein bedeutender Teil der entsprechenden Dokumente entweder zerstört worden oder unzugänglich war. Dies gilt in besonderem Mass für die Unterlagen des unter wechselnder Bezeichnung – zuletzt «Bereich Aufklärung» (BA) – fungierenden militärischen Nachrichtendienstes der NVA.85 Vor deren Übernahme durch die Bundeswehr wurden alle sogenannten «personengebundenen» oder «personenbezogenen» Akten, welche sich in den Händen der Führungsoffiziere oder in irgendwelchen Zwischenlagern oder Schränken des Verteidigungsministeriums befanden, vernichtet. Beseitigt wurden ausserdem sämtliche Akten, welche Rückschlüsse auf Informanten und Vertrauenspersonen zugelassen hätten. Im Zuge dieser Aktion wurden auch bereits archivierte Akten aus dem Militärarchiv in Potsdam zurückgerufen und gesichtet.86 Nach der Rückgabe des Materials an das Archiv fehlten von ursprünglich 250 Archivschachteln rund 80. Der grösste Teil der übrig gebliebenen Unterlagen wurde nach einer Auswertung durch den Bundesnachrichtendienst ins Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg i. Br. überführt.
Die Akten der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wurden vollständig vernichtet. Zufallsfunde aus irgendwelchen Gründen sind aber immer noch möglich.
Die aufwändige Aktendurchsicht in den deutschen Archiven – ohne Gewissheit, wirklich alles gesehen zu haben – wurde durch Gespräche mit verantwortlichen Offizieren sowie anderen Personen aus der früheren Staats- und Armeeführung der DDR ergänzt. Diese Kontakte verdanken wir dem vertrauensbildenden Vorgehen von Peter Veleff, der auch einen wesentlichen Teil der Archivforschung übernommen hat.
Hinsichtlich des Archivmaterials in den Ländern des ehemaligen Warschauer Vertrags lässt sich zusammenfassend festhalten, dass der Zugang zu politischen Dokumenten relativ gut möglich war, derjenige zu militärischen Akten dagegen nur in stark eingeschränktem Rahmen. So konnten insbesondere einzig Unterlagen der Armeen der Satellitenstaaten eingesehen werden, während die entscheidenden sowjetischen Dokumente verschlossen blieben.87
Die Erforschung der Militärdoktrin, der Strategie und der Kriegsplanung der UdSSR sowie des Warschauer Vertrags im Allgemeinen sowie in Bezug auf die Schweiz im Speziellen stellte dementsprechend eine grosse Herausforderung dar, was den Fortgang der Arbeit immer wieder verzögerte und teilweise verunmöglichte.
Recherchearbeiten wurden schliesslich auch im Schweizerischen Bundesarchiv (BAR) in Bern getätigt. Hier konnten unter anderem Akten mit Informationen über die östliche Einschätzung der politischen und militärischen Ausrichtung der Schweiz eingesehen werden, insbesondere die Berichte der Schweizer Gesandten und Botschafter in mittel- und osteuropäischen Ländern. Ausserdem interessierten Unterlagen zu den nachrichtendienstlichen Aktivitäten des Ostblocks in der Schweiz. Mit einer Sondergenehmigung wurde der Zugang zu einzelnen Spionagefällen gewährt. Ferner ging es darum, dem schweizerischen «Feindbild» im uns interessierenden Zeitraum nachzuspüren. Besonders aussagekräftig waren diesbezüglich die Sitzungsprotokolle der Landesverteidigungskommission (LVK), Besprechungen operativer Übungen sowie Berichte der Militärattachés und von Auslandkommandierungen.
Im Zusammenhang mit den in dieser Studie verwendeten Archivdokumenten müssen abschliessend noch zwei methodische beziehungsweise quellenkritische Bemerkungen gemacht werden. Die erste betrifft die von den schweizerischen diplomatischen Vertretungen angefertigten und nach Bern gesandten Übersetzungen östlicher Presseberichte über die Schweiz. Diese bringen ja eigentlich nicht – oder zumindest nicht direkt – die «Sicht Ost» zum Ausdruck. Aus sprach- und arbeitstechnischen Gründen wurden sie aber trotzdem in die vorliegende Arbeit einbezogen. Da uns kein Fall bewusster Falschübersetzungen durch schweizerische Diplomaten bekannt ist, erscheint uns dieses Vorgehen verantwortbar. Die zweite Bemerkung bezieht sich auf die Berichte der östlichen Gesandtschafts oder Botschaftsmitarbeiter in der Schweiz an ihre vorgesetzten Stellen in den jeweiligen Heimatländern. Bei der Analyse dieser Berichte fiel auf, dass der vom Gesandten oder Botschafter übermittelte Inhalt sich von jenem des militärischen Geheimdienstmitarbeiters, welcher auf der diplomatischen Vertretung eingesetzt war, tendenziell unterschied: Während der Gesandte beziehungsweise Botschafter meist mittels möglichst linientreuer Berichterstattung seiner politischideologischen Loyalität Ausdruck gab, befleissigte sich der Nachrichtenoffizier einer möglichst realitätsnahen Informationsweise. Auf diesen Unterschied im Gehalt der Berichte angesprochen, sagte der letzte ungarische Geheimdienstchef in einem persönlichen Gespräch geheimnisvoll lächelnd: «Der Diplomat, der nicht das sagte, was man im Ministerium gerne hörte, wurde nicht befördert; der Nachrichtenoffizier, der das berichtete, was man in der Zentrale gerne hörte, und nicht das, was er sah, wurde sofort ersetzt.»
Osteuropäische «Überläufer» als Informationsquellen
Immer wieder als Referenzquelle verwendet wurde in der Vergangenheit – gerade auch in der Schweiz – das 1982 erschienene Buch «We will bury you» des ehemaligen tschechoslowakischen Generals Jan Šejna.88 Der Autor war Erster Sekretär des Hauptkomitees der Kommunistischen Partei im Verteidigungsministerium der ČSSR gewesen, bevor er im Februar 1968 in den Westen flüchtete. In seinem Buch berichtete Šejna ausführlich über einen langfristig angelegten «strategischen Gesamtplan» des Warschauer Vertrags, welcher darauf ausgerichtet gewesen sei, Westeuropa im Fall eines Kriegs militärisch zu unterwerfen. Die Ausarbeitung dieses Plans sei im Januar 1965 vom Politischen Beratenden Ausschuss beschlossen worden, und im Oktober 1966 sei der erste Entwurf davon erörtert worden.89 Der Gesamtplan habe bis 1968 fertiggestellt werden sollen; ab Februar 1967 hätten die Parteiführungen der einzelnen Mitgliedsstaaten regelmässig sowjetische Direktiven erhalten, welche die Rolle des jeweiligen Landes im Gesamtplan festgehalten hätten.90 Bezüglich der «tschechischen Streitkräfte» [sic!] schrieb Šejna, diese hätten bei einem Kriegsausbruch die Aufgabe gehabt, die Westdeutsche Armee – «our principal adversary on the Central Front» – anzugreifen.91 Innert 30 Minuten nach Beginn der Feindseligkeiten hätten sie die eigenen Landesgrenzen überschreiten und innert dreier Tage den Rhein erreichen sollen. Von dort aus hätten die tschechischen Truppen zusammen mit sowjetischen und DDR-Truppen einerseits die Invasion Frankreichs in Richtung Paris vollziehen und andererseits – ohne die NVA – die «progressiven Kräfte» in Deutschland bei deren Machtübernahme militärisch unterstützen sollen. In Bezug auf die Schweiz äusserte Šejna sich dahin gehend, dass bis 1963 in den tschechischen Operationsplänen die schweizerische Neutralität respektiert worden sei. Dann habe der sowjetische Verteidigungsminister Malinovskij eine Abkehr von dieser «reaktionären» Haltung befohlen.92 Im Rahmen des «strategischen Plans» des Warschauer Vertrags sei dementsprechend nicht beabsichtigt gewesen, die Neutralität der Schweiz zu respektieren: «Despite its affirmations of non-alignment, we included its Army in our count of N. A. T. O. forces. We considered Switzerland a bourgeois country and a fundamental part of the Capitalist System.»93 Im Fall des Ausbruchs eines Weltkriegs, so Šejna weiter, hätten tschechische Bodentruppen, verstärkt durch sowjetische Fallschirmjäger, die Schweiz besetzen sollen. Nach nur drei Tagen hätten sich alle wichtigen Zentren der Regierung, der Industrie und der Bevölkerung ebenso wie die militärischen Stützpunkte in der Hand der Besatzungstruppen94 befinden sollen. Zu einer Besetzung der Schweiz wäre es gemäss Šejna auch im Fall eines lokalen Kriegs in Deutschland gekommen – um zu verhindern, dass die Schweiz ein Zufluchtsort für die besiegten «Faschisten» würde – sowie ebenfalls dann, wenn der Westen versucht hätte, militärischen Aktionen des Warschauer Vertrags in Österreich und Jugoslawien entgegenzutreten. In diesem Fall hätte das Ziel des östlichen Militärbündnisses darin bestanden, «die Neutralität der Schweiz zu retten».95
Den «Enthüllungen» Šejnas ist aus verschiedenen Gründen mit grosser Vorsicht zu begegnen.96 Fragezeichen gibt es zunächst einmal hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit als Person: Šejna war vor seiner Flucht ein bedingungsloser Gefolgsmann des konservativen Parteichefs und Staatspräsidenten Novotný gewesen. Im Januar 1968 versuchte er, mittels Mobilisierung einer Panzerdivision den bevorstehenden Sturz Novotnýs zu verhindern. Die Putschvorbereitungen flogen jedoch auf, worauf Šejna beschloss, sich in den Westen abzusetzen. Von tschechoslowakischer Seite wurden gegen ihn in der Folge schwere Anschuldigungen erhoben, und zwar nicht nur wegen des Putschversuchs, sondern auch wegen Amtsmissbrauchs und Veruntreuung von Staatsgeldern. Zudem drückte ihn eine grosse Schuldenlast. Im Westen fielen Šejnas Aussagen über die Absichten des Warschauer Vertrags rasch auf fruchtbaren Boden, sodass er damit seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Zu Beginn der 1980er-Jahre war er als Referent allerdings nicht mehr so gefragt wie noch ein Jahrzehnt zuvor. Dass er in dieser Phase, nicht weniger als 14 Jahre nach seiner Flucht in den Westen, das Buch «We will bury you» veröffentlichte, dürfte nicht zuletzt auf seine Absicht zurückzuführen sein, sich wieder ins Gespräch zu bringen. Verstärkt wird diese Vermutung durch die Tatsache, dass seine Ausführungen über den angeblichen strategischen Plan des Warschauer Vertrags nun wesentlich umfang- und detailreicher ausfielen als früher.
Ein zweiter problematischer Aspekt ergibt sich aus der Frage, woher Šejna denn überhaupt sein Wissen hatte. Als hoher Parteioffizier hatte er wohl mit den verschiedensten Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums Gespräche führen und wohl auch geheimes Material einsehen können. Dass er in seiner Funktion die strengstens geheimen, bloss einem äusserst kleinen Personenkreis zugänglichen Dokumente mit der «scharfen» Operationsplanung der ČSLA zu Gesicht bekommen und sogar vertiefte Kenntnisse über die – ausschliesslich von der sowjetischen Militärführung ausgearbeiteten – Pläne, welche die Tschechoslowakei nicht betrafen, erhalten hatte, muss aufgrund des heutigen Forschungsstandes als unwahrscheinlich bezeichnet werden.97 Viel plausibler ist, dass Šejna vom Operationsbefehl des Warschauer Vertrags in vertraulichen Gesprächen gewisse Bruchstücke erfahren, maximal die tschechoslowakischen Teilaufträge gekannt und sonst von seinem Wissen aus der Generalstabsausbildung und den verschiedenen Übungen profitiert hatte.
Schliesslich gibt es in Šejnas Buch auch inhaltlich diverse Inkonsistenzen. Unglaubwürdig scheint beispielsweise die Schilderung des angeblich beinahe demokratischen Zustandekommens des Entschlusses zur Ausarbeitung eines strategischen Gesamtplans des Warschauer Vertrags. Die Behauptung, dass im Fall einer Eroberung Westdeutschlands die Entstehung eines gesamtdeutschen Staates hätte vermieden werden sollen, widerspricht den bekannt gewordenen NVA-Dokumenten. Hinsichtlich seiner Aussagen zur Schweiz ist leider der angebliche Meinungsumschwung von 1963, die schweizerische Neutralität nicht mehr zu respektieren, nicht begründet. Auch die Besetzung der Hauptzentren der Schweiz innerhalb der ersten drei Kriegstage und der Einsatz von wertvollen Fallschirmtruppen noch vor der Eroberung Frankreichs sind strategisch widersinnig. Sinnvoll wäre bloss eine Besetzung der für eine Operation gegen Deutschland und Frankreich wichtigen Gebiete aus der Luft gewesen; alles andere ist eine Verschwendung von unersetzbaren Kräften. Als seltsam zu bezeichnen ist ferner die anschliessende Bemerkung bezüglich der Besetzung der Schweiz im Fall eines «lokalen Krieges» in Deutschland, das heisst eines auf Deutschland beschränkten Konfliktes. Wenn etwas die östlichen Truppen in dieser Situation zum Einmarsch in die Schweiz veranlasst hätte, dann doch wohl eher ein befürchteter Flankenstoss der Nato durch die Schweiz. Eine Gefahr, die von irgendwelchen «Faschisten» hätte ausgehen können, welche in der Eidgenossenschaft Zuflucht gesucht hätten und nicht interniert worden wären, scheint sehr gesucht. Diese grundsätzliche Kritik teilt auch Milan Macák in seinem neuesten, Tschechisch geschriebenen Buch mit dem aussagekräftigen Titel «Das Doppelgesicht eines Hazardspielers. Jan Šeina unter der Lupe der militärischen Gegenspionage».98
Ein weiterer «Überläufer», auf den in der Vergangenheit gerne verwiesen wurde, um die Existenz östlicher Angriffspläne gegen die Schweiz zu belegen, war Vasilij Nikitič Mitrochin, ein ehemaliger Major und Archivar des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Mitrochin hatte sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR mit Kopien von KGB-Dokumenten beim englischen Geheimdienst MI6 gemeldet und war anschliessend mit rund 25 000 Seiten Material nach Grossbritannien gebracht worden. Ab 1999 erschienen verschiedene Bücher über das «Mitrochin-Archiv»99, die unter anderem auch brisante Informationen zur Schweiz enthielten. Für Aufsehen sorgte insbesondere das Bestehen geheimer Waffendepots. Im Rahmen der vorliegenden Studie kommt den Auskünften und Akten Mitrochins nur sehr beschränkte Bedeutung zu, da sie einen späteren Zeitraum als die hier interessierende Forschungsperiode betreffen. Unlängst hat Daniele Ganser die Geheimoperationen der Nato analysiert.100 Die westlichen Dienste vermögen aufgrund dieser Darstellung den Vergleich mit ihren östlichen Kollegen problemlos zu bestehen.
Aufbau der Studie
Aufgrund unserer Forschungsfragen, des bisherigen Forschungsstandes und der Quellenlage in den Archiven wurde folgender Aufbau der Studie gewählt:
– In einem ersten allgemeinen Einführungsteil werden die Grundzüge der kommunistischen Ideologie dargestellt. Schlüsselbegriffe wie beispielsweise Krieg, Friede und Neutralität werden aus marxistisch-leninistischer Sicht definiert.
– Diese begrifflich-ideologische Grundlage wird mit der vorwiegend auf Sekundärliteratur basierenden Analyse der Militärpolitik und der Militärdoktrin der Sowjetunion und des Warschauer Vertrags in unserer Forschungsperiode konkretisiert. Dadurch wird die Basis für das Verständnis der verschiedenen Planungen des östlichen Militärbündnisses geschaffen. Der Beschreibung der politischen Ereignisse wird kein grosses Gewicht beigemessen; es sei denn, sie stünden in einem direkten Zusammenhang mit der militärischen Planung.
– Im zentralen dritten Teil wird das Bild der Schweiz aus östlicher Sicht in verschiedenen Facetten gemalt. Insbesondere geht es um die Wahrnehmung der Schweiz aufgrund der Berichte von östlichen Diplomaten und um die Glaubwürdigkeit der Schweizer Neutralität. Grundlage zu diesem Teil bildet die Dissertation Nevals.
– Am Beispiel weniger ausgewählter Dokumente soll im vierten Teil das schweizerische «Feindbild» fassbar gemacht werden, um die Grundlage zu schaffen, die konkreten Planungen mit diesem zu konfrontieren.
– Ebenfalls als Frucht von Archivstudien werden anschliessend im forschungsmässig gewichtigen fünften Teil die zugänglichen militärischen Planungen des Warschauer Vertrags gegen Westeuropa detailliert dargestellt und insbesondere die Betroffenheit der Schweiz im westeuropäischen Kontext untersucht.
– Daraufhin wird im sechsten Teil der nachrichtendienstliche Aspekt aus schweizerischer Optik, das heisst aufgrund der uns zugänglichen Spionageprozesse, beleuchtet. Diese Ergebnisse werden mit den leider nur noch spärlich vorhandenen Dokumenten in östlichen Archiven verglichen und ergänzt.
– Im argumentativen Schlussteil sollen vor allem die drei Forschungsfragen beantwortet werden.
Die Darstellung der einzelnen Teile erfolgt chronologisch. Dabei wird die Periode von 1945 bis 1966 grundsätzlich in drei Hauptphasen unterteilt, nämlich in die Regierungszeiten der drei sowjetischen Parteiführer in der uns interessierenden Epoche: die Ära von Josef Stalin (1945–1953), diejenige von Nikita Chruščev (1953–1964) und die ersten beiden Jahre der Ära von Leonid Brežnev.101
Um die Entwicklung der Militärdoktrin der Sowjetunion und des Warschauer Vertrags aufzuzeigen, macht es – wie gezeigt werden wird – Sinn, die Ära Chruščevs zusätzlich in eine erste und eine zweite Phase zu unterteilen. Als Übergangszeitpunkt kann dabei Ende 1959/Anfang 1960 festgemacht werden, als Chruščev die dominierende Rolle der strategischen Nuklearwaffen proklamierte und als der Warschauer Vertrag von einer politischen Allianz in einen Militärpakt transformiert wurde. Ausserdem muss die «Chruščev-Phase II» zeitlich bis etwa 1966 ausgedehnt werden, zeichnete sich doch erst dann wieder eine Veränderung bezüglich der Militärdoktrin ab.
Feiner strukturiert werden kann der Zeitraum zwischen 1945 und 1966 ferner durch die ereignisgeschichtlichen Höhepunkte des Kalten Kriegs: 1945 Kriegsende, 1948/49 erste Berlinkrise (nach dem Prager Umsturz im Februar 1948), 1953 Tod Stalins, 1956 Doppelkrise, 1958 bis 1961 zweite Berlinkrise, 1962 Kubakrise. Nach östlicher Optik müsste eine sinnvolle Periodisierung wohl bis 1968, bis zum gewaltsamen Ende des Prager Frühlings, erweitert werden; für das Projekt zur Erforschung der Geschichte des Schweizerischen Generalstabs ist jedoch das eidgenössische Schlüsseljahr 1966 als Endpunkt gewählt worden.
Die Studie wird ergänzt durch eine Liste der verwendeten Abkürzungen, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister. In einer beigelegten CD und DVD sind diverse Dokumente, Karten und Filmmaterial zur Vertiefung von Einzelthemen verfügbar.