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1.4 Die marxistisch-leninistischen Ansichten bezüglich Neutralität

1.4.1 Marx’, Engels’ und Lenins Neutralitätsverständnis

Die Väter des Marxismus-Leninismus sahen für das Konzept der Neutralität in ihrer Ideologie keinen Platz.300 Ihrer Auffassung nach konnte im unausweichlichen Kampf zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen keine neutrale Position eingenommen werden; alle Menschen mussten entweder die eine oder die andere Seite unterstützen. Wenn jemand im Klassenkampf zwischen «Proletariat» und «Bourgeoisie» nicht auf der Seite des «Proletariats» stand, dann half er in Marx’, Engels’ und Lenins Augen automatisch dem Klassenfeind. Mit anderen Worten, es galt das Motto: «Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.» Lenin brachte diese Überzeugung im November 1917 wie folgt gegenüber dem russischen Eisenbahnerverband, der sich nach der Oktoberrevolution für neutral erklärt hatte, zum Ausdruck: «Wenn man in Tagen des revolutionären Kampfes, wo jede Minute kostbar ist, wo Nichtübereinstimmung, Neutralität dem Feind die Möglichkeit gibt, das Wort zu ergreifen und sich Gehör zu verschaffen, nicht dem Volke in seinem Kampfe für seine heiligsten Rechte zu Hilfe eilt, so kann ich eine solche Haltung auf keinen Fall als Neutralität bezeichnen. Das ist nicht Neutralität, ein Revolutionär wird das als Aufwiegelung bezeichnen. (Beifall) Mit einer solchen Haltung hetzt ihr die Generale zur Aktion auf. Unterstützt ihr uns nicht, so seid ihr gegen das Volk.»301


Abb. 15: Die Schweizer Neutralität aus sowjetischer Sicht: eine Milchkuh des Hitlerregimes. Karikatur der «Tass» Nr. 1128, wahrscheinlich 1944/45. (NZZ, 18.3.1996, Nr. 65)

Mit der gleichen Argumentation wandte sich Lenin gegen die Neutralität von Staaten: Als während des Ersten Weltkriegs die Mehrheit der Schweizer Sozialdemokraten die Meinung vertrat, die schweizerische Neutralität müsse mit bewaffneten Mitteln verteidigt werden, wurde dies von Lenin massiv kritisiert. Er erklärte, eine militärische Besetzung der Landesgrenzen erhöhe bloss die Gefahr, dass die Schweizer Bourgeoisie die eigenen Leute an diese oder jene imperialistische Mächtekoalition verkaufe. Wer als Sozialist nicht vor dieser Gefahr warne, werde zu einem «Diener und Agenten der Bourgeoisie».302 Lenin forderte deshalb die «Aufklärung der Massen über die Tatsache […], dass die sogenannte ‹Neutralität› bürgerlicher Betrug oder Heuchelei ist, dass sie faktisch passive Unterwerfung unter die Bourgeoisie und passive Unterstützung ihrer besonders schändlichen Unternehmungen, wie z. B. des imperialistischen Kriegs, bedeutet.»303

1.4.2 Die Anpassung des marxistisch-leninistischen Neutralitätsverständnisses an die Bedürfnisse des Sowjetstaates durch Lenin

Nachdem Lenin in Russland die Macht übernommen hatte, sah er sich durch zwei Umstände und eine Erkenntnis zu einer Abkehr von seiner bisherigen strikten Ablehnung der Neutralität veranlasst.304 Die beiden Umstände bestanden zum einen aus der Tatsache, dass das militärische Potential des jungen Sowjetstaats bedeutend geringer war als jenes der kapitalistischen Staaten, und zum anderen aus der sich aus der marxistisch-leninistischen Ideologie ergebenden These, dass die kapitalistischen Staaten sich früher oder später zusammenschliessen würden in der Absicht, den einzigen kommunistischen Staat der Welt zu zerstören. In dieser Situation erkannte Lenin, dass das Konzept der Neutralität vorübergehend von Vorteil sein konnte für den Sowjetstaat – nämlich dann, wenn es gelang, kapitalistische Staaten zu «neutralisieren» und so von der Teilnahme an einer antisowjetischen Angriffskoalition abzuhalten.

Entsprechend dieser Neueinschätzung unterstützte die sowjetische Führung 1920 die Bestrebungen Estlands und Litauens zur Erlangung des Status der «immerwährenden Neutralität». «Immerwährend neutral» zu sein, bedeutete aus Sicht der Sowjets ebenso wie in den kapitalistischen Ländern, dass ein Staat sich in Kriegszeiten nicht an den Kriegshandlungen beteiligte und zusätzlich in Zeiten des Friedens keinerlei Aktionen unternahm oder zuliess, welche ihn im Fall eines Kriegs in den Konflikt hineingezogen hätten. Letzteres hiess konkret, dass dieser Staat sich keinem Militärbündnis anschliessen und sein Territorium weder als Basis für fremde Truppen noch als Aufbewahrungsort für ausländische Waffen und Ausrüstung zur Verfügung stellen durfte. Wären diese Einschränkungen für Estland und Litauen in Kraft getreten, dann wären in einer Region, von der aus wichtige sowjetische Städte wie Leningrad und Smolensk leicht angegriffen werden konnten, zwei «neutralisierte» Pufferzonen entstanden – und dementsprechend hätten sich die Sowjets deutlich weniger bedroht fühlen müssen. Noch vorteilhafter wäre die Lage für die Sowjetunion natürlich gewesen, wenn sich auch der dritte baltische Staat, Lettland, für «immerwährend neutral» erklärt hätte. Lettland interessierte sich jedoch nicht für diesen Status. Letztlich wurde übrigens keiner der baltischen Staaten «immerwährend neutral», da die Westmächte aus strategischen Gründen nicht bereit waren, diesem Schritt zuzustimmen.

1.4.3 Die Entwicklung des marxistisch-leninistischen Neutralitätsverständnisses während der Stalin-Zeit

Die Bemühungen der Sowjetunion, die Wirkung von Neutralität zu ihren Gunsten auszunützen, wurden während der Herrschaft Stalins fortgesetzt:305 In den 1920er- und 1930er-Jahren, als die Sowjetunion militärisch weiterhin relativ schwach und die Furcht vor einem kapitalistischen Angriff deshalb noch immer gross war, zielten die diplomatischen Aktivitäten der sowjetischen Führung in erster Linie darauf ab, so viele Staaten wie möglich – und speziell all jene, die eine gemeinsame Grenze mit der UdSSR hatten – zur Unterzeichnung von Nichtangriffs- und Neutralitätsverträgen mit ihr zu bewegen. Den Sowjets ging es dabei hauptsächlich darum, von potentiell feindlichen Ländern die Zusicherung zu erhalten, dass diese keiner politischen oder militärischen Allianz beitraten, welche gegen die Sowjetunion gerichtet war, und sich auch nicht an einem Finanz- oder Handelsboykott gegen die UdSSR beteiligten. Mit anderen Worten: Die Sowjets versuchten möglichst viele Staaten dazu zu bringen, sich gegenüber der Sowjetunion im Sinn der «immerwährenden Neutralität» zu verhalten. Die hinter diesem Vorgehen stehende Absicht war, eine Art «Vorwarnsystem» aufzubauen, welches es der sowjetischen Führung ermöglichte, frühzeitig Massnahmen gegen eine feindliche Aggression zu ergreifen: Hätte beispielsweise ein an die UdSSR angrenzendes Land durch den Beitritt zu einem antisowjetischen Militärbündnis das Neutralitätsabkommen verletzt, so hätte dies der Sowjetunion noch nicht unmittelbar geschadet, da ja nicht mit einem sofortigen Angriff dieses Bündnisses zu rechnen gewesen wäre. Vielmehr konnte davon ausgegangen werden, dass zwischen dem Abschluss des Bündnisvertrags und dem Beginn einer Invasion in die Sowjetunion Wochen, vielleicht sogar Monate vergingen. Diese «Vorlaufzeit» hätte die sowjetische Führung aber nützen können, um Gegenmassnahmen durchzuführen: Sie hätte zum Beispiel das besagte Land mittels einer eigenen Angriffsdrohung zwingen können, den Vertragsbruch rückgängig zu machen; und falls dieser Schritt erfolglos geblieben wäre, hätte sie in das Land einmarschieren und es besetzen können, noch bevor dessen kapitalistische Bündnispartner ihm hätten zu Hilfe kommen können.

Die Tatsache, dass Stalin den Abschluss von Neutralitätsabkommen mit anderen Staaten anstrebte, bedeutete nicht, dass er die Neutralität als politische Institution nun generell positiv beurteilte. Im Gegenteil: Das Neutralitätsrecht wurde in der Sowjetunion weiterhin als eine kapitalistische Entwicklung betrachtet und entsprechend kritisch bewertet. Gemäss der «Grossen Sowjetenzyklopädie» aus dem Jahr 1939 war die Neutralität in der Epoche des Imperialismus zu einer speziellen Form der unbewaffneten Teilnahme an einem Krieg geworden: Die Neutralität habe sich «im gegenwärtigen imperialistischen System nicht nur als eine gefährliche Illusion erwiesen, da sie in Wirklichkeit keineswegs den Einbezug der neutralen Staaten in den Krieg abwenden konnte, sondern sie erweist sich als Duldung von Aggression, als Faktor, welcher die Entfesselung von Kriegen stimuliere».306 Als Beleg für diese Aussage wurde auf die von den USA praktizierte Neutralitätspolitik gegenüber dem franquistischen Spanien sowie gegenüber der japanischen Aggression in China verwiesen. Angesichts solch deutlich geäusserter Kritik an der «kapitalistischen Neutralität» mussten die Sowjets ihr eigenes Interesse an der Neutralität natürlich klar von der Neutralitätspolitik kapitalistischer Länder abgrenzen. So behaupteten sie, die Neutralität habe in der Politik der UdSSR eine ganz andere Bedeutung erhalten: «Das prinzipiell neue Wesen unserer Verträge findet seinen Ausdruck in erster Linie darin, dass sie der Aufgabe des Kampfes gegen die Aggression untergeordnet sind. Die Verpflichtung der Neutralität tritt in unseren Verträgen als der Verpflichtung zum Nichtangriff untergeordnet hervor, als diese Verpflichtung ergänzend und sie entwickelnd.»307

Der Zweite Weltkrieg setzte den sowjetischen «Experimenten» mit der Neutralität ein Ende. Die Sowjets beschäftigten sich während des Kriegs nur noch insofern mit Neutralität, als sie das Verhalten von «immerwährend neutralen» Staaten wie der Schweiz und Schweden als nicht «absolut neutral» kritisierten.

Nach dem Ende des Kriegs jedoch erblickte die sowjetische Führung angesichts der Formierung und Verfestigung eines westlich-kapitalistischen und eines östlich-kommunistischen Blocks, welche die Weltpolitik zu dominieren begannen, in der Neutralität plötzlich wieder ein Mittel, das der Sowjetunion unter Umständen nützlich sein konnte. Falls nämlich ein Land, welches bis anhin dem kapitalistischen Lager angehört hatte oder zwischen den beiden Blöcken umstritten gewesen war, neutral wurde, so konnte dadurch wenn auch nicht direkt der sowjetische Einfluss verstärkt, so doch zumindest eine Schwächung des feindlichen Lagers erreicht werden. Genau dieses letztere Ziel verfolgte Stalin mit seinem im März 1952 vorgebrachten Vorschlag zur «Neutralisierung» Deutschlands: Der Vorschlag bildete einen Versuch, die zu jenem Zeitpunkt im Westen stattfindenden Verhandlungen um die Wiederbewaffnung Westdeutschlands im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu torpedieren und generell die Eingliederung der Bundesrepublik in die militärischen Strukturen des Westens zu verhindern.308 Der sowjetische Plan scheiterte, da die Westmächte die Absicht der Sowjets durchschauten und die «Neutralisierung» Deutschlands ablehnten.

1.4.4 Die Entwicklung des marxistisch-leninistischen Neutralitätsverständnisses während der Chruščev-Zeit

Unter Chruščev nahm das Interesse der Sowjetunion am Konzept der Neutralität im Zusammenhang mit der Politik der Friedlichen Koexistenz weiter zu.309 Es wurden nun vor allem die positiven Aspekte der Neutralität hervorgehoben: «Die historische Erfahrung», so Chruščev, «lehrt uns, dass einige Staaten, welche während des Kriegs eine neutrale Politik führten oder sich nicht an den militärischen Blöcken beteiligten, dadurch geholfen haben, den Völkern ihrer Länder Sicherheit zu gewähren, und insgesamt eine positive Rolle in der Welt gespielt haben. Eine solche Politik entspricht den nationalen Interessen jener Staaten, erhöht die Sicherheit und zwingt sie nicht zu einer überflüssigen und vergeblichen Verschwendung von Produktivkräften für militärische Ausgaben. Bereits viele Jahrzehnte geniessen zum Beispiel die Schweiz und Schweden alle Vorzüge der Neutralität. Eine wichtige Rolle im Kampf für den Frieden und die Sicherheit spielen auch solche Staaten wie Indien, Burma, die Vereinigte Arabische Republik, Kambodscha und andere Länder, welche die Teilnahme an einem militärischen Block ablehnen. Ihr Standpunkt trifft auf Verständnis und Sympathie.»310 Der Grund dafür, dass Chruščev die Neutralität derart positiv darstellte, lag darin, dass er in ihr ein Mittel sah, um trotz der nun gültigen Doktrin der «Friedlichen Koexistenz» das westliche Lager beträchtlich zu schwächen. Dementsprechend befürwortete und förderte er intensiv die «Neutralisierung» westlich beeinflusster Staaten, keineswegs jedoch – wie 1956 in Ungarn deutlich wurde – Bestrebungen in Richtung Neutralität von Staaten aus dem sowjetischen Einflussbereich.

Während der ersten Phase der Herrschaft Chruščevs, bis Ende der 1950er-Jahre, richtete sich das sowjetische Interesse hauptsächlich auf die Konzeption der «immerwährenden Neutralität»: Einerseits beobachteten die Sowjets mit Argusaugen das Verhalten derjenigen Staaten, welche bereits «immerwährend neutral» waren, wie die Schweiz und Schweden. Falls sie eine neutralitätspolitische Verfehlung solcher Länder zu erkennen glaubten, kritisierten sie diese umgehend. Besonders heftig fiel die sowjetische Kritik aus, als sowohl die Schweiz als auch Schweden im Übergang von den 1950er- zu den 1960er-Jahren die Anschaffung von Nuklearwaffen für ihre Truppen in Erwägung zogen. Aus Sicht der Sowjets war ein solcher Schritt mit dem Status der «immerwährenden Neutralität» ganz und gar unvereinbar, da sich diese Staaten dafür unweigerlich in eine zu grosse Abhängigkeit von einer der grossen Nuklearmächte hätten bringen müssen.311 Andererseits versuchte die sowjetische Führung weiterhin, Staaten, welche ganz oder teilweise unter westlichem Einfluss standen, zu «neutralisieren». Im Fall Österreichs waren die entsprechenden Bemühungen erfolgreich: 1955 wurde zwischen den bisherigen Besetzungsmächten USA, UdSSR, Frankreich und Grossbritannien und der österreichischen Regierung ein «Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich» unterzeichnet, mit dem die anschliessende Erklärung der «immerwährenden Neutralität» durch dieses Land verbunden war. Für die Sowjetunion bedeutete ein neutrales Österreich einen beträchtlichen Vorteil in militärischer Hinsicht, denn dadurch, dass die Truppen der Westmächte das österreichische Territorium nun nicht mehr benützen konnten, wurde deren bis anhin direkteste Verbindung zwischen Westdeutschland und Italien unterbrochen. Während die Nato also eine Schwächung erlitt, veränderte sich für die Sowjets die Situation kaum: Der Abzug ihrer Truppen aus dem östlichen Teil Österreichs war für sie militärisch ohne grosse Bedeutung, zum einen, weil es südlich von Österreich keinen zum sowjetischen Einflussbereich gehörenden Staat gab, zum anderen, weil Truppenbewegungen zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn auch ohne Zugang zu österreichischem Territorium problemlos möglich waren.312 Für die sowjetische Führung stellte Österreich fortan das Musterbeispiel eines «immerwährend neutralen» Staates dar. Trotzdem betrachtete sie dieses Land nicht in jeder Hinsicht als neutral, denn Österreich gehörte von seinem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem her ja klar zur kapitalistischen Welt. Einen weiteren Versuch zur «Neutralisierung» eines Staates unternahmen die Sowjets Ende der 1950er-Jahre: Sie nützten die Diskussion um eine Revision des amerikanisch-japanischen Zusammenarbeits- und Sicherheitsvertrags zur Lancierung entsprechender Vorschläge für Japan aus. Der Grund für den sowjetischen Wunsch nach einem neutralen Japan lag auf der Hand: Die dort stationierten amerikanischen Truppen hätten in diesem Fall das Land verlassen müssen, wodurch die aus sowjetischer Sicht von diesen Truppen ausgehende Bedrohung für den Fernen Osten der UdSSR nicht mehr länger bestanden hätte. Die Bestrebungen in Richtung einer «immerwährenden Neutralität» Japans hatten jedoch keinen Erfolg; die Amerikaner blieben in Japan militärisch präsent.

Zu Beginn der 1960er-Jahre verlagerte sich das Interesse der Sowjets vom traditionellen Konzept der «immerwährenden Neutralität» mehr und mehr auf die neue Bewegung der sogenannten «Blockfreien».313 Mit diesem Begriff wurden jene Länder bezeichnet, die keinem Militärblock angehörten, sich im Ost-West-Konflikt neutral verhielten und auch in wirtschaftlicher Hinsicht einen «dritten Weg» einschlagen wollten. Da es sich dabei fast ausschliesslich um ehemalige Kolonien von kapitalistischen Mächten handelte, glaubten die Sowjets, die Stärkung und Vergrösserung der Blockfreienbewegung würde unweigerlich zur Schwächung des westlichen Lagers führen. Dies erstens dadurch, dass die Territorien der blockfreien Staaten den Westmächten nicht mehr länger für Militärbasen zur Verfügung standen, zweitens dadurch, dass die Blockfreien «antiwestliche» Politiken – wie die Verurteilung von Kolonialismus und Rassendiskriminierung sowie die Forderung nach Abrüstung – betrieben, und drittens dadurch, dass die Blockfreien auf Kosten des Westens immer stärkeren Einfluss in der UNO gewannen. Angesichts dieser für das sozialistische Lager vorteilhaften Entwicklungen beurteilten die Sowjets das Konzept der Blockfreiheit, welches oft auch «positive Neutralität» oder «Neutralismus» genannt wurde, sehr positiv: «Staaten, welche eine Politik der Bündnisfreiheit verkünden oder den Status der Neutralität annehmen, lehnen es ab, in einen organisierten imperialistischen Militärblock einzutreten, ihr Territorium ausländischen Militärbasen zur Verfügung zu stellen; sie führen eine friedliebende Aussenpolitik. Dadurch erweitern diese Staaten, welche auf dem Weg der Neutralität gehen, die Zone des Friedens, welche Staaten umfasst, in denen mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt.»314 Entsprechend dieser positiven Einschätzung versuchten die Sowjets, die Blockfreienbewegung zu fördern. Damit verbunden war nicht zuletzt die – auf der marxistisch-leninistischen Ideologie beruhende – Hoffnung beziehungsweise Überzeugung, dass die Blockfreiheit für die vom «Joch der Imperialisten» befreiten früheren Kolonien nur ein Zwischenstadium vor dem historisch unvermeidlichen Übergang zum Sozialismus darstellte.

1.4.5 Die Entwicklung des marxistisch-leninistischen Neutralitätsverständnisses während der Brežnev-Zeit315

Nach dem Sturz Chruščevs änderte sich an der sowjetischen Einstellung zur Neutralität und zur Blockfreiheit vorerst nichts.316 Diese Konzepte wurden im Rahmen der Realisierung der Friedlichen Koexistenz weiterhin befürwortet: «Der moderne Neutralitätsbegriff richtet sich begrifflich gegen Kriegsvorbereitung und Krieg. Er verneint jede Politik der ‹Stärke› und des ‹kalten Kriegs› in den zwischenstaatlichen Beziehungen und ist ein wichtiges Instrument zur Sicherung der friedlichen Koexistenz von Staaten mit verschiedenen Staats- und Gesellschaftsordnungen.»317 Gegenwärtig finde die Neutralität ihren Ausdruck am häufigsten in der Blockfreiheit, «der einseitig erklärten Neutralitätspolitik, welche von einer beachtlichen Zahl von Staaten geführt wird.»318

Ab Ende der 1960er-Jahre jedoch scheint die sowjetische Führung langsam das Interesse an der Instrumentalisierung der «immerwährenden Neutralität» und – vor allem – der Blockfreiheit zur Erreichung bestimmter aussenpolitischer Ziele verloren zu haben. Der Grund dafür dürfte die den Sowjets offenbar bewusst gewordene Tatsache gewesen sein, dass die Blockfreienbewegung auf der internationalen Ebene nicht jene einschneidenden Veränderungen zu Gunsten des Ostblocks bewirkte, welche unter Chruščev zu Beginn der 1960er-Jahre erwartet worden waren. Das sich abschwächende Interesse an der Neutralität hatte zur Folge, dass diesem Konzept in den sowjetischen Wörterbüchern immer weniger Platz eingeräumt wurde, ja dass es teilweise gar nicht mehr erwähnt wurde – ein an sich logischer Vorgang, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Neutralität etwas dem Marxismus-Leninismus eigentlich Fremdes war.

1.4.6 Fazit

Die Vertreter des Marxismus-Leninismus hielten die Einnahme einer neutralen Position in dem von ihnen als zentral angesehenen Kampf zwischen den Klassen grundsätzlich für unmöglich, das heisst, sie lehnten die Neutralität ab. Nach der Entstehung des Sowjetstaates stellten sie jedoch fest, dass das Konzept der Neutralität unter gewissen Umständen vorteilhaft sein konnte für dieses erste sozialistische Land. Wenn sich nämlich ein kapitalistischer Staat – in jede Richtung oder zumindest gegenüber der Sowjetunion – für neutral erklärte, dann bedeutete dies eine Schwächung der kapitalistischen Staatenwelt als Ganzes und damit eine Verringerung der von dieser vermeintlich ausgehenden Aggressionsgefahr. Die Sowjets versuchten in der Folge, diese «unneutralen» Auswirkungen von Neutralität zu ihren Gunsten auszunützen. So initiierten oder unterstützten sie immer wieder Bestrebungen zur «Neutralisierung» von Staaten, die dem westlich-kapitalistischen Lager angehörten. Die Förderung neutraler Haltungen im internationalen Kontext wurde zeitweise – wie Krieg und Frieden – zu einem wichtigen Mittel der sowjetischen Aussenpolitik. Allerdings konnte die Anwendung dieses Mittels der UdSSR jeweils bloss beschränkten Nutzen bringen: Sie konnte es ermöglichen, ein Territorium dem Einfluss des gegnerischen Lagers zu entziehen, nicht jedoch, dieses Territorium auf die Seite des Sozialismus zu bringen, was ja das eigentliche Ziel der Kommunisten war. Deshalb förderten die Sowjets die Neutralität nur dann, wenn sie sich in einer Position der Schwäche befanden und beispielsweise die Führung eines Kriegs keine Option für sie war.

Die Marxisten-Leninisten hegten also niemals Sympathie für das Konzept der Neutralität als solches, sondern lediglich für die Vorteile, die der Sowjetunion beziehungsweise der kommunistischen Bewegung daraus erwachsen konnten. Falls eine Neutralität nicht zum Vorteil der UdSSR war – wie im Fall Ungarns 1956 – , dann lehnten sie diese ab.

Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?

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