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Der Prozess der Entfesselung

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Ungezählte Zufälle waren nötig, um den Menschen entstehen zu lassen, nicht nur der Asteroideneinschlag vor 65 Millionen Jahren, der das Zeitalter der Dinosaurier beendete und den Weg frei machte für die Säugetiere, aus deren Familie sich der Mensch entwickelte. Plattenverschiebungen der Erdoberfläche verbunden mit klimatischen Veränderungen in Ostafrika waren erforderlich, den auf Bäumen lebenden Vormenschen wegen Verschwindens des Urwaldes in die Steppe und zum aufrechten Gang zu zwingen. Hunderttausende von Jahren vergingen, bis der Mensch lernte, seine Greifhände, eigentlich zum Festhalten an Ästen geschaffen, zu nutzen um Werkzeuge und Jagdwaffen herzustellen. Vierzigtausend Jahre vor unserer Zeitrechnung musste es werden, bevor er die ersten Kunstwerke schuf, sechstausend Jahre, bis er die ersten Schriftzeichen erfand, dreitausend Jahre, bevor im antiken Griechenland ein Umfeld entstand, das eine Mathematik und Physik auf wissenschaftlichem Stand ermöglichte.

In den Stadtdemokratien des antiken Griechenland und des griechischen Süditalien wie auch in der Geistesmetropole Alexandria im Ägypten der griechischen Ptolemäer herrschte Geistesfreiheit. Jeder konnte denken, was er wollte, konnte philosophieren, die Sterne studieren, rechnen und mechanisch experimentieren, wie er wollte. Große Geister traten auf den Plan, die diese Welt zu erklären versuchten. Sie nannten sich Philosophen, heute würden wir sie als Vertreter der theoretischen Physik bezeichnen, wie Albert Einstein es war. Seine Relativitätstheorie war zu Beginn auch nur eine Theorie wie die Theorien der antiken Philosophen.

Phythagoras (580 - 496 v. Chr.) steht am Anfang des Reigens der Philosophen. Aus seiner Schule stammt der Lehrsatz a² + b² = c². Seine Schüler führten die Eigenschaften aller Dinge auf zahlenmäßige Verhältnisse zurück.

Ihm folgte kurz darauf Heraklit (540 – 480 v. Chr.). Von ihm stammt der Satz „Alles fließt“ (Panta rei). Heute wissen wir, dass das Geschehen im Kosmos ein Prozess ist. Zweieinhalbtausend Jahre waren erforderlich, um zu dieser Gewissheit zu gelangen. Heraklit hat diese Gewissheit bereits als Theorie formuliert.

Empedokles (490 – 430 v. Chr.) entwarf die Theorie, dass Werden und Vergehen auf Vermischung von Elementen beruhe. Elemente, er konnte sich als solche nur Feuer, Wasser, Erde und Luft vorstellen, bestimmten durch ständige Begegnung und Vermengung den Prozess der Natur.

Anaxagoras (499 – 427 v. Chr.) lehrte, die Sonne sei eine glühende Kugel. Das Werden und Vergehen erklärte er mit der Theorie, dass unendlich viele kleine Teilchen (Samen) miteinander prozessierten.

Leukippos (um 480 v. Chr.) begründete die Theorie, dass sich alle Veränderungen durch Verbindung und Trennung qualitativ nicht verschiedener Teilchen vollzögen.

Sein Schüler Demokrit (460 – 370 v. Chr.) führt den Gedanken fort. Er vertrat die Ansicht, dass die Welt aus unteilbaren Teilchen (atomos) aufgebaut sei, die qualitativ gleich, quantitativ ungleich seien.

Aristoteles (320 – 250 v. Chr.) entwarf als erster ein heliozentrisches Weltbild, lehrte die Bewegung der Erde um die Sonne, versuchte die Entfernung der Sonne und des Mondes von der Erde zu bestimmen.

Eratostenes (275 – 195 v. Chr.) berechnete durch Messung des Schattenwurfs der Sonne in zwei weit voneinander liegenden Brunnen im Niltal den Umfang der Erde mit 40.000 Kilometern annähernd richtig.

Archimedes (285 – 212 v. Chr.) ersann die Methode, den Kreisumfang zu berechnen, fand die Gesetze des Schwerpunktes, der schiefen Ebene, des Hebels, des Auftriebes. Archimedes, ein Tüftler wie Galileo Galilei, wurde bei der Eroberung von Syrakus auf Sizilien durch die Römer von einem Soldaten erschlagen. Rom eroberte die griechischen Demokratien.

Die Römer konnten sich für Wissenschaft nicht so recht begeistern. Man benötigte keine Erleichterung des täglichen Lebens durch technische Errungenschaften; man hatte Sklaven, für die lediglich ein Kaufpreis, ansonsten nur Kost und Logis zu zahlen waren. Eroberungen, die für Nachschub von Sklaven sorgten, waren wichtiger und interessanter. Die Nachfrage des Militärs nach technischen Erneuerungen war mäßig. Die Militärmaschine der Römer war so erfolgreich, dass sich Bedarf nach Erfindungen von revolutionärem Militärgerät nur zögernd einstellte. Ab dem zweiten Jahrhundert n. Chr. traten sie zudem nach und nach zum Christentum über. Sie hatten den Blick nun auf das Glück im Jenseits gerichtet. Wissenschaft war für sie kein wichtiges Thema.

Als der Osten und Süden des Römischen Reiches von den mohammedanischen Arabern erobert wurde, fiel ihnen das Schrifttum der antiken Griechen in die Hände, wurde sorgsam aufbewahrt und studiert, vor allem im spanischen Andalusien, das von den Arabern erobert und in ein mohammedanisches Kalifat verwandelt worden war. Cordoba wurde dessen wichtigste und größte Stadt, nicht nur als Wirtschafts- und Handelsmetropole, sondern auch als Stadt der Kultur und Wissenschaft. Der Glanz der Stadt überstrahlte auch die Städte des benachbarten christlichen Abendlandes. Von Cordoba aus gelangten die Schriften der antiken Griechen zunächst nach Frankreich, wo sie von gelehrten Mönchen an der Universität Paris übersetzt wurden. Besonders die Schriften der griechischen Philosophen Platon und Aristoteles fanden begeisterte Aufnahme. Von Paris brachte sie Albert von Bollstädt, später Albert der Große genannt, nach Köln. Der Dominikanermönch hatte in Paris studiert, war dort später Dozent für Theologie und Philosophie.

Albertus Magnus, so sein lateinischer Name, studierte die griechischen Philosophen wie kein anderer und setzte dem Werk des Aristoteles ein eigenes Werk zur Seite, das Aristoteles interpretierte und ein aristotelisches Denkgebäude für die Kirche entwarf, das an Umfang und Wirkkraft dem des Aristoteles kaum nachstand.

Er hatte auch von den naturwissenschaftlichen Schriften der antiken Griechen Kenntnis genommen, studierte diese sorgfältig, machte sich systematisches naturwissenschaftliches Arbeiten zu eigen, das alsbald in Klöster und Domschulen Eingang fand.

Kurz darauf wuchs in Italien eine Generation großer Dichter heran: Francesco Petrarca, Dante Allighieri und Giovanni Bocaccio. Ihre Werke wurden im ganzen Abendland gelesen. Ihnen verdanken wir, dass die Einstellung der antiken Griechen, der Mensch habe die Freiheit, sich selbst zu verwirklichen und seine Persönlichkeit frei zu entfalten, im Abendland Einzug hielt.

Petrarca fällt darüber hinaus das Verdienst zu, die Erinnerung an das klassische nicht christliche Rom wiederbelebt zu haben. Er wurde eifriger Sammler antiker Schriften. Dass wir heute die Werke von Vergil, Ovid, Seneca, Cicero und Cäsar lesen können, verdanken wir ihm. Seinem Sammeleifer verdanken wir auch, dass der Humanismus ein römisches Gewand erhielt und heute im großartigen Gewand der Renaissance vor uns steht.

Kaum weniger Verdienste hat in dieser Hinsicht der weniger bekannte Sammler Alessandro Pioggio. Er hatte bei seinem Tod eine größere Sammlung antiker Schriften vorzuweisen als Petrarca. Seine wichtigste Leistung war das Werk „De rerum natura“ des römischen Dichters und Philosophen Lucretius Carus, heute Lukrez genannt, in einem Kloster in Fulda aufgefunden zu haben. Für Lukrez war der Kosmos ein Raum mit unzähligen Sonnen und unzähligen Planeten, ein Gedanke, der seitdem die Köpfe der Astronomen und Mathematiker beschäftigt.

Der Dominikanermönch Nicolaus Cusanus schuf kurz darauf die geistige Grundlage für ein erweitertes Gottesverständnis. Er war ein Studienfreund des Papstes und Kurienkardinal. Niemand wagte ihn wegen seiner für die Kirche gefährlichen These zu belangen. Er vertrat die Auffassung, das christliche Gottesbild vom Ebenbild des Menschen könne nur eine von vielen Perspektiven sein. Da das menschliche Denken unvollkommen sei wie der Mensch, könne auch dieses Gottesbild nur unvollkommen sein. Erst eine Vielzahl unvollkommener Bilder biete ein annähernd vollkommenes Bild. Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden sei deshalb oberstes Gebot.

Die Humanisten interpretierten diese Argumentation als Rechtfertigung ihres Selbstbewusstseins und unterzogen das scholastische Denken der Kirche kritischer Prüfung.

In diese Zeit sich verändernden Denkens fiel die Erfindung der Buchdruckkunst. Sie verlieh durch beliebig viele Drucklegungen neuer Ideen der sich ausbreitenden Renaissance explosive Kraft. Selbst die Päpste mochten sich dem neuen Denken nicht verschließen. Sie öffneten dem Vatikanpalast und den Kirchen die Freiheit der bildenden Kunst. Bilder und Plastiken von nackten Menschen hielten Einzug in Paläste und Kirchen.

Ein Mönch aus Deutschland fand das Gebaren in Rom abstoßend. Der Augustinermönch Martin Luther hielt den Vatikan, den er besuchte, für einen Sündenpfuhl und den Peterspfennig, den der Papst für den Bau des neuen Petersdomes durch Verkauf von Ablasszetteln erhob, für kirchenrechtswidrig. Ein Ablass der Sünden, den der Papst denen versprach, die den Zettel kauften, könne nur Gott erteilen, nicht der Papst. Er heftete 95 Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg, auf denen er die Kirche zum Disput über die Unvereinbarkeiten kirchlichen Handelns mit der Bibel aufforderte. Die Thesen verbreiteten sich dank der Erfindung des Buchdrucks in kurzer Zeit in Deutschland. Der Papst erklärte den Kirchenbann über Martin Luther. Der selbstbewusste Mönch verbrannte das Bannpapier. Der Bann war gebrochen. Eine wahrhaft neue Zeit begann, eine Zeit, in der die Kirche die Herrschaft über das Denken der Menschen verlor.

Zur Zeit von Luthers Aktivitäten sollten noch zwei andere das Bild der Welt verändern, ein Astronom und ein Arzt, Nikolaus Kopernikus und Andreas Vesalius. Der Astronom erforschte die Tiefen des Kosmos, der Arzt das Innere des Menschen, bis dahin ein ebenso unerforschter Kosmos.

Der Arzt begann zu sezieren und den menschlichen Körper bis ins letzte Detail zu erkunden. Bis dahin orientierte sich die Medizin an den Werken des Griechen Galenos aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus, der sein Wissen aus der Sektion von Katzen, Hunden und Schweinen bezog und aus diesen Erkenntnissen auf den Menschen schloss, ohne in diesen hineingesehen zu haben.

Der Astronom Kopernikus aus dem ostpreußischen Frauenburg fand heraus, dass sich alle Ungereimtheiten der Berechnung der Planetenbewegungen von selbst lösen, wenn man annimmt, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt der Planetenbewegungen steht. Bis dahin wurde angenommen, dass die Erde sich im Mittelpunkt befindet.

Kopernikus wurde nicht von der Inquisition verfolgt, aber nur, weil sie wohl nichts von seinen für die Kirche gefährlichen Erkenntnissen wusste. Dann wäre die Überstellung seiner Person nach Rom wohl die unweigerliche Folge gewesen.

Dieses Schicksal ereilte den Dominikanermönch Giordano Bruno. Er hatte den von Pioggio Braccolino wiederentdeckten römischen Dichter Lukrez gelesen und war Verfechter seiner Idee geworden, dass es im Weltall ungezählte Sonnen gebe, die vom Zufall regiert sich bewegten. Er verbreitete sie, durch Europa wandernd, in nahezu allen Ländern. In Venedig ereilte ihn das Schicksal. Er wurde festgenommen und an den Vatikan ausgeliefert. Die Inquisition machte ihm einen fast zehn Jahre dauernden Prozess und ließ ihn, da er seinen Lehren nicht abschwor, verbrennen.

Einer, der sich ebenfalls zu weit vorwagte, war Galileo Galilei. Er vertrat in Florenz, wo er wirkte und in Rom, wo er sich gelegentlich aufhielt, in höchsten Kreisen die These von Nicolaus Kopernikus, dass die Erde um die Sonne kreist. Schließlich wurde es dem Papst, in dessen Gunst er sich wähnte, zu arg. Er ließ ihn durch die Inquisition von Florenz nach Rom beordern, wo ihm der Prozess gemacht wurde, an dessen Ende er vor die Wahl gestellt wurde, zu widerrufen oder den Scheiterhaufen zu besteigen. Wider besseres Wissen schwor er ab. Galilei sollte der letzte sein, der in dieser Weise bedroht wurde.

Die ihm folgenden großen Physiker, Mathematiker und Erfinder wie Huygens, Leibniz, Boyle, Hooke und Newton lebten ohne Verfolgung durch die Kirche, jedoch wohl nur, weil sie in protestantischen Ländern oder im anglikanischem England tätig waren. Auch der im katholischen Frankreich geborene Renè Descartes konnte seine Schriften ohne Einschränkung verbreiten, aber wohl nur, weil er in das zum reformatorischen Glauben übergetretene Holland umgesiedelt war. Einer, der nicht um Leib und Leben fürchten musste, aber sich um sein Ansehen und seinen Platz in der englischen Gesellschaft Sorgen machte, war Charles Darwin. Er fürchtete sich vor der Anglikanischen Kirche und vor Verspottung durch die Fachwelt. Er zögerte zwanzig Jahre lang, seine Erkenntnis zu veröffentlichen, dass sich die Natur durch Evolution entwickle.

Heute braucht kaum ein Wissenschaftler Furcht vor Religionen oder gesellschaftlicher Ächtung zu haben. Die Wissenschaft feiert ihren Siegeszug nun schon unangefochten seit mehr als hundert Jahren.

Die Entfesselung der Abendländer

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