Читать книгу Der Aufstieg des Karl Ernst Schober - Hans Ulrich Süss - Страница 7
4. Kaufmännische Verantwortung
ОглавлениеLübmüller, Schobers neuer Chef trug Verantwortung für ein größeres Arbeitsgebiet, er würde wahrscheinlich noch weitere fünf Jahre bis zu seinem Ruhestand bleiben. Deshalb bot die neue Aufgabe zunächst nur eine zeitlich entfernte Aufstiegschance. Bei seinem ersten Gespräch mit Lübmüller hatte dieser einen umgänglichen Eindruck gemacht. Er meinte, Schober sollte zunächst mal den Bereich kennen lernen und danach in Teilbereichen eigenverantwortlich Aufgaben übernehmen.
Schober gab am Abend nur gute Nachrichten an Elsbeth: "Das war ein richtig cooler Start heute morgen. Ich bin ziemlich sicher, der Lübmüller frisst mir aus der Hand. Der ist so zahm, ich glaube, der schickt Fliegen eine Warnung, bevor er nur mit der Fliegenklatsche wedelt. Der hat mir gesagt, ich soll mir in aller Ruhe mal alle Bereiche, Aufgabengebiete und Produktionsstätten ansehen, alleine dafür würde ich ein halber Jahr brauchen. Eines scheint sicher, Stress wie bei Krauth werde ich hier wohl kaum haben."
"Aber da wird doch sicher auch viel verlangt, auf der kaufmännischen Seite, die kennst Du doch noch nicht? Das kann doch nicht so einfach sein?" Elsbeth hatte Zweifel.
"Klar, das Ergebnis muss stimmen. Aber das plant der Lübmüller offenbar selbst, dem lässt der Pfleiderer wohl freie Hand. Der hat anscheinend auch keinen Druck von Unterholzer, der macht lieber in Forschung. Das hat mir früher schon mal der Heumann erzählt. Der meinte, im Grunde ist der Unterholzer zwar im Vorstand, aber im Geiste forscht der noch. Der hat 'ne Riesenfreude daran Elektronenpaare herum zu schieben und Reaktionen zu skizzieren."
"Aber Du hast doch gesagt, es werden strenge Zielvorgaben gemacht?"
"Mir hat der Lübmüller erzählt, er würde sehr konservativ planen und seine Chefs immer mit einem Ergebnis deutlich über Plan überraschen und erfreuen. Der Lübmüller scheint gerne auf der sicheren Seite zu agieren. Er vergibt Lizenzen für unsere Technologie und argumentiert, 'eine Lizenz bringt garantierte Erlöse, ein neues Geschäft aufbauen, birgt Risiken'. Damit kommt er wohl durch bei Pfleiderer und Unterholzer."
"Wieso ist das schlecht, Geld mit Lizenzen zu verdienen?"
"Schlecht ist das nicht. Es nur sehr wahrscheinlich mehr zu verdienen, wenn man ein Geschäft selbst macht. Also eigentlich verschwendet der Lübmüller Ressourcen. Aber viel eigenartiger ist die Geschichte mit der Gewinnerwartung. Erst tiefstapeln und dann gefeiert zu werden, wenn das Ergebnis besser ist, als geplant, das finde ich, ist schon einen Witz. Das zeigt doch nur, die Planung war falsch!"
"Da gibt es sicher was zu tun für Dich, Karlchen", beendete Elsbeth das Gespräch. "Heute hat Jasmin ein Lob aus der Vorschule mitgebracht. Sie hat das beste Bild von allen gezeichnet!"
Schober war mäßig interessiert. "Na gut", war sein Kommentar, "malen ist wohl kein so ganz wichtiges Fach. Mir wäre es lieber, sie würde endlich besser sprechen."
Die neue Abteilung hatte eine beachtliche Größe. Trotz des jüngsten Abbaus von Personal war dessen Anzahl immer noch hoch, stellte Schober verwundert fest. Selbstverständlich gab es mehrere product manager, denn es gab einige wichtige Produkte und Produktgruppen. Dazu gesellten sich Verantwortliche für den Vertrieb in ausgewählten Regionen, die natürlich mehrere Untergebene hatten, unter anderem auch regionale Vertreter, die regelmäßig Kunden besuchten. Es gab einen Chef der Logistik, der hatte den Kundenservice zur Auftragsbearbeitung, viele fleißige Damen, unter seiner Leitung. Es gab controlling, man musste schließlich wissen, wie viel, oder wenig, man verdient hatte. Zur Sicherung der Zukunft und des Wachstums waren für dominante Produkte weitere promovierte Herren vorhanden. Sie kümmerten sich um Kontakte zu Universitäten, lasen die Fachpresse und versuchten zu verstehen, was die Konkurrenz trieb.
Dr. Kammerl, ein Tiroler, war von Hohlenberger in die Abteilung empfohlen worden. Er sollte Brücken zu neuen Produkten und Wachstumsregionen schlagen, denn er hatte einige Jahre in New York verbracht. Dies und die Promotion an der Universität, die auch Hohlenberger besucht hatte, waren entscheidende Kriterien beim Nachweis von Kammerls Qualifikation. Trotzdem schien Kammerl ein wenig frustriert. Schon beim ersten Gespräch mit Schober äußerte er den verräterischen Satz: 'Ich fühle mich fast schon wie eine Hofschranze, mit dem wirklichen Verkauf, der realen Markt oder echten Neuerungen, hab ich nichts zu tun. Nur wenn vom Vorstand Fragen kommen, muss ich sofort hüpfen!'
Kammerl erklärte Schober auch das Problem mit den Kosten: "Unser Chef Lübmüller braucht dringend mehr Umsatz. Die Zahl unserer Mitarbeiter führt inzwischen zu sehr beachtlichen overheads. Die Preise bekommt der Vertrieb nicht hoch, da hat die Konkurrenz etwas dagegen. Also hilft nur eine neue Anlage in neuen Regionen mit mehr Produktion und verkauften Mengen. Nur das führt dazu, dass künftig Personal- und Sachkosten wieder zum Umsatz passen." Er ergänzte mit leicht gedämpfter Stimme: "Eigentlich müsste der Lübmüller auch mich in den Vorruhestand schicken." Schober verzichtete auf einen Kommentar, es war definitiv zu früh, um Positionen zu beziehen oder eine eigene Meinung zu haben. Abwarten, Signale erkennen, merken woher und wohin der Wind weht und dann mitziehen, das war sicheres agieren.
Lübmüller hatte die Verantwortung für den Bereich schon sehr lange inne und kannte seinen Markt. Eine Strafe des Kartellamtes wegen regionalen Absprachen mit der Konkurrenz hatte allerdings seine Selbstsicherheit sehr erschüttert. Er reiste kaum mehr und hatte seinen Untergebenen viele Aufgaben übertragen. Seine spirituelle Sicherheit richtete er auf, indem er sich intensiv mit der Bibel beschäftigte und den Status eines Laienpredigers erwarb. Wie Schober bei Mittagessen erfuhr, verabredeten sich mehrere seiner Kollegen zum sonntäglichen Besuch in Lübmüllers Kirche. Sie versprachen sich davon nicht nur spirituelle Vorteile. Dies galt besonders für Nußbaum, der ein Produkt mit Nischenanwendungen auf eine sehr eigene Art vertrat. Auch Schober dachte kurz über eine Teilnahme am Gottesdienst nach. Das war zwar eine Art Sekte, aber eben doch eine christliche. Er würde dafür leicht Absolution erhalten, da der Besuch dem beruflichen Aufstieg galt und eben nicht abtrünnigen Glauben zeigte. Der Zweck heiligt die Mittel. Zunächst verschob er die Entscheidung.
Wie Nußbaum agierte, hatte Schober schon am ersten Tag mitbekommen. Am frühen Nachmittag von einer Dienstreise zurückgekommen, hatte Nußbaum allen Kollegen des Großraumbüros einen Vortrag über Verkaufstechnik gehalten und einen Liefervertrag über 500 Tonnen mit dem bislang sehr zurückhaltenden Abnehmer Moltena durch die Luft gewedelt.
"Man muss einfach nur klar und deutlich die Vorteile unserer Technologie präsentieren, dann klappt das mit der Belieferung, selbst wenn wir beim Kilopreis nicht der Günstigste sind", dozierte Nußbaum. "Erst seit dieser Vertrag unterzeichnet ist, gibt es für Moltena Details zu unserer Verfahrenstechnologie, nur nach dieser Unterschrift darf unsere Anwendungstechnik demnächst Ratschläge zur Verbesserung des Verfahrens weitergeben!" In diesem Stil ging es eine ganze Weile weiter. Nußbaum wollte alle an seinem Erfolg teilhaben lassen. Erst nach etwa zehn Minuten brachte Fengel ein Telex und hielt es Nußbaum hin.
"Das ist vor einer Stunde von Deinem 'Kunden' Moltena angekommen", meinte er trocken. "Ich glaube, der storniert den Auftrag."
Für wenige Tage wurde Nußbaum etwas stiller. Die Pläne zur weltweiten Vermarktung seines Produktes wurden geringfügig modifiziert, Moltena kam nicht mehr darin vor. Schober fragte Fengel nach dem Verfahren, von dem Nußbaum so geschwärmt hatte. Fengel zögerte erst, dann meinte er vorsichtig: "Nach meinem Kenntnisstand handelt es sich um eine nicht patentfähige Verfahrensvariante. Deshalb möchte Nußbaum einen Liefervertrag mit Firmen unterzeichnen und erst dann über die Details des Verfahrens und die möglichen Vorteile und Einsparungen informieren. Diese Katze im Sack kauft aber keiner. Daher versucht er die Kunden durch intensives Reden zu überzeugen. Dem Einkäufer von Moltena ging das wohl einfach auf die Nerven, der dachte, mit der Unterschrift bekomme ich den lästigen Menschen erst mal weg, das Storno schick ich ihm hinterher."
In der Forschungsabteilung von Professor Krauth herrschte gespannte Ruhe, das BMFT-Projekt war nach fast drei Jahren offiziell beendet, es gab noch eine inoffizielle Verlängerung, denn Krauth hatte bei Unterholzer angedeutet, einige weitere, aber attraktive Varianten noch prüfen zu müssen. Entlassungen würde es nicht geben, eine Zerschlagung der Arbeitsgruppen war dagegen sehr wahrscheinlich. Deshalb wurden zwar weiterhin Reaktionen und Modifikationen geprüft, aber alles lief ohne Schwung, das Ende war abzusehen. Man wartete auf die Versetzungen. Krauth hatte es Hofmeister überlassen, den Abschlussbericht für das BMFT zu schreiben. Hofmeister hatte nachgefragt, wie umfangreich das Werk werden müsse und zu seinem Erstaunen erfahren, zur Dokumentation genüge eine Seite Text. Jetzt brütete er über dieser Zusammenfassung. Viel war versucht worden, es gab meterweise Ordner mit Berichten und Daten, ein paar Patente und eine Zusammenfassung fürs Ministerium auf zwei Seiten. Eigentlich dürftig, im Angesicht der verbratenen 40 Millionen. Aber der Krauth sagte ja auch immer: 'Forschung ist Risiko'. Hofmeister schob die Tastatur zur Seite. Für heute war er bedient.
Hofmeister griff ins Posteingangsfach und zog die Hauszeitschrift heraus. Beim Blättern fand er ein Foto von Schober. Ziemlich gut zu erkennen in der ersten Reihe unter den 'interessierten Zuhörern' der Veranstaltung des Vorstandes zur grünen Chemie, der 'sanften Chemie der Zukunft'. Hofmeister dachte, der Schober, der hatte es richtig gemacht. Hat rechtzeitig die Kurve bekommen und ist auf dem Weg nach oben. Warum hab ich nur Spaß an chemischen Reaktionen? Mit guter Chemie bekommt man einen Händedruck vom Chef. Mehr nicht. Er hatte nicht mal den bekommen. Na gut, das doofe Thema erlaubte einfach nichts Besseres.
Schober begann seine Kundenbesuche mit Seeberger, der unter Müller y Gonzales, dem Chef des europaweiten Vertriebs für key accounts zuständig war. Müller hatte Schober zu verstehen gegeben, er habe zu wenig Zeit, um sich um Schobers Einführung in die Arbeitsweise zu kümmern, Seeberger sei dagegen verfügbar. Schober dachte sich seinen Teil, er beschloss Müller y Gonzales bei passender Gelegenheit seine Grenzen vorzuführen. Der würde schon noch sehen, einen Schober schiebt man nicht nach hinten!
Die Gelegenheit sich Marktkenntnisse zu verschaffen war günstig. Es gab keine Preise zu verhandeln, der Kontrakt war für zwei Jahre abgeschlossen und lief noch, letztlich war es ein Höflichkeitsbesuch zur Halbzeit. Man traf den Einkäufer Dr. Telch in entspannter Atmosphäre. Dieser fiel durch seine Vorliebe für schmutzige Witze auf, auf dem Niveau von: "Geht eine Frau zum Arzt ..." Schober gefiel das. Er steuerte selbst aus seinem Fundus einen Witz bei:
"Da verunglücken vier Nonnen mit dem Auto. Alle tot. Sie kommen zum Himmelstor und Petrus fragt sie nach ihren Sünden seit der letzten Beichte. Sagt die erste Nonne: "Petrus, ich habe unserem Pater beim Duschen zugesehen und fand seinen Penis so schrecklich interessant!" Sagt Petrus: "Meine Tochter, bitte benetze Deine Augen mit Weihwasser aus dieser Schale, und bete drei Vaterunser, es sei Dir verziehen!"
Die zweite Nonne erklärt: "Auch ich habe gesündigt, Vater! ich habe den Penis unseres Paters mit der Hand berührt und geknetet!" Sagt Petrus: "Das ist keine so schwere Sünde, meine Tochter. Wasche Deine Hand in Weihwasser und bete drei Vaterunser und vier Ave Maria, und es sei Dir verziehen!"
Da drängt sich die vierte Nonne vor. Petrus sieht sie an und fragt: "Warum so eilig Tochter, kannst Du nicht warten?"
Darauf die Nonne: "Ich möchte bitte gurgeln, bevor sie" – und deutet auf die dritte Nonne – "sich hineinsetzt!" Mit dem Einkäufer zusammen lachte Schober herzlich.
Seeberger war erstaunt, sonst versuchte der Schober doch immer einen sehr kultivierten Eindruck zu machen, er dachte sich 'sieh mal an', und hielt sich selbst zurück.
Bei der Weiterfahrt äußerte Schober Kritik: "Das war doch eigentlich ein ganz gutes Gespräch, richtig entspannt. Für mein Gefühl schon zu entspannt. Ich hätte mir von Ihnen mehr erwartet."
Seeberger war überrascht: "Also diese Sorte Witze liegen mir nicht, da bleib ich lieber zurückhaltend."
"Ach was", war Schobers Antwort, "das diente doch nur zur Auflockerung des Gesprächs! Ich mein' was anderes. Sie hätten dem Einkäufer Telch erzählen müssen, wie eng der Markt gerade jetzt ist und Entspannung nicht in Sicht ist. Wenn er das oft genug hört, schließt er leichter einen länger laufenden Kontrakt zu höheren Preisen ab!"
Seeberger reagierte erstaunt: "Aber das ist doch nur eine Geschichte, die wir erzählen. In Wirklichkeit haben wir 'ne ganze Menge Reserve zum Aufbohren unserer Produktion. Die Konkurrenz hat das vermutlich auch."
"Ich sehe schon, Sie haben eine ganze Menge zu lernen", antwortete Schober trocken. "Zwischen den Dingen, die wir wissen und denen, die wir erzählen, besteht doch ein großer Unterschied!"
"Aber wir können doch den Kunden keine so großen Bären aufbinden?!" wunderte sich Seeberger. "Die Pressemitteilungen der Konzernzentrale über das sich toll entwickelnde Geschäft, unsere Investitionen in den Ausbau und die gestiegenen Erträge, alles das ist doch nicht nur für die Aktionäre, das liest ein kluger Einkäufer doch auch! Ein wenig übertreiben ist in Ordnung, aber komplett lügen führt doch wohl zu nichts. Ich hab doch ein Vertrauensverhältnis zu Telch aufgebaut, das riskier' ich, durch zu dickes Auftragen."
"Genau das meine ich", erwiderte Schober, "Sie müssen dem Einkäufer klar machen, das sind nur Pressemitteilungen zur Beruhigung der Aktionäre. In Wirklichkeit brauchen wir dringend bessere Preise! Der muss Ihnen das glauben, wenn ihr Verhältnis wirklich gut ist." Das war zwar nicht logisch, weil es wie die Quadratur des Kreises klang, aber Dank seiner Position als Vorgesetzter fand es Schober völlig normal, die Realität nach Bedarf zu drehen. Seeberger war irritiert und nahm sich vor, möglichst wenig mit Schober zu reisen. Der würde ihm seine Kunden vergraulen mit diesen platten Methoden. Dumm war nur, er selbst hatte seinem neuen Chef den Tipp gegeben, hier Chef zu werden. Sollte es ein Fehler gewesen sein? Das hatte er nun davon!
Schobers nächster Termin diente dem Kennenlernen der zur Unterstützung des Vertriebs aufgebauten anwendungstechnischen Abteilung. Deren Aufgabe war es, durch gezielte Beratung eines Kunden den Verkauf zu unterstützen, oder Märkte für neue Produkte und neue Anwendungen für alte Produkte zu schaffen. Daneben sollte durch die Beratung eine Kundenbindung entstehen, die den Absatz langfristig sicherte. Chef der Abteilung war Dr. Funzelmaier. Der war auch schon lange im Unternehmen und hatte sich für sein Amt als Dienstältester qualifiziert. Schober kam schon früh, am Nachmittag sollte der jour fixé stattfinden, eine Diskussion zwischen Technikern und Kaufleuten zum Abgleich von Informationen über en Markt und Kunden zur Planung weiterer Aktivitäten. Daher bot es sich an, vorher mit dem Chef über dessen Sicht der Dinge zu reden.
Schober begann mit etwas small talk, er erzählte knapp von seiner Herfahrt, der vollen Autobahn, aber einer dennoch guten Fahrzeit, weil ein schnelles Auto und ein guter Fahrer sich toll ergänzten! Funzelmaier sprang darauf an, er meinte: "Ein gutes, schnelles Auto hab ich auch. Ich fahre jetzt den Siebener mit der Drei-Liter-Maschine, die hat jetzt noch mehr PS." Schober lehnte sich interessiert vor: "Was bringt der denn auf der Autobahn?" Funzelmaier fragte irritiert: "Wie meinen Sie das?"
"Ja, ganz einfach, regelt der bei über 230 ab, oder werden Sie noch schneller?"
"Ach so, nein", meinte Funzelmaier, "ich fahre eigentlich nie über 140, wie schnell der Wagen in der Spitze ist, weiß ich nicht."
Schober war enttäuscht, er dachte, jetzt fährt der alte Typ so 'n tolles Auto und benutzt es nicht, kaum zu glauben. Er ging zum geschäftlichen Teil über. "Dann berichten Sie mir mal, wie das bei Ihnen läuft."
Er erwartete eine Erläuterung der Aktivitäten bei den Kunden und neue Ansatzpunkte zur gemeinsamen Entwicklung des Chemikalienabsatzes. Das war falsch. Zu Schobers Überraschung war Funzelmaier immer noch intensiv mit dem TOP Programm beschäftigt. Die Liste der unterschiedlichen Aufgaben und Aktivitäten, die seine Mitarbeiter zu bewältigen hatten, war in einer großen Excel-Tabelle komprimiert. Selbstverständlich hatte Funzelmaiers Sekretärin diese auf DIN A 3 ausdrucken müssen. Funzel hatte die einzelnen Seiten persönlich zusammengeklebt. Jetzt bedeckte die komplette Tabelle die Tische des Besprechungszimmers wie eine Tischdecke, sie hing weit über alle vier Seiten hinaus. Funzelmaiers Strategie zum Umgang mit der geforderten Personaleinsparung war Schobers Vorgehen diametral entgegengesetzt. Nicht schnell reagieren, sondern intensiv auskosten, das war der Funzelmaier-Ansatz. Er liebte das TOP-Programm, schon weil es ihm erlaubte, den Umgang mit der Welt draußen zu vermeiden. Warum sollte er zu Kunden fahren und sich überraschenden Fragen stellen oder unerwartete, weitere Aufgaben erhalten? Er konnte sich intern mit sehr konkreten Aufgaben sehr gut intensiv beschäftigen! Das war ebenso wichtig, wie das Geschäft draußen.
"Sie müssen sich vorstellen, wie einfach es jetzt ist, nachzuvollziehen, wie vielfältig unsere Aufgaben sind!" meinte Funzelmaier mit Nachdruck. "Sehen Sie mal hier, in diesem großen Bereich, dort nur sind unsere Aktionen für die Waschmittelindustrie summiert. Es handelt sich dabei um eine Vielzahl äußerst unterschiedlicher Themen, die wir jederzeit aktuell für die Hersteller von Waschmitteln, unsere Kunden, parat haben müssen!"
Schober war überrascht: "Die großen soapers brauchen uns zur Entwicklung ihrer Waschmittel? Das machen die doch sicherlich jeder für sich? Dort gibt es doch auch eine Produkt und Marktentwicklung?"
"Das verstehen Sie nicht ganz richtig", Funzelmaier begann zu dozieren, erfreut über die Möglichkeit das schöne Thema auszubreiten. Er blickte auf einen imaginären Punkt an der Decke oberhalb des Fensters und versank in seiner Rede: "Da gibt es eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Aspekten. Wir beleuchten zum Beispiel das Lagerverhalten unserer Produkte. Sehr interessante Details kann ich Ihnen da zeigen! Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob sie ihren Stabilitätstest bei 96 °C oder bei 80 °C durchführen. Unsere Langzeit-Lagerversuche zeigen eine beträchtliche Abhängigkeit von der Feuchtigkeit, deshalb benötigen wir auch dringend einen weiteren Klimaraum."
Schober versuchte zu folgen, aber das war nicht wirklich möglich. Funzelmaier sprang von Detail zu Detail. Seine monotone Diktion machte es schwierig zuzuhören. Schober ertappte sich dabei, an etwas komplett anderes zu denken. Elsbeth hatte irgendetwas über Tischdecke mit Flecken erzählt, was war das noch? Schober erschrak, er hatte den dünnen Faden der Gedankengänge verloren. Er blickt auf Funzelmaier. Der aber war immer noch auf die Decke fixiert und hatte nicht beachtet, ob Schober zuhörte oder nicht. War das ein Mann für die Kundenbetreuung, bei der zuhören zählt?
Schober räusperte sich. Keine Reaktion, Funzelmaier redete. Schober begann: "Also, ich wollte ...." Funzelmaier war aber noch nicht fertig: "Lassen Sie mich das gerade noch mal zusammenfassen", fuhr er fort, als wäre nichts gewesen, "es ist sehr wichtig für unsere weitere Zusammenarbeit mit den soapers eine komplette Serie von mindestens sechs Waschmaschinen synchron waschen zu lassen. Nur dann können wir wertvolle Daten zur Entfernung der standardisierten Anschmutzungen gewinnen. Natürlich müssen wir diese Anlage auch kontinuierlich betreiben und dazu brauchen wir mehr Mitarbeiter. Dieser geplante Mitarbeiterabbau ist deshalb einfach nicht möglich, Sie verstehen?"
Schober verstand nicht wirklich, nur dass Funzelmaier eine nicht billige Investition mit einem nicht verständlichen Ziel durchsetzen wollte, die im Gegensatz zu den Plänen des Vorstandes, mehr Personal erforderte. Da war Vorsicht angebracht, sonst saß er im Nu zwischen zwei Stühlen. "Wie haben Sie denn vor, diese Aufstockung des Personals vor dem Hintergrund des jüngsten Abbaus durch das TOP-Programm zu rechtfertigen?" fragte er.
"Wie ich Ihnen ja geschildert habe", erwiderte Funzelmaier, "geht das überhaupt nicht. Unsere Pläne sehen eine Aufstockung des Personals vor. Deshalb haben wir auch noch keine Mitarbeiter freigestellt."
Schober witterte noch mehr Probleme: "Sie haben noch nichts unternommen?" fragte er erstaunt, "also, wie Sie sicher wissen, naht die vom Vorstand gesetzte deadline mit Riesenschritten, nächsten Monat müssen Sie den Vollzug melden. Schließlich hatten Sie fast zwei Jahre Zeit! Wenn der Personalstand nicht schrumpfen kann, müssen wir so etwas im Detail innerhalb der Geschäftsgebietsleitung sofort diskutieren."
Funzelmaier war uneinsichtig und begann seine Erläuterungen von vorn: "Wenn wir mit den soapers auf Augenhöhe reden wollen, brauchen wir diese Daten ...."
Schober unterbrach den Redefluss: "Mein lieber Herr Funzelmaier, ich werde mich intensiv für Ihr Anliegen engagieren und gleich Morgen früh mit Herrn Lübmüller ein Gespräch führen, ob und wie wir dieses wichtige Projekt weiterführen können. Ich sehe, es hat für Sie einen hohen Stellenwert! Lassen Sie uns doch heute erst mal das Tagesgeschäft erledigen". Funzelmaier war zufrieden, dieser Schober hatte ihn verstanden, zumindest dachte er das.
Beim jour fixé lief die Diskussion der Kundenkontakte über Funzelmaiers Mitarbeitern, Funzelmaier hielt sich sehr zurück, das Tagesgeschäft und Kunden interessierten ihn nicht wirklich. Er wurde sehr ruhig und konzentrierte sich auf seinen Aktenberg während die Mitarbeiter über Versuche beim Kunden, provisorische Tanklager und zusätzliche Verkaufsmengen sprachen. Schober traf Paul Sauerstein wieder, den kannte er von seiner Zeit bei Krauth. Sauerstein und weiteren Ingenieure betreuten Kunden und Anwendungen in die Papierindustrie. Daneben gab es den Kollegen Ewald Dreher, der war verantwortlich für Produktqualität und neue Produkte oder Produktvarianten bei Konzentration und Reinheit. Für die Aktivitäten bei Waschmitteln gab es einen Thomas Lindner und zu seiner Überraschung sogar Ingenieure, die für Kunden Tanklager und Dosiereinheiten errichteten, Dr. Moos und Herr Kaiser.
Nach einiger Zeit hatte Funzelmaier genug vom Sortieren, er lehnte sich zurück und schloss kurz darauf die Augen. Er schien zu schlafen, diese Gespräche über Kunden und Märkte waren langweilig. Seine Mitarbeiter schubsten sich an und grinsten.
Sauerstein sagte in die Runde: "Wir werden gleich zu einem für alle interessanten Thema kommen." Und deutlich lauter fuhr er fort: "Was die Lagerung angeht, wird von uns eine Entscheidung erwartet. Die Konkurrenz hat in Mannheim einen Lagertank in Edelstahl angeboten, der ein Volumen von 200 m³ besitzen soll. Wir dagegen bieten eine Batterie von vier 50 m³ Tanks aus Polyethylen an. Das Argument für dieses Angebot ist die Sicherheit", betonte er noch lauter.
Jetzt wurde Funzelmaier plötzlich hellwach, er setzte sich kerzengerade auf und sagte: "Bei der Sicherheit können wir keine Abstriche dulden! Das steht fest! Da gibt es Null Toleranz!" Jeder Satz war ein Ausrufezeichen, Funzelmaier war nicht nur wach, er redete sich in Rage: "Dem Dr. Haase von der Produktion hab ich letzthin schon gesagt, dass seine Tanks zu groß sind, viel zu gefährlich ist das, tausend Kubikmeter auf einmal zu lagern. Wenn da was passiert, nicht auszudenken ist das!"
Sein Mitarbeiter Kaiser warf ein: "Bei unserer Konkurrenz stehen Tanks mit 2.000 Kubikmeter Volumen, das ist dort normal und nach den gesetzlichen Regeln auch völlig in Ordnung, von staatlicher Seite abgenommen und zertifiziert. Alles was man braucht, ist eine Temperaturüberwachung, ein passendes Auffangbecken und eine gute Wasserversorgung zum Verdünnen im Gefahrenfall."
"Päpstlicher als der Papst sollten wir nicht sein", ergänzte Sauerstein, "Unser Angebot braucht nicht nur unverschämt viel Platz, es ist auch noch fast doppelt so teuer. Es wäre doch schade, wenn wir unsere technische Vorarbeit nicht nutzen und der Konkurrenz bei diesem Kunden die Tür weit öffnen, weil wir uns unflexibel zeigen."
Funzelmaier war sehr irritiert: "Aber sowas haben wir doch noch nie gemacht, so groß bauen wir sonst nicht", versuchte er zu argumentieren. "Noch im letzten Jahr haben wir es abgelehnt, sowas zu bauen. Denken Sie doch mal an das Risiko!"
"Das scheint beherrschbar zu sein", antwortete Kaiser, "unsere Konkurrenz hat uns letztes Jahr gerade deshalb auch drei Aufträge weggeschnappt."
"Drei Aufträge?" fragte Schober nach, "mit wie viel Volumen?"
"Nun, so etwa fünf Millionen Umsatz insgesamt", war Kaisers Antwort. "Wir können uns das leisten", fügte er sarkastisch hinzu.
Funzelmaier ließ das nicht gelten: "Wir machen bei der Sicherheit keine Kompromisse! Die Sicherheit geht vor, das ist unverrückbar ...." er begann seine Litanei von neuem.
Schober fiel ihm ins Wort: "Ich denke, wir sollten das alles nochmal sorgfältig abwägen, aber Umsatzverluste können wir uns nicht leisten. Kaiser, stellen Sie doch mal das Für und Wider zusammen, danach entscheiden wir!"
Zu Kaiser sagte er beim Hinausgehen: "Sie planen mal schnell ein anderes Angebot mit nur einem großen Tank!" Kaiser hatte damit kein Problem.
Schober hatte einen abendlichen Kommentar für Elsbeth: "Heute lief es wieder sehr gut für mich. Ich habe einen verträumten alten Herrn gefunden, der dringend zum Arbeiten gebracht werden muss. Genau das ist es, was mir hilft. Wenn ich diese Trödelei beende und das bei Unterholzer richtig bekannt mache, dann hat der wieder einen Beweis dafür, der Schober macht Dinge wahr, der redet nicht, der handelt!"
Am folgenden Tag sprach Schober mit Lübmüller wegen Funzelmaiers Plänen zum Personalab- oder -aufbau. Er beschloss das Thema erst mal vorsichtig anzugehen: "Ich war erstaunt, dass in Funzelmaiers Gruppe so wenig passiert ist", äußerte er und wartete auf Reaktion.
"Ja, der Funzelmaier hat auf Zeit gespielt und gehofft, Vorstand Unterholzer würde ihm helfen", bekam er zur Antwort. Lübmüller ergänzte: "Der Unterholzer hat sich aber in letzter Zeit bei dieser Art von Projekten sehr zurückgehalten. ich glaube, da hofft der Funzelmaier vergebens auf Unterstützung."
"Und was machen wir?" fragte Schober nach. "Eher nichts, uns sind die Hände gebunden", war Lübmüllers Antwort. "Es ist klar, zwanzig Prozent des Personals müssen gehen, nur bei den neuen, strategischen Projekten gibt es mehr Personal. Aber diese Stellen sind alle schon besetzt, wer zu lange wartet, schaut in die Röhre", er zuckte mit den Schultern, "da kann man nichts machen!" und betonte das 'kann'. Er fuhr fort: "Wissen Sie, der Chef von Funzelmaier ist der Dr. Holic, uns hier geht das nur indirekt etwas an. In Teilbereichen ist bei Funzelmaier ist ja schon etwas passiert, ich glaube der Dreher und der Sauerstein haben Mitarbeiter verloren. Aber um den Bereich Lindner muss sich zuerst der Holic kümmern, der berichtet an den Unterholzer!"
Funzelmaier war geschockt, als Schober ihm klar machte, der Personalabbau ist auch auf seinem geliebten Sektor der Waschversuche unvermeidbar. Schober betonte: "Ich habe in unserer Besprechung mit dem Vorstand für Sie gekämpft wie ein Löwe, aber es war einfach nicht mehr drin. Der Vorstand will den Abbau."
Wie sollte der Funzelmaier ihm nachweisen, dass er nichts gemacht hatte! Es war ganz einfach abgelaufen, er hatte bei der Besprechung kurz den Finger gehoben und das Problem eines noch nicht erfolgten Personalabbaus angesprochen. Dabei hielt er sich bedeckt und sagte nur 'mir ist zu Ohren gekommen'. Die vorhersehbare Order des Herrn Unterholzer zur Durchführung der Aktion kam so glatt und eindeutig, wie er sich das gedacht hatte.
Er hatte geantwortet: "Herr Dr. Unterholzer, nach Ihrer klaren Vorgabe werden ich mich sofort persönlich dafür einsetzen, dass rasch etwas geschieht und die verlorene Zeit nach Kräften aufgeholt wird." Jetzt konnte er sich bei Lübmüller, Pfleiderer und Unterholzer wieder als Macher präsentieren. Ein nicht erledigtes, verschlepptes Problem endlich der Lösung zuführen! Einen säumigen Vorgesetzten auf seine Verantwortung stoßen! Schober war zufrieden.
Schober gab Funzelmaier Vorgaben zur Abwicklung: "Zuerst reden Sie mal mit human resources, ob es irgendwo noch freie Stellen gibt. Dann klären Sie, wer alt genug ist für den Ruhestand. Mit denen muss sofort geredet werden."
"Aber meine Waschversuche ...", wand Funzelmaier ein. "Das müssen Sie durch ein Konzept zur Neuorientierung der Abteilung realisieren. Sie setzen die Prioritäten und Sie verschieben die Mitarbeiter!"
Funzelmaier rief den engeren Kreis seiner Mitarbeiter zusammen und versuchte eine Lösung zu finden. Das Resultat befriedigte niemanden. Jede Gruppe verlor Mitarbeiter, auch diejenigen, die zuvor schon Stellen gestrichen hatten. Auf Ältere wurde Druck ausgeübt, den angebotenen Vorruhestand anzunehmen. Andernfalls habe der Mitarbeiter Teilverantwortung bei möglichen Entlassungen. Die gerade Ausgelernten waren geschockt, weil sie befürchteten entlassen zu werden. Für mehrere Wochen war an konsequente Arbeit nicht zu denken, da extrem viel Zeit mit Planspielen und der Diskussion von Gerüchten verbracht wurde. Es gelang Entlassungen zu vermeiden, andererseits wurden Mitarbeiter auf unbeliebte Positionen versetzt und qualifizierte Kollegen endeten auf Positionen ohne jede Herausforderung. Auf Kunden bezogene Aktivitäten schrumpften gewaltig zu Gunsten der Versetzung zu interner Verwaltungstätigkeit, deren Sinn sich nicht jedem erschloss.
Sauerstein meinte: "Was wir jetzt dringender denn je zuvor brauchen, sind Seminare zur Motivation. Fast alle der Versetzten mögen ihre neue Arbeit nicht." Aber selbstverständlich war in Zeiten des Sparens dafür kein Geld übrig. Der positive Teil der Problemlösung: auch Funzelmaiers Tage waren gezählt, auch er würde in den Vorruhestand gehen müssen.
Schober konnte nach drei Wochen berichten: "Alle Vorgaben des Vorstandes wurden erfüllt!" Das hörte sich gut an, der Macher hatte zusätzliches Profil gewonnen! Funzelmaier trauerte seiner Waschmaschinenbatterie nach. Auf Intervention Lübmüllers bei Unterholzer 'wir müssen ihm unsere Wertschätzung zeigen' wurde zum Trost Funzelmaiers überraschend die Investition genehmigt und die Maschinen installiert. Mangels Mitarbeitern war der geplante Betrieb zwar nicht möglich, das hinderte Funzelmaier nicht daran, sich über seine schöne, neue Anlage zu freuen. Sechs Maschinen in einer sauber ausgerichteten Reihe auf einem aus Edelstahl geschweißten Rahmen, dazu die Wasserversorgung mit einstellbarer Wasserhärte, die Trockner und die Gewebeproben! Es sah so schön aus! Da war es fast schon zu verschmerzen, dass man für Versuchsreihen kein Personal hatte. Dass er das noch erleben dürfte!
Funzelmaier sah in der Installation einen Vertrauensbeweis, der ihn weitere Belohnungen erwarten ließ. Bei einem Gespräch mit seinen Mitarbeitern äußerte er, die Augen, wie so oft, auf den Punkt über dem Fenster fixiert: "Wenn mir der Lübmüller noch was Gutes tun möchte, dann ernennt er mich vor dem Ruhestand noch zum Direktor! Das wäre dann der krönende Abschluss meiner Karriere." Sauerstein und Dreher sahen sich ungläubig an, worauf baute Funzelmaier diese Erwartung auf eine Belohnung? Wird man für 'nichts tun' belohnt? Die Beförderung unterblieb, Funzelmaier war ziemlich enttäuscht.
In seinen letzten Arbeitsmonaten hielt Funzelmaier sich mehr den je aus dem laufenden Geschäft heraus. Der Umgang mit Kunden war eine Belastung für seine Nerven. Kunden kamen mit völlig unerwarteten Fragen und Ideen, da kultivierte er lieber den internen Ablauf der Arbeitsprozesse. Nur die Sitzungen zur Information seiner Gruppenleiter blieben ein Traum für Funzelmaier und seiner Leidenschaft für Akten. Er sammelte begeistert Papiere. Ein Abteilungstreffen fand nur statt, wenn er mit einem Berg Akten unter dem Arm antreten konnte. Dieser Berg wurde dann abgearbeitet. Das konnte dauern und führte nicht immer zu zeitnaher Information. Es kam schon vor, dass er nach dem Verlesen einer Einladung zu einer internen Veranstaltung ergänzen musste: "Ach, das wäre schon letzte Woche gewesen ...."
Da Funzelmaier Diskussionen nicht liebte, er war rhetorisch nicht fit, versuchte er Monologe zu halten und durch Fixierung seines Lieblingspunktes – der Zimmerdecke oberhalb des Fensters – jeden Augenkontakt zu umgehen. Nach einiger Zeit war Sauerstein so weit, es als Notwehr anzusehen, einfach in den Monolog hineinzureden. Gewiss, es war unhöflich, aber es schien die einzige Option, um zu Wort zu kommen. Das geschah auch bei der Aktion 'Schneeräumen'. Denn die Einsparungen beim Personal hatten zum Abbau der Position des Hausmeisters geführt. Das hatte Konsequenzen.
Nach etwa anderthalb Stunden langatmiger 'Besprechung' verkündigte Funzelmaier einen Beschluss des nächsthöheren Gremiums, das der Abteilungsleiter. "Dieses Thema ist wichtig", war seine Einleitung, "wie Sie wissen, naht der Winter ...."
"Hört, hört", Sauerstein fiel Funzelmaier ins Wort, er lächelte unschuldig und sagte: "woher wissen wir das?" Nach so viel Monolog war es Zeit mitzureden.
Funzelmaier ließ sich nicht stören: "Der Abbau der Hausmeisterstelle wird in diesem Winter bei Schneefall zu einem gravierenden Problem führen. Schnee wird nicht mehr automatisch vom Zugangsweg zu unserem Gebäude entfernt. Die Hofkolonne des Standortes reinigt nur die Straße, das letzte Sück des Fußwegs bleibt ungeräumt! Deshalb war es uns Abteilungsleitern ein Anliegen, dafür eine Lösung zu finden. Wir wollen schließlich keine Arbeitsunfälle durch Schneeglätte. Die Verantwortung für das Schneeräumen in der Zeit von Oktober bis April wird auf alle Abteilungen des Gebäudes gleichmäßig verteilt. Unser junge Kollege Dr. Hellbach hat dazu eine sehr schöne Excel-Tabelle erstellt."
Sauerstein stieß seinen Nachbarn Dreher an und flüsterte: "Wetten Ewald, der kommt wieder mit einem DIN A 3-Ausdruck der Tabelle und macht handschriftliche Einträge?" Die Wette wurde von Dreher glatt abgelehnt, es war zu wahrscheinlich.
Funzelmaier ließ sich nicht stören, er fuhr fort: "Unsere Abteilung ist insgesamt für vier Winterwochen verantwortlich, das bedeutet jeder von Ihnen" – er sah tatsächlich kurz auf und überflog seine Mitarbeiter – "hat für eine Woche Sorge zu tragen, dass seine Gruppe den Schnee vom Fußweg entfernt."
"Wie soll das denn ablaufen?" fragte Sauerstein.
Funzelmaier war vorbereitet: "Der Dr. Hellbach hat zwei Besen und eine Schneeschaufel besorgt, die sollen dann von Abteilung zu gehen. Wir haben das alles schon im Detail diskutiert."
Sauerstein stieß Dreher an und meinte leise: "Da haben die hohen Chefs sich wieder ausführlich und intensiv mit extrem relevanten Dingen beschäftigt."
Dreher zuckte die Schultern und flüsterte zurück: "Das sehe ich positiv. Solange stören sie wenigstens unsere Bearbeitung der Kundenthemen nicht." Laut fragte er: "Wer soll denn bitte den Schnee wegräumen? Gibt es dazu Vorgaben?"
Jetzt geriet Funzelmaiers Selbstsicherheit etwas ins Wanken. Er druckste: "So genau haben wir dazu keine Vorgaben, das überlassen wir Ihnen. Aber Sie können ja die Spülfrauen dafür heranziehen, die kommen ja immer sehr früh ...."
"Das ist wieder typisch", Sauerstein wurde ärgerlich, "Immer alle Zusatzlast auf der untersten Stufe noch oben drauf packen. Der liebe Herr Dr. Holic hat unserer Hilfskraft, die alles, vom Kopieren zum Postverteilen, Chemikalienholen und Spülen erledigt, schon zusätzlich noch das Blumengießen im gesamten Treppenhaus als Erbschaft des eliminierten Hausmeisters aufs Auge gedrückt. Sehr elegant. Da schippe ich den Schnee schon lieber selbst."
Funzelmaier war pikiert. "Das bleibt selbstverständlich Ihnen überlassen, wie Sie das in Ihrer Gruppe regeln. Von mir aus haben Sie da freie Hand. Weil am Freitag viele Mitarbeiter die flexible Arbeitszeit ausnutzen, soll die Übergabe der Schaufel und Besen jeweils freitags vor 15 Uhr erfolgen".
Sauerstein versuchte seinen Protest artikulieren, indem er die Aktion ins Lächerliche zog: "Muss dabei 'ne Hymne gespielt werden oder reicht stramm stehen? Wo stellen wir diese wichtigen Geräte denn ab?"
"Da bieten sich doch die Versorgungsschächte in den Fluren an", erwiderte Funzelmaier, ohne den Affront zu kommentieren.
"Na, hoffentlich haben die Teile keinen Holzstiel, sonst stellt sie die Feuerwehr wegen Verletzung der Brandschutz-Vorgaben gleich wieder in den Gang zurück!" meinte Dreher in das allgemeine Gemurmel hinein. Funzelmaier versuchte das Gesicht zu wahren und meinte: "Ich gehe davon aus, dass der Schneeschieber aus Metall ist."
Das war das passende Stichwort für Sauerstein: "Und auch eiserne Besen kehren ja bekanntlich besonders gut, da ist feuerpolizeilich sicher alles in Ordnung."
Funzelmaier versuchte nicht mehr die Situation zu retten, er verkündete den möglich nächsten Termin, packte seinen Aktenstapel und verschwand mit dem gemurmelten Halbsatz: "Ich hab' auch noch einen wichtigen Termin ..." aus dem Besprechungszimmer.
Es wurde ein milder Winter. Sauerstein räumte mit seinem Kollegen Dreher nur einmal Schnee, den Regeln entsprechend vor sieben Uhr. Er verfasst darüber einen Bericht an die Hauszeitschrift und lobte darin die generellen Anstrengungen des Abteilungskollektivs zur Arbeitssicherheit. Der Bericht gefiel der Redaktion nicht, sie verzichtete auf eine Publikation. Wahrscheinlich war die Zeit noch nicht reif für die Verwendung des Wortes 'Kollektiv'. Es weckte latente kapitalistische Vorurteile.
Schober hörte von der Aktion Schneeräumen und Funzelmaiers Verhalten. Zum Glück hab' ich da nichts zu sagen, dachte er sich, das soll mal der für das Personal Verantwortliche machen, der Holic. Er sprach Holic auf Funzelmaier an, aber Holic meinte nur: "Ach wissen Sie, in Anbetracht der großen Verdienste von Funzelmaier" – er fragte sich selbst kurz: welche? – " schlage ich vor, wir ignorieren das Problem einfach. Auch in Anbetracht des nahenden Ruhestandes, bis dahin ist es ja nicht mal mehr ein Jahr, ist dies doch das Beste."
Dieser eleganten Lösung schloss sich Schober gern an, er dachte, was interessiert mich Funzelmaiers performance und sein Ruf bei den Mitarbeitern!