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§ 5Das Evangelium nach Markus

Die Schwierigkeiten, vor die das älteste Evangelium die Forschung stellt, sind in der letzten Zeit besonders deutlich hervorgetreten. Zu Recht ist betont worden, dass kein Evangelium, auch nicht das Johannesevangelium, so viele Streitfragen hervorgerufen hat, wie das des Markus und dass die Auffassungen in der Literatur hier nicht aufeinander zulaufen, sondern immer stärker divergieren.

1. Gliederung des Evangeliums

Markus hat die Gliederungssignale offensichtlich nicht so gesetzt, dass sie uns Heutigen noch klar erkennbar wären.

Inhaltliche Gliederung

Kriterien

Darauf weist nicht nur die Uneinheitlichkeit der Gliederungsversuche hin – in der Literatur sind zweigliedrige, dreigliedrige und zahlreiche mehrgliedrige Aufteilungen vorgeschlagen worden, die bis zu sieben Abschnitten reichen, und die Einschnitte werden teilweise an ganz unterschiedlichen Stellen vorgenommen –, sondern auch der Umstand, dass der Übergang selbst an den Stellen gelegentlich sehr eng ist, wo häufig Unterteilungen vorgenommen werden, so z. B. vor 1,14.16 oder 6,29. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass zahlreiche Gliederungsversuche einen Einschnitt vor 1,14 finden und zahlreiche andere einen solchen erst vor 1,16. Diese Unsicherheit dürfte darin ihren Grund haben, dass das Gliederungsprinzip im Inhalt gefunden wird, ohne dass sich ein deutliches formales Signal finden lässt. Man kann sich insofern über die unterschiedlichen Gliederungsversuche nicht wundern. An sich könnte man aus der antiken Schreibkultur, die jedenfalls bei den Schriften des Neuen Testaments ohne Absätze und ohne Zwischenüberschriften verfährt, den Schluss ziehen, Gliederungssignale wären damals nicht so wichtig gewesen, jedoch lassen sowohl die Abhandlung des Aristoteles über die Poetik (z. B. Poetik 12; vgl. auch Rhetorik 3,13) als auch die vielfältigen Überlegungen zur dispositio in der antiken Rhetorik (vgl. nur Quintilian, inst. or. 3,3,1 ff.) eine solche Überlegung als abwegig erscheinen.

Die Uneinheitlichkeit der Gliederungsversuche hat freilich nicht nur in der markinischen Eigenart des Evangeliums mit seinen fließenden Übergängen ihren Grund, sondern auch in dem zu Recht angemahnten Fehlen einer einheitlichen Kriteriologie der Forschung. Denn als Kriterium für die Gliederung hat man so unterschiedliche Aspekte wie die geographische Aufteilung des Evangeliums, die Anlehnung an den jüdischen Festkalender oder das antike Drama, den Inhalt, die Sammelberichte, die Zeitebenen oder auch die ► Stichometrie benutzt.

Dreiteilung

Anhand inhaltlicher und geographischer Merkmale wird man von einer dreiteiligen Gliederung des Corpus des Evangeliums mit einem Prolog ausgehen. Die Möglichkeit, die Haupteinschnitte noch einmal zu unterteilen, ist dabei durchaus gegeben. Die Anwendung dieser Kriterien erscheint auch deswegen gerechtfertigt, weil die mehr auf formaler Analyse aufbauenden Gliederungsversuche m. E. ebenfalls inhaltliche Argumente enthalten.

Aufbau

1,1Überschrift (incipit)
1,2–13Der Markusprolog: Johannes der Täufer, die Taufe und die Erprobung Jesu
1,14–8,26Jesu öffentliches Wirken in Galiläa und Umgebung
1,14–3,35Beginn der Verkündigung Jesu und Berufung der ersten Jünger, erster Zyklus von Machttaten und beginnende Auseinandersetzungen, Erwählung der Zwölf
4,1–34Am See Genesareth: Die Gleichnisrede
4,35–8,26Um den See Genesareth: Zweiter Zyklus von Machttaten (auch in nichtjüdischen Gegenden) und weitere Auseinandersetzungen
8,27–10,52Jesus auf dem Weg von Caesarea Philippi nach Jerusalem
Leidensankündigungen, die Verklärung Jesu, Fragen der Nachfolge, Heilung des blinden Bartimäus
11,1–16,8Letzte Tage in Jerusalem, Tod und Auferstehung Jesu
11–12Einzug, Tempelaktion und Auseinandersetzungen mit Jerusalemer Gegnern
13Die Endzeitrede
14–15Passion, Tod und Begräbnis Jesu
16,1–8Die Auffindung des leeren Grabes
(16,9–20Sekundärer Markusschluss)

2. Der Anlass für die Abfassung des Markusevangeliums

Markus: der „Erfinder“ der Gattung Evangelium

Was Markus tat, war neu, um nicht zu sagen revolutionär, und nicht neu zugleich:

Es war neu, insofern hier erstmalig die mündlichen Einzeltraditionen und die Sammlungen von mehreren Einzelgeschichten (z. B. Wundergeschichten) in den Rahmen der öffentlichen Wirksamkeit Jesu eingepasst, unter das Schema „Von Galiläa nach Jerusalem“, oder besser „Von der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer bis zur Auferstehung in Jerusalem“ subsumiert und unter bestimmte theologische Leitgedanken gestellt wurden.

Es war nicht neu, insofern nach Ausweis seines Evangeliums vermutlich auch in seiner eigenen Gemeinde das Christusereignis mit Hilfe von solchen Geschichten aus dem Leben Jesu verkündigt wurde und insofern es auch schon vor der Abfassung seines Werkes kleinere Sammlungen von Einzelperikopen gegeben hat, die er in sein Werk integrierte.

Die Originalität der Absicht des Markus, die uns wegen unserer Vertrautheit mit der Gattung nicht besonders auffällt, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden und übersteigt z. B. die des Matthäus trotz der großartigen Konzeption des Matthäusevangeliums bei weitem. Markus verfiel als Erster auf die Idee, die überwiegend mündlich umlaufenden Jesusgeschichten nicht nur zu sammeln, sondern unter einer Gesamtperspektive als „literarisches“ Werk herauszubringen und als Evangelium zu begreifen.

Sitz im Leben: der Gottesdienst

Angesichts unserer Kenntnis von der Verlesung der Paulusbriefe im Gottesdienst der ersten Christen (vgl. Kol 4,16; auch 2 Petr 3,14–16) und der Rolle des Alten Testaments im Synagogengottesdienst ist davon auszugehen, dass der ► Sitz im Leben der Einzelgeschichten ebenfalls der Gottesdienst war.

Lesen und Vorlesen in der Antike

Man kann dafür des weiteren anführen, dass „Bücher“ selten und kostbar waren und dass die Fertigkeit des Lesens unter den damaligen Christen sicher nicht allzu weit verbreitet war.

Gleichwohl dürfte die Verlesung im Gottesdienst keinesfalls der einzige Abfassungszweck gewesen sein, weil diese atomisierende, das Ganze in kleine Abschnitte aufteilende Art, das Evangelium zur Kenntnis zu bringen, der Gesamtkomposition und den zugrunde liegenden Leitgedanken, ganz abgesehen von dem Spannungsbogen, nicht gerecht zu werden vermag. Allerdings geschah Lesen in der Antike sehr häufig als Vorlesen, und offensichtlich waren die Zuhörer in der Lage, nicht nur kompliziertere und längere, sondern auch übergreifende Zusammenhänge zu erkennen, was für uns weitgehend an eine schriftliche Kultur Gewöhnte wesentlich schwieriger ist. Von daher ist dieser Einwand gegen das Vorlesen wohl kaum durchschlagend. Im übrigen bezeugt bereits Thukydides, dass Bücher „zum dauernden Besitz, nicht als Prunkstück fürs einmalige Hören“ geschrieben wurden (I 22,4, vgl. aber auch 22,3: „Zum Zuhören wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergötzlich scheinen“).

Unbeschadet der Frage, ob Markus oder die Verfasser der anderen Evangelien nun primär Leser oder Hörer im Blick gehabt haben, beweist Justin, Apol. I 67,3 für die Mitte des zweiten Jahrhunderts das Vorlesen der Evangelien im Gottesdienst:

„An dem Tage, den man Sonntag nennt, findet eine Versammlung aller statt, die in Städten oder auf dem Lande wohnen; dabei werden die Denkwürdigkeiten der Apostel oder die Schriften der Propheten vorgelesen, solange es angeht.“ (nach der Übersetzung von G. Rauschen in BKV; dass mit den „Denkwürdigkeiten der Apostel“ die Evangelien gemeint sind, geht aus Apol. I 66 eindeutig hervor).

Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Markus sein Werk für den Gottesdienst seiner Gemeinde geschaffen hat.

Das Werk und sein Anlass

Was Markus dazu veranlasst hat, die Jesusgeschichten nicht nur einfach zu sammeln, so wie etwa der Verfasser der Logienquelle die Jesusworte gesammelt hat, sondern ein Werk mit Leitgedanken und Spannungsbogen zu verfassen, wissen wir nicht, und wir sind zur Beantwortung dieser Frage ausschließlich auf sein Werk verwiesen. Es bedeutet aber nicht, aus der Not eine Tugend zu machen, wenn man überlegt, ob sich die Absicht des Markus nicht gerade aus diesem Werkcharakter des Evangeliums ergibt.

Die mündliche Tradierung der Einzelgeschichten im Gottesdienst war offensichtlich nicht in der Lage, das zu leisten, was er mit seinem Werk leisten wollte, nämlich das „Evangelium von Jesus Christus“ (1,1) adäquat zum Ausdruck zu bringen, weil die Einzelgeschichten in der Regel entweder den Christus der Herrlichkeit oder den des Leidens zur Sprache brachten, während es Markus gerade darauf ankam, beides miteinander zu verbinden und gemeinsam zur Sprache zu bringen.

Die Binnenperspektive des Buches

Von daher ergibt sich auch die Frage, ob die häufig genannte Zweckbestimmung, das Werk solle den Glauben wecken und stärken, ganz zutrifft und ob man beide Zwecke als gleichberechtigt nebeneinander stehend ansehen darf. Diese Zweckbestimmung nimmt ja die in der formgeschichtlichen Phase der Evangelienkritik für die Einzelperikopen angenommenen Zwecke auf und überträgt sie auf das Gesamtwerk. Muss man schon fragen, ob in einer heidnischen Umgebung die Missionspredigt einfach mit dem Christuskerygma einsetzen kann, so wird man angesichts des Ringens des Verfassers um das zutreffende Verständnis von Jesus, dem Christus, m. E. eher eine Binnen- als eine Außenperspektive für das Werk annehmen.

Markus geht mit seinem Werk erheblich über die ihm vorliegenden Sammlungen von Einzelgeschichten hinaus. Er schafft etwas völlig Neues und wendet sich vorrangig an Menschen, die schon Christen sind. Allenfalls in zweiter Hinsicht schreibt er ein Werk für die Missionspropaganda.

3. Die Frage nach dem Verfasser des Markusevangeliums

Die Überschrift

Das älteste Evangelium nennt den Namen seines Verfassers nicht. Der Name Markus, mit dem wir dieses traditionsgemäß verbinden, stammt zum einen aus der Überschrift, den dieses Werk in den neutestamentlichen ► Handschriften, die einen Titel bieten, trägt, zum anderen aus der Kirchenväterliteratur, in der Markus mehrfach als Verfasser eines Evangeliums genannt wird. Da jedoch die Überschrift jedenfalls beim Markusevangelium ohne Zweifel nicht ursprünglich ist, wie sich schon daraus ergibt, dass sie der Unterscheidung von anderen Werken / Evangelien dienen soll, die es zur Zeit der Abfassung des Markusevangeliums noch gar nicht gegeben hat und die bei der Abfassung dieses Werkes auch nicht unbedingt zu erwarten waren, müssen die Nachrichten aus der Väterliteratur genauer unter die Lupe genommen werden.

3.1 Ausgangspunkt Alte Kirche

Das Zeugnis des Papias

Das älteste Zeugnis verdanken wir Papias von Hierapolis, der um 120 oder 130 die fünf Bücher der „Erklärungen von Herrenworten“ verfasst hat, die leider nur in Auszügen erhalten sind. In diesen Büchern beruft er sich für das folgende Zeugnis über das Markusevangelium auf einen ► Presbyter Johannes, der Jünger des Herrn gewesen sei, so dass dieses Zeugnis uns vermeintlich direkt in die Urgemeinde und ihre Ansichten zu den Evangelien hineinführt.

„Auch dies lehrte der Presbyter: Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht der Reihe nach, aufgeschrieben. Denn er hatte den Herrn nicht gehört und begleitet; wohl aberfolgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, dass er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Berichte keiner Lüge schuldig zu machen.“ (Eusebius, Kirchengeschichte III 39,15 in der Übersetzung von Ph. Haeuser, neu durchgesehen von H. A. Gärtner. Zu der Interpretation dieses Zeugnisses durch J. Kürzinger vgl. unten § 6 Nr. 3.5.1)

Der Dolmetscher Petri?

Die Frage, wie das in dieser Übersetzung mit „Dolmetscher“ wiedergegebene griechische Wort zu verstehen ist, ist in der Literatur heftig diskutiert worden, und man hat gefragt, ob Petrus denn wirklich auf einen Übersetzer angewiesen war. Wenn man Jesus die Kenntnis des Griechischen abspricht, kann man sie Petrus freilich nicht einfach zusprechen, obwohl Petrus sich das Griechische auch noch während seiner Missionstätigkeit angeeignet haben kann.

Der apologetische Charakter des Papiaszeugnisses

Unbeschadet der Auslegungsschwierigkeiten dieses Textes ist der apologetische Charakter dieses Zeugnisses doch offensichtlich. Der Verfasser dieser Nachricht verspürt für jeden Leser deutlich erkennbar die Notwendigkeit, die Zuverlässigkeit des Markusevangeliums gegen Angriffe zu verteidigen, kann dabei aber gleichzeitig den Tatbestand einer gewissen Unordnung nicht bestreiten.

Er wählt deswegen eine andere Strategie zur Verteidigung des Markusevangeliums: Diese Unordnung ist, anders als die Kritiker meinen, nach Ansicht des Papias eher als Zeugnis für die Authentizität des Evangeliums als gegen diese zu werten, wenn man sich nur die Entstehungsverhältnisse klar macht! Es handelt sich eben nicht um den Bericht eines Augenzeugen, sondern um Erinnerungen an die Predigten des Petrus, und diese waren nicht systematisch oder historisch geordnet, sondern waren nach den Bedürfnissen der Zuhörer gestaltet.

Auf diese Weise leistet der Hinweis des Papias ein Doppeltes: Er kommt den schon damals offensichtlich vorhandenen Kritikern entgegen, räumt ihnen teilweise die Berechtigung ihrer Kritik ein und ist gleichwohl in der Lage, das Werk des Markus und dessen Authentizität zu verteidigen.

Wenn man nicht davon ausgehen will, dass es im zweiten Jahrhundert, also zur Zeit des Papias, noch Menschen gegeben hat, die für sich eine unmittelbare Kenntnis der Jesusgeschichte beanspruchten, worauf im übrigen nichts hinweist, dann muss man fragen, auf welchem Hintergrund diese Kritik am Werk des Markus, die sich auf dessen (Un-)Ordnung bezieht, vorgetragen wird. Was war der Maßstab der Kritiker, von woher konnten sie sagen, das Markusevangelium entspreche nicht der richtigen Reihenfolge? Wahrscheinlich spielen die nicht geringen Divergenzen zwischen den Evangelien des Matthäus und Markus hier hinein, und das „kirchliche“, weil in der Kirche von Anfang an besonders beliebte Matthäusevangelium gibt den Maßstab ab, an Hand dessen das Markusevangelium, das im übrigen in der Alten Kirche immer nur auf geringes Interesse gestoßen ist, als weniger der Ordnung entsprechend angesehen wird.

Die Lösung des Presbyters

Mit dem Hinweis auf die Predigten des Petrus unterläuft der ► Presbyter geschickt den Vorwurf der Unordnung und setzt das Markus- wie das Matthäusevangelium gleichermaßen als zuverlässig ins Recht. Das Matthäusevangelium biete die zutreffende Ordnung der Worte und Taten Jesu, während das Markusevangelium ein Erinnerungswerk sei, das auf den Predigten des Petrus basiert und schon von daher – eine freilich andere – Authentizität atmet.

3.2 Moderne Versuche, das Zeugnis des Papias zu kontrollieren

Das Zeugnis des Papias ist in der Forschung nun immer wieder in der Hoffnung einer intensiven Nachprüfung unterzogen worden, dieses kontrollieren und die Identität des von Papias genannten Markus feststellen zu können.

Das Ergebnis dieser Bemühungen ist freilich sehr unterschiedlich. Ist das Papiaszeugnis nach Meinung der einen praktisch wertlos und verdankt es seine Existenz überhaupt nur dogmatisch-ideologischen Interessen, so ist nach anderen dieses Zeugnis zuverlässig. Das Überleben des Markusevangeliums nach der Abfassung des Matthäusevangeliums ist nach diesen Autoren nur verständlich, wenn es von Anfang an mit der Autorität des Petrus in Verbindung stand. Diese Nähe des zweiten Evangeliums zu Petrus findet sich übrigens nicht nur bei Papias, sondern auch in anderen Zeugnissen der Kirchenväter.

3.2.1 Der (Johannes) Markus des Neuen Testaments

Markus: Ein Jerusalemer Judenchrist?

Bei der Auswertung des Papiaszeugnisses spielt eine erhebliche Rolle, dass im Neuen Testament selbst an verschiedenen Stellen ein Markus genannt wird, und an einer Stelle sogar ein Markus in enge Beziehung zu Petrus gebracht ist: 1 Petr 5,13 (eine Stelle übrigens, die Papias gekannt haben dürfte, vgl. Eusebius, Kirchengeschichte III 39,17). Der dort genannte „Sohn“ des Petrus wird in der Literatur – ob zu Recht oder zu Unrecht, kann hier zunächst einmal dahingestellt bleiben – sowohl mit dem in einigen (z. T. sekundär unter dem Namen des Paulus verfassten) Briefen erwähnten Markus (Kol 4,10;2 Tim 4,11;Philm 24) als auch mit dem in Apg 12,12.25;15,37.39 mehrfach genannten, aus Jerusalem stammenden und mit Paulus und Barnabas in Zusammenhang stehenden Johannes Markus identifiziert, obwohl diese Identifikation des Verfassers des Markusevangeliums mit dieser Person gleichen Namens in der altkirchlichen Literatur nirgendwo vorgenommen wird. Setzt man diese Identifikation voraus, kann man trefflich die Korrektur-Frage stellen, ob der Verfasser des zweiten Evangeliums ein aus Jerusalem stammender Jude sein kann.

3.2.2 Die geographischen Angaben im Markusevangelium und der Autor des zweiten Evangeliums

Kenntnis der Geographie Palästinas?

Die Klärung dieser Frage wird mit Hilfe verschiedener Überlegungen versucht, z. B. wird gefragt, ob der Verfasser des zweiten Evangeliums sich in der Geographie Palästinas und Galiläas auskennt, ob er die jüdischen Bräuche einwandfrei beschreibt und ob er noch eine Kenntnis der aramäischen Sprache erkennen läßt – all das wäre ja von einem Jerusalemer Judenchristen zu erwarten. Die Geographie-Kenntnisse Galiläas und Jerusalems auf seiten des Markus werden dabei häufig recht kritisch betrachtet, weil Markus in der Tat an einigen Stellen Jesus eine zumindest merkwürdige Wegstrecke zurücklegen lässt.

In dieser Hinsicht berühmt ist z. B. die Stelle Mk 7,31, die wirklich eine auffällige Zickzacklinie beschreibt, die man für die deutsche Geographie mit der Übersetzung verdeutlicht hat: „von Darmstadt über Frankfurt nach Mannheim mitten durchs Neckartal“ bzw., wenn man es lieber in europäischem Maßstab will: „von Madrid über Paris und Wien nach Rom“. Oder man hat auf Mk 5,1 hingewiesen, wonach Gerasa direkt am See Genesareth gelegen haben soll, was aber mitnichten der Fall war. Führen so eine Reihe von Angaben im Evangelium dazu, dem Verfasser eine gute Kenntnis der Geographie Galiläas abzusprechen, so traut man ihm aufgrund der falschen Reihenfolge in 11,1 – auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem kommt man erst nach Bethanien und dann nach Bethphage – trotz der zutreffenden Angabe von dem dem Ölberg gegenüberliegenden Tempel in 13,2 – auch keine Kenntnis der Geographie Jerusalems zu, so dass von daher gewichtige Argumente gegen den aus Jerusalem stammenden Johannes Markus als Verfasser unseres Evangeliums angeführt werden können.

Aber so eindeutig sind die aus diesen Stellen sich ergebenden Konsequenzen durchaus nicht, da wir kaum davon ausgehen können, dass auch die gebildetsten Menschen – und dass der Autor des zweiten Evangeliums zu diesen gerechnet werden muss, unterliegt keinem Zweifel! Es war nicht der schon in der Alten Kirche hochgeschätzte Matthäus, der die Literaturgattung Evangelium geschaffen hat, sondern Markus – damals alle zureichende geographische Kenntnisse hatten. Ein Einwohner Jerusalems muss nicht notwendig exakte Kenntnisse der Örtlichkeiten Galiläas gehabt haben, und aus der angeblich falschen Reihenfolge in Mk 11,1 kann man m. E. nicht einfach auf eine Unkenntnis der Örtlichkeiten Jerusalems schließen, da diese Stelle auch als bloße Aufzählung und nicht als exakte Reihenfolge gemeint sein kann. Wenn es noch eines weiteren Beweises bedarf, so kann darauf hingewiesen werden, dass sich ähnliche Rundstrecken wie in 7,31 auch sonst in der antiken Literatur finden, obwohl die Verfasser häufig weitgereist waren, um sich kundig zu machen und die genaue Kenntnis der Örtlichkeiten und Traditionen als wichtige Voraussetzung für ihre Arbeit nennen.

3.2.3 Die Beschreibung jüdischer Bräuche im Markusevangelium und der Autor des zweiten Evangeliums

Intime Kenntnis des Judentums?

Ob das gleiche Urteil auch für den Hinweis gelten kann, Markus lasse ein gewisses Unverständnis für jüdische Bräuche erkennen, z. B. wenn er in 7,3 alle Juden nur mit rituell gewaschenen Händen zum Essen gehen lässt, ist schwierig, weil sich hier zugleich die Frage nach dem Verhältnis des Markus zu seinem Material stellt. Fühlte der Verfasser des zweiten Evangeliums sich verpflichtet, alle Unschärfen, die seine Quellen enthielten, zu verbessern, wenn er sie erkannte? Steht hinter einer solchen Ansicht nicht eher das moderne, vor allem auf historische Exaktheit bedachte, der Antike bzw. zumindest den Evangelisten so aber gar nicht geläufige Denken? Anders wäre die Stelle freilich zu beurteilen, wenn Markus an dieser Stelle die erläuternden Bemerkungen selbst eingefügt hätte. Eine solche Unschärfe wäre einem Jerusalemer Judenchristen in seinen erläuternden Bemerkungen wohl kaum unterlaufen.

Ähnliches gilt m. E. für 10,12, wo Markus Jesus eine Scheidungsmöglichkeit auch für die Frau in den Mund legt, was damals im palästinischen Judentum nach unserer gegenwärtigen Kenntnis kaum möglich gewesen ist. Jedenfalls hat Josephus entsprechende Fälle deutlich als unjüdisch charakterisiert, und die in der Literatur angeführten Gegenbeispiele sind entweder spät oder von sehr begrenzter Aussagekraft. Auch im Blick hierauf wird man freilich nicht ohne weiteres die Verfasserschaft eines palästinischen Judenchristen ausschließen können, weil der Verfasser einfach die Praxis seiner Gemeinde wiedergeben kann, ohne auf ein historisches Wort Jesu und dessen jüdischen Kontext zu reflektieren. Der Verfasser hätte sich dann in dieser Hinsicht nicht anders verhalten als Matthäus, der in dieselbe Perikope eine Ausnahmeklausel einfügt, die sicher nicht von Jesus stammt.

Aber kann man sich in allen Fällen mit der Rückführung der Unschärfe auf die Tradition, die den Verfasser nicht besonders interessiert haben soll, helfen? Hätte ein jüdischer Autor z. B. Mk 14,12 schreiben können, wo der erste Tag (= 15. ► Nisan) des Festes der ungesäuerten Brote, das auch Juden mit dem Pascha gleichsetzen konnten, mit dem Rüsttag auf Pascha gleichgesetzt wird, zumal durch eine kleine Korrektur die Sache hätte richtig gestellt werden können? So sehr man für das einzelne Versehen gute Entschuldigungsgründe anführen kann, so sehr spricht deren Menge doch entschieden gegen einen palästinischen Judenchristen, wenn man nicht zu Konstruktionen greifen will, die etwa lauten: die große zeitliche und räumliche Distanz des Markus zum Judentum im Jahre 70 n. Chr. mache diese Ungenauigkeiten erklärbar.

3.2.4 Übersetzungen und ► Semitismen im Markusevangelium

Ermöglichen es so die geographischen Angaben und die Schilderung jüdischer Bräuche nicht, die Verfasserschaft des Markusevangeliums durch einen palästinischen Judenchristen definitiv zu kontrollieren und zu einer völlig eindeutigen Entscheidung zu gelangen, so sprechen alle Merkmale zusammen genommen doch eher gegen als für die Verfasserschaft eines palästinischen Judenchristen. Eine Kontrollmöglichkeit dieses Befundes könnte evtl. in den Semitismen (9,5;11,21;14,45: Rabbi; 10,51: Rabbuni; 11,9.10: Hosanna) und den Übersetzungen (3,17;5,41;7,11.34;15,22.34, vgl. auch die Erklärung des Rüsttages in 15,42) liegen – wenn diese, wie häufig angenommen wird, vom Evangelisten stammen, dann war er des Hebräischen und Aramäischen mächtig, dürfte also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus Palästina stammen. Aber auch hier ist vor voreiligen Schlüssen zu warnen. Besagt der in der Tat beobachtbare Rückgang der Semitismen vom Markus- zum Matthäusevangelium etwas über die Sprachkenntnisse des ersten und zweiten Evangelisten, oder geht dieser Rückgang einfach auf das Fortschreiten der Tradition und die zurückgehende Bedeutung des palästinischen Raumes für die Urchristenheit zurück?

Semitismen

Das Vorkommen der Semitismen stellt vor allem ein Problem dar, wenn man für die mündliche Phase der Überlieferung „die Vorstellung einer festen Ausdrucksebene“ nicht annehmen will. Dann muss man nämlich die Frage stellen, warum Markus, der offensichtlich damit rechnet, dass ein zumindest wesentlicher Teil seiner Leser / Hörer das entsprechende Wort nicht versteht, dieses Wort überhaupt bringt und es anschließend übersetzt, wenn er die ihm mündlich überlieferten Traditionen in der Regel so frei wiedergibt, dass man seine Vorlagen nicht mehr erkennen kann. So sehr man Letzteres (vielleicht schon angesichts der Divergenz der Urteile über die zugrundeliegenden Quellen) zugeben muss, so wenig lässt sich das Problem der Semitismen mit der Annahme eines sehr freien Wortlauts der Quellen lösen.

Man wird mit dem Hinweis auf die Semitismen umso vorsichtiger umgehen, als wir unglücklicherweise fast nichts über den Wechsel des Traditionsstoffes vom ursprünglich Aramäischen zum Griechischen wissen und diese Frage unberechtigterweise in der Forschung auch keine größere Rolle spielt. Der deutlich feststellbare Rückgang der semitischen Wendungen vom Markusevangelium über das des Matthäus und des Johannes zu dem des Lukas, welch letzterer solche überhaupt nicht mehr kennt, ist auch als Zeichen der Entfernung von der ursprünglich aramäischen Tradition zu verstehen, so dass die Tatsache, dass das älteste Evangelium sowohl absolut als auch im Verhältnis zu seiner Länge die meisten Semitismen enthält, in keiner Weise überraschen und keineswegs als Hinweis für eine semitische Muttersprache des Autors dieses Werkes interpretiert werden kann.

Übersetzungen

So bleiben allein noch die Übersetzungen – können sie Johannes Markus oder einen anderen Markus aus Palästina als Verfasser des Evangeliums retten? Aufgrund der gleichartigen Form ihrer Einleitung (3,17;7,11.34;15,42, vgl. auch 5,41 und 15,34), die auffälligerweise bei dem aus Palästina stammenden Juden Josephus nur ein einziges Mal begegnet und auch dort noch textlich unsicher ist (Ant. VII 3,2 § 67), kann man zu der Annahme neigen, diese müssten vom Endredaktor des Evangeliums stammen – aber eine über viele Zweifel erhabene Annahme haben wir damit nicht erreicht, da die Notwendigkeit, die in den zugrundeliegenden Traditionsstücken gebrauchten semitischen Termini den Zuhörern zu erläutern, auch schon vor der Integration dieser Stücke in das Evangelium bestand. Markus erhielt diese Traditionen bereits in griechischer Sprache und es spricht auch nichts dafür, dass er sie erstmalig aus einer judenchristlichen Umgebung in eine heidenchristliche übertrug. Angesichts der Tatsache, dass die Texte mit Sicherheit nicht erst von Markus ins Griechische übertragen, sondern schon längere Zeit in Griechisch überliefert wurden, ist es in keiner Weise einzusehen, wieso erst Markus die Notwendigkeit einer solchen Übersetzung empfunden haben soll, während in der Überlieferung vorher diese fremdsprachigen Termini unübersetzt geblieben sein sollen. Genau die gegenteilige Annahme ist wahrscheinlich. Die gleiche sprachliche Einleitung dieser Übersetzungen im Werk des Markus mag dann durchaus auf Markus zurückgehen, die eigentliche Übersetzung des Textes wird aber nicht von ihm stammen.

Das Ergebnis unserer Überlegungen ist nicht zwingend. Die Gesamtheit der vorgetragenen Argumente weist aber in dieselbe Richtung: Der Verfasser des zweiten Evangeliums ist kein aus Palästina gebürtiger Judenchrist gewesen. Deshalb kommt der gelegentlich als Verfasser in Aussicht genommene Johannes Markus der Apostelgeschichte nicht in Frage.

3.3 Die Bedeutung einer evtl. Augenzeugenschaft des Verfassers für das Verständnis des Markusevangeliums

Augenzeugenschaft und die li terarische Eigenheit der Evangelien

So schön es im übrigen wäre, wenn wir den Verfasser des Markusevangeliums genauer bestimmen könnten, so sehr muss doch auch darauf hingewiesen werden, dass selbst dann, wenn der Jerusalemer Zeuge der ersten Stunde, Johannes Markus, mit Sicherheit als Verfasser erwiesen werden könnte, damit unsere Erkenntnisse über die Evangelien und die Einsicht in ihren literarischen Charakter nicht verändert würden.

Wir hätten auch dann weiterhin davon auszugehen, dass unsere Evangelien, also auch das des Markus, auf Tradition beruhen, die lange Zeit mündlich überliefert wurde und an den Gesetzmäßigkeiten solcher Überlieferung teilhatte, und dass das Ziel der Evangelien nicht historische Belehrung, sondern Stärkung und sekundär auch Weckung des Glaubens war.

Die historische Glaubwürdigkeit des zweiten Evangeliums würde durch eine Zuweisung an den aus Jerusalem stammenden Johannes Markus keineswegs verstärkt.

3.4 Ein unbekannter Markus als Verfasser des zweiten Evangeliums?

Gründe für die Entstehung des Papiaszeugnisses

So überzeugend die Hinweise aus dem zweiten Evangelium gegen die Verfasserschaft des Johannes Markus aus Jerusalem insgesamt sind, so sehr leiden diese Einwände daran, dass sie die Entstehung der Zuweisung dieses Evangeliums an Markus, den Dolmetscher des Petrus, in der Alten Kirche nicht erklären können. Diese Tradition muss ja ihren Grund haben. Angesichts dieses Mangels muss die Frage gestellt werden, ob sich nicht wenigstens noch ansatzweise Gründe finden lassen, die zum Zeugnis des von Papias überlieferten ► Presbyters Johannes geführt haben und die dessen Entstehung verständlich machen können.

Petrus und Markus (zu IPetr 5,13)

Wir können diese Frage nicht im Detail beantworten, aber wir stehen auch nicht völlig ratlos vor ihr. Denn Petrus, Rom und Markus werden auch schon in dem zweifellos nicht von Petrus stammenden Ersten Petrusbrief zusammengebracht. Da dieser Brief ► pseudepigraphisch (d. h. unter falschen Namen) geschrieben ist, der Verfasser sich also die Autorität des Petrus leiht, um seinem Schreiben größere Durchsetzungskraft zu verleihen, muss hinter der Erwähnung in 1 Petr 5,13 die Kenntnis eines engen Verhältnisses zwischen Petrus und seinem „Sohn“ Markus stehen. Dieser Markus muss der Gemeinde des anonymen Verfassers des Ersten Petrusbriefes und den Gemeinden der Empfänger dieses Briefes nicht notwendig bekannt gewesen sein, aber dass Petrus einen „Sohn“ – in welchem Sinne auch immer – mit Namen Markus gehabt hat, setzt dieser Text als weithin verbreitete Tatsache voraus. Alles andere würde dem gewählten pseudepigraphischen Charakter des Schreibens widersprechen und wäre insofern kontraproduktiv.

Wenn dieser Markus mit dem Johannes Markus der Apostelgeschichte und insoweit mit dem Markus der paulinischen Tradition identisch ist, wissen wir nicht, wann dessen Wechsel von Paulus zu Petrus erfolgt ist. In jedem Falle aber haben wir in 1 Petr 5,13 ein Zeugnis der Verbundenheit von Petrus und einem Markus, das entweder das Zeugnis des Presbyters veranlasst haben könnte oder aber mit diesem auf einer gemeinsamen Tradition beruht.

1 Petr 5,13 bezeugt, dass die Verbindung zwischen (einem) Markus und Petrus schon vor Papias bekannt war. Das relativiert die Bedeutung des Papiaszeugnisses für die Verfasserfrage des Markusevangeliums erheblich.

Woher der Presbyter seine über 1 Petr 5,13 hinausgehenden Kenntnisse hat, lässt sich nicht mehr erkennen. Der dargestellte apologetische Charakter der Nachricht des Presbyters jedenfalls spricht nicht gerade dafür, dass wir es hier – was die Behauptung des Papias, Markus sei der „Dolmetscher“ des Petrus gewesen, angeht – mit einer historisch zutreffenden Überlieferung zu tun haben.

Der Autor des Markus Evangeliums ist unbekannt. Er trägt nach der altkirchlichen Tradition den Namen Markus. Dieser Name wird auch in der Neuzeit weiterhin für den anonymen Verfasser gebraucht.

Die Frage, ob der Verfasser ein Heiden- oder Judenchrist war, werden wir zusammen mit dem Problem der Zusammensetzung seiner Gemeinde erörtern (s. u. Nr. 5).

4. Die Abfassungszeit des Markusevangeliums

4.1 Die Nachrichten aus der Alten Kirche

Man kann auch die Erörterung dieses Problems mit Hilfe der Nachrichten aus der Alten Kirche zu lösen versuchen, da es einige Nachrichten aus dieser Zeit gibt, nach denen das Evangelium entweder noch zu Lebzeiten des Petrus oder nach dessen Tod verfasst worden sein soll. Es besteht aber Einmütigkeit unter den Exegeten, dass mit Hilfe dieser Nachrichten, die im übrigen weitgehend von dem oben angeführten Papiastext abhängig sein dürften, zu keiner weiteren Klarheit über die Abfassungszeit des Evangeliums zu gelangen ist.

4.2 Die fortgeschrittene Entwicklung des Materials

Markus und Q

Einige allgemeine Beobachtungen führen zu einer nicht zu frühen, aber auch nicht zu späten Ansetzung. So weist die in dem Markus-Stoff erkennbare Weiterentwicklung gegenüber dem Stoff der Logienquelle Q (z. B. die Reflexion der Bedeutung des Leidens Jesu) auf eine spätere Abfassung als Q, die gegenüber den Evangelien des Matthäus und Lukas erkennbare, noch nicht so weit fortgeschrittene Entwicklung, dass z. B. von Kirchenordnung und Hierarchie noch nichts zu erkennen ist, auf einen zeitlichen Abstand zu diesen.

Der Trennungsprozess zwischen „Kirche und Synagoge“

Allerdings muss man mit solchen Parallelisierungen vorsichtig umgehen, da hierbei in der Regel eine ähnliche und gleichzeitige Entwicklung an allen Orten vorausgesetzt wird. Diese Annahme, die nicht einmal für die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts passt, widerspricht aber den noch in den Evangelien erkennbaren Tatbeständen. Denn trotz eines in der Regel nicht als unerheblich angesehenen zeitlichen Abstandes zwischen der Abfassung des Matthäus- und des Johannesevangeliums haben beide die Trennung vom Judentum hinter sich und das Johannesevangelium erweckt den Eindruck, als säßen die Wunden dieser Trennung noch tief und wären noch nicht vernarbt. Die Trennung vom Judentum dürften die Gemeinden des Matthäus und des Johannes also durchaus zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt vollzogen haben, so dass der in den Evangelien sich jeweils spiegelnde Entwicklungsstand der Gemeinden nicht einfach nach dem Schema: „weiterentwickelt, also später“ gedeutet werden darf. Es ist vielmehr mit unterschiedlichen Entwicklungen in einzelnen Orten zu rechnen. Von daher sind die angeführten Vergleichsargumente mit Q und den ► Seitenreferenten des Markus nur mit Vorsicht zu verwenden.

Frühdatierung des Markusevangeliums?

Auf eine nicht allzu frühe Entstehungszeit weist Mk 10,35 ff. hin: die beiden Zebedäussöhne Jakobus und Johannes dürften zur Zeit der Abfassung des Evangeliums bereits gestorben sein. Da Johannes beim Apostelkonzil eine wichtige Rolle innehatte (vgl. Gal 2,9), scheiden die auch in jüngster Zeit wieder vertretenen Frühansetzungen des Evangeliums in den 30er oder 40er Jahren aus. Auch der Umstand, dass die Verkündigung des Evangeliums von Jesus bereits weltweit geschieht (Mk 13,10;14,9), dass das jüdische Gesetz kein grundsätzliches Problem mehr darstellt (Mk 7) und die Parusieverzögerung ebenfalls bereits ihre Spuren im Evangelium hinterlassen hat, wenn auch das Problem im zweiten Evangelium keineswegs so groß ist wie etwa im Matthäusevangelium (vgl. Mk 13,30;9,1;13,32 mit Mt 25,1–13), spricht gegen eine Frühansetzung. Gleichwohl lassen alle diese Hinweise einen weiten Spielraum für die Abfassungszeit des Markusevangeliums.

4.3 Die Endzeitrede Mk 13 und die Datierung des Markusevangeliums

Hier vermag nach einer auffälligen Übereinstimmung unter den Exegeten nur die sogenannte synoptische Apokalypse (Mk 13) zu weiterer Konkretisierung zu verhelfen und diese verweist auf eine Abfassungszeit des Evangeliums um die Zeit des Jüdischen Krieges. Konkret geht es um die Frage, ob der Text Mk 13 bereits auf das Ende des Jüdischen Krieges und damit auf die Zerstörung Jerusalems zurückschaut oder ob der Text Signale enthält, dass dieser Krieg noch Gegenwart ist.

Mk 13 und der jüdische Krieg

Über diese Frage dauern die Kontroversen seit Generationen an. Während die einen sich sicher sind, dass Mk 13,2 nur als vaticinium ex eventu, d. h. als eine fiktive Prophezeiung, die bereits auf das vorhergesagte Ereignis zurückblickt, zu verstehen ist, und der Verfasser des Markusevangeliums so bereits die Zerstörung Jerusalems kennt und voraussetzt, halten die anderen den Zeitpunkt der Zerstörung Jerusalems in Mk 13 noch für zukünftig, den Krieg aber für bereits in vollem Gange. Vergleicht man die Berichte des Flavius Josephus und des Dio Cassius über die Einnahme des Tempels und die Zerstörung Jerusalems, so legt sich die Annahme eines vaticinium ex eventu in der Tat nicht nahe, und es dürfte auch nicht von ungefähr kommen, dass Lukas das Motiv von Mk 13,2 erweitert und auf die ganze Stadt Jerusalem bezogen hat. Für die Bewertung dieses Tempelwortes spielt auch eine Rolle, dass entsprechende Weissagungen im Alten Testament und im Judentum zahlreich vorhanden sind (vgl. 1 Kön 9,7 f.;Jer 7,14;26,6.9.18;Mich 3,12;äHen 90,28). Vor nicht geringere Schwierigkeiten stellt die zweite zur Datierung des Markusevangeliums immer wieder herangezogene Stelle, Mk 13,14. Hier bereitet schon die Deutung erhebliche Probleme, weswegen auch hier nicht eindeutig ein vaticinium ex eventu zu identifizieren ist.

Krieg und Endzeit

Nimmt man aber den Bezug des Gesamttextes auf den Jüdischen Krieg wirklich ernst, d. h. führt seine Entstehung auf die Zeit des Krieges (66–70) zurück und beachtet die Unterscheidung zwischen Krieg und Endzeit, dann kommt es dem Text gerade darauf an, den Krieg noch nicht als das Ende, sprich die Wiederkunft Christi, anzusehen.

Ein vormarkinisches „Flugblatt“ in Mk 13?

Ist diese Deutung von Mk 13 zutreffend, so wird die Aufnahme dieser Rede bzw. ihrer traditionellen Teile – die einschlägigen Autoren rechnen in Mk 13 mit der Übernahme einer Vorlage, z. B. eines Flugblattes, durch den Evangelisten, wobei in diese Vorlage evtl. auch schon weiteres Traditionsmaterial, etwa aus der Zeit der Krise um die Aufrichtung der Statue Caligulas im Tempel von Jerusalem, eingegangen sein soll – in das Evangelium gut verständlich und diese setzt den Jüdischen Krieg voraus, wobei offen bleiben kann, wie weit der Krieg bei der Abfassung der Vorlage des Markus bereits gediehen war. Insofern Abfassung des Stückes und Abfassung des Evangeliums nicht dasselbe sind, wird zwischen beiden durchaus eine gewisse Zeitspanne liegen – die Vorlage musste von Jerusalem bzw. dessen Umgebung noch zu Markus gelangen! –, und bei der Abfassung des Evangeliums dürfte der Krieg dann in der Tat zu Ende gewesen sein, was den Nachvollzug der Aussage, der Krieg sei noch nicht das Ende der Welt, sicher erleichtert hat.

Es ist am einleuchtendsten, auch wenn eindeutige Hinweise in Mk 13 wie z. B. vaticinia ex eventu fehlen, mit einer Abfassung des Markustextes nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 zu rechnen. Diese Datierung wird gerade in letzter Zeit häufiger vertreten.

5. Der Abfassungsort des Markusevangeliums

5.1 Hinweise aus der Alten Kirche

Clemens und Irenäus als Zeugen für Rom

Die Abfassung des Markusevangeliums wird häufig nach Rom verlegt. Diese Annahme basiert wie die Zuschreibung des Evangeliums an Markus auf einer Nachricht aus der Alten Kirche, die direkt erstmals bei Clemens von Alexandrien (t vor 215) begegnet:

„Beim Evangelium nach Markus waltete folgende Fügung. Nachdem Petrus in Rom öffentlich das Wort gepredigt und im Geiste das Evangelium verkündet hatte, sollen seine zahlreichen Zuhörer Markus gebeten haben, er möge, da er schon seit langem Petrus begleitet und seine Worte im Gedächtnis habe, seine Predigten niederschreiben. Markus habe willfahrt und ihnen der Bitte entsprechend das Evangelium gegeben. Als Petrus davon erfuhr, habe er ihn durch ein mahnend Wort weder davon abgehalten noch dazu ermuntert.(Eusebius, Kirchengeschichte VI 14,6)

Da auch schon Irenäus von Lyon († um 200) die Petrus-Rom-Tradition kennt und Markus wie Papias als Schüler und Interpreten des Petrus bezeichnet (vgl. Haer. III 1,2, gr. überliefert bei Eusebius, Kirchengeschichte V. 8,2 f.), könnte auch er evtl. die Abfassung des Markusevangeliums in Rom voraussetzen. Zum Ausdruck bringt er dies direkt allerdings nicht. Auch im sog. anti-marcionitischen Prolog, der zwischen 160/180 und der Mitte des 3. Jahrhunderts entstanden sein dürfte, werden Petrus, Markus und Italien zusammen genannt. Die Romfrage ist auch deswegen von Bedeutung, weil es neuerdings einen gewissen Trend gibt, das Markusevangelium auf dem Hintergrund des römischen ► Kaiserkultes sozusagen als dessen Antityp zu lesen, was bei einer Abfassung in Rom natürlich wesentlich leichter wahrscheinlich zu machen wäre als bei einer Abfassung in Syrien.

5.2 Hinweise mit Hilfe der Sprache des Markusevangeliums

In der neueren Diskussion hat man diese Nachricht dadurch abzusichern versucht, dass man das Markusevangelium nach Latinismen durchforscht hat, und man ist dabei durchaus auch fündig geworden.

Die Latinismen als Hinweis auf Rom?

Worte wie Caesar, census (12,14 Vermögensschätzung, Volkszählung), centurio (15,39.44 f. Führer einer Zenturie), flagellare (15,15 auspeitschen), legio (5,9.15 Legion) und praetorium (15,16 Amtswohnung des Statthalters) begegnen bei Markus insgesamt auffällig häufig, sind aber wohl dennoch kein Beweis für die Abfassung des Markusevangeliums in Rom, da nicht nur die Latinismen, sondern auch die Prägung der markinischen Sprache durch das Hebräische und Aramäische deutlich sind und die Herkunft der Latinismen durch die Anwesenheit der Römer im Osten genügend erklärbar ist. Dafür, dass die Anwesenheit der Römer als Erklärung genügt, spricht, dass die meisten der genannten Worte auch als Lehnworte Eingang in die Sprache der Rabbinen gefunden haben. So fehlt bei den o. g. Worten in Bauer / Alands Wörterbuch zum griechischen Neuen Testament nur zu praetorium der Hinweis auf die Übernahme in die rabbinische Sprache.

Die Ambivalenz der Argumente wird im übrigen schön deutlich, wenn man sieht, wie Ebner in seiner Einleitung (171) in Mk 12,42 mit der Erwähnung der kleinsten römischen Münze, des Quadrans, das entscheidende Argument für eine Abfassung in Rom findet, während Theissen (Entstehung 79) gerade unter Verweis auf diese Stelle gegen Rom plädiert.

Massiv gegen Rom spricht m. E. aber der Umstand, dass Markus der erste ist, der in großem Umfang das mündlich in den Gemeinden umlaufende Material sammelt (was kleinere Vorgänger-Sammlungen nicht ausschließt, s. u. Nr. 7 und oben § 4 zur Logienquelle Q) und in den Zusammenhang eines Lebens Jesu bringt. Dafür war er auf eine gewisse Nähe zum Ursprung und zum Zentrum der Jesusbewegung angewiesen.

Nähe zum Ursprung der Jesusbewegung

Es ist kaum denkbar, dass die Traditionen, die in das Markusevangelium Eingang gefunden haben, allesamt schon um das Jahr 70 auch in Rom bekannt gewesen sind. Schon Paulus dürfte sie ja trotz mehrmaligen Aufenthaltes in Jerusalem nicht oder jedenfalls nicht viele davon gekannt haben, sonst hätten sich sicher mehr Spuren davon in den Paulusbriefen erhalten als die drei Herrenworte, auf die Paulus ausdrücklich Bezug nimmt (1 Kor 7,10 f.;9,14;11,23 ff.;[1 Thess 4,13 ff.]).

Auch eine deutlich noch vorhandene Nähe zum Judentum – jüdische Fragen spielen durchaus noch eine Rolle im Markusevangelium, vgl. z. B. 7,1–15 oder die Auseinandersetzungen mit den jüdischen Gruppen in den Streitgesprächen sowie die Nähe zum Jüdischen Krieg in Mk 13 – lassen es nicht geraten sein, das Markusevangelium zu weit vom jüdischen Mutterland entfernt entstanden zu denken, wenngleich die an der Erläuterung jüdischer Sitten erkennbare Ausrichtung zumindest auch auf Heidenchristen eine Entstehung in Judäa oder Galiläa ausschließt.

Das Markusevangelium erfordert die Annahme einer gewissen Distanz, aber zugleich einer gewissen Nähe zu Palästina. Diese beiden Bedingungen erfüllt am ehesten der syrische Raum, so unbefriedigend diese allgemeine Zuweisung ist. Das Markusevangelium dürfte also am ehesten in Syrien entstanden sein.

6. Die markinische Gemeinde

Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen

Die gleichzeitige Distanz und Nähe zum Judentum – einerseits interessieren Fragen des Gesetzes noch so, dass die darum kreisenden Perikopen in das Evangelium aufgenommen werden, andererseits kommt aber eine gesetzestreue Haltung offensichtlich nicht mehr in Frage und Gesetzesbräuche müssen sogar erläutert werden – ist am ehesten als Hinweis auf eine aus Heiden-und Judenchristen gemischte Gemeinde zu verstehen, weil man andernfalls annehmen müsste, Markus habe die jüdische Gesetzesfragen behandelnden Perikopen allein aus historischem Interesse in sein Werk übernommen.

Zwar ist solches Interesse gerade bei Markus nicht von vornherein auszuschließen, weil zum einen die Sorge um den Verlust und das Zerredetwerden der Tradition ein wichtiges Motiv für die Abfassung seines Werkes gewesen sein könnte, und zum anderen keineswegs alle Züge in seinem Werk bzw. in den Einzelperikopen auf ein aktuelles Interesse zurückgeführt werden können, obwohl diese Behauptung dem gegenwärtigen Trend der Forschung eher zuwiderläuft. Aber die Übernahme einer Vielzahl von entsprechenden Traditionen spricht doch dafür, dass an ihnen auch ein Interesse in der Gemeinde des Markus bestand und dieses wird am ehesten in einer zumindest auch judenchristlich beeinflussten Gemeinde verständlich.

Der Vielzahl der im Einzelnen erörterten Ungenauigkeiten in palästinischer Geographie und jüdischen Bräuchen bei gleichzeitigem Interesse an diesen wird vielleicht am ehesten die Annahme gerecht, im Verfasser des zweiten Evangeliums einen heidnischen Frommen aus dem Umkreis der Synagoge, also einen früheren sog. Gottesfürchtigen, zu sehen, der für eine aus Juden- und Heidenchristen gemischte Gemeinde schreibt.

Der Evangelist und seine Gemeinde

Die Gemeinde des Markus hat sowohl die Traditionen, die er in seinem Evangelium verarbeitet, als auch den theologischen Standpunkt des Markus mit Sicherheit in erheblichem Maße beeinflusst, allerdings wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach auch ein Vorgang auf Gegenseitigkeit gewesen sein. Inwieweit er bei seiner Arbeit vor allem seine eigene Gemeinde im Blick hatte, wissen wir nicht. Dass er auch für sie geschrieben hat, ist von vornherein wahrscheinlich, dass er ausschließlich für sie geschrieben hat, ist angesichts der literarischen Eigenart seines Werkes weniger naheliegend, was nun wiederum nicht meint, dass er sein Erzählwerk von vornherein als bevorzugtes Instrument der weltweiten Verkündigung des Evangeliums, von der er ja selbst zweimal spricht, angesehen hat.

Die angezielte Leserschaft

Da Markus sich entschieden hat, keinen Brief, sondern ein Evangelium zu schreiben, und dies mit Hilfe der in seiner Gemeinde umlaufenden und auch sonst erreichbaren Traditionen zu tun, kann er durchaus von Anfang an eine Leserschaft angezielt haben, die weit über den Rahmen seiner Heimatgemeinde hinausging, ja, angesichts der Tatsache, dass er der Erste war, der die Traditionen umfassend zu sammeln versuchte, kann die Absicht, ein Werk für die ganze Kirche zu schreiben, jedenfalls nicht von vornherein völlig ausgeschlossen werden. Denn das, was Markus für die Einzelperikope akzeptiert (Mk 14,9), könnte er durchaus auch auf sein Werk übertragen haben (Mk 13,10).

Die Perspektive des Markusevangeliums geht über die Gemeinde des Verfassers hinaus und schließt möglicherweise die ganze Kirche ein.

7. Der Markusschluss

Fortsetzung hinter Mk 16,8?

Die Bibelausgaben und-Übersetzungen bieten zwar hinter Markus 16,8 noch weiteren Text, es wird aber immer darauf hingewiesen, dass es sich dabei nach Ausweis der ► Handschriften um eine spätere Hinzufügung handelt, die im zweiten Jahrhundert entstanden sein dürfte, wenn auch ihre älteste textliche Bezeugung wesentlich jünger ist.

Dass auf die Flucht der Frauen vom Grabe Jesu keine Fortsetzung mehr erfolgt sein soll, ist nicht nur angesichts der Fortsetzungsberichte der ► Seitenreferenten, sondern auch innerhalb der Erzählung des Markus überraschend. Denn der Engel erteilt den Frauen im Grabe ausdrücklich den Befehl, die Jünger von der bevorstehenden Erscheinung des Auferstandenen in Galiläa in Kenntnis zu setzen, und auch der irdische Jesus hat in 14,28 auf ein Treffen nach der Auferstehung in Galiläa verwiesen.

Deswegen wurde im Laufe der Forschung immer wieder eine ursprüngliche Fortsetzung postuliert, die im Laufe des Überlieferungsprozesses verloren gegangen sein sollte, und es wurden auch immer wieder Rekonstruktionen dieses angeblich verlorenen Markusschlusses vorgelegt. Jedoch ist der Verlust eines Blattes in den ältesten ► Handschriften genau an dieser Stelle, wo ja die Perikope von der Auffindung des leeren Grabes mindestens zu einem gewissen Abschluss gekommen ist, sehr schwer zu erklären, zumal dieser Verlust schon sehr früh, zumindest vor der Abfassung des Matthäus- und Lukas Evangeliums, erfolgt sein müsste, da die Seitenreferenten hinter Mk 16,8 erkennbar eigene Wege gehen und offensichtlich in ihrer Mk-Quelle für diese Fortsetzung keinen Stoff mehr gefunden haben. Der an sich überraschende Schluss mit dem Ungehorsam der Frauen gegenüber dem Engelbefehl ist dann weniger überraschend, wenn man darauf achtet, wie sehr der Evangelist innerhalb seines Werkes Widersprüche zwischen Schweigen und Reden schafft (vgl. dazu unten 11.1.1)

Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass der ursprüngliche Text des Markusevangeliums mit 16,8 endete und dass der Ungehorsam der Frauen gegenüber dem Befehl des Engels vom Evangelisten bewusst gestaltet wurde. Ohne die auf die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes bei Matthäus und Lukas folgenden Erscheinungserzählungen hätte wohl niemand eine Fortsetzung des Markusevangeliums hinter 16,8 erwartet.

8. Die Quellen des Markusevangeliums

Welche Quellen dem Verfasser des Markusevangeliums schriftlich vorgelegen haben, ist nach wie vor umstritten, aber hinsichtlich einiger Kapitel gibt es doch weit verbreitete Zustimmung, dass Markus hier auf eine vormarkinische Sammlung zurückgreifen konnte.

Das gilt vor allem für die Sammlung der Streitgespräche in 2,1–3,6, für die Gleichnisse in Kap. 4, natürlich mit Ausnahme von 4,11 f., für das Spruchmaterial in 10,1–12.17–27.35–45 und Teile der Passionsgeschichte, wobei man sich in der Regel auf 14–16 beschränkt und der von R. Pesch u. a. in seinem Markus-Kommentar vertretenen Ansicht, Markus benutze bereits ab 8,27 ff. weitestgehend eine ihm vorliegende, sehr alte und aus der Jerusalemer Urgemeinde stammende Passionsgeschichte, nicht folgt. Darüber hinaus kommen auch die Wundergeschichten in 4,35 ff. und Teile der synoptischen Apokalypse (s. o. Nr. 4.3) als Teile vormarkinischer Sammlungen in Frage.

Selbst neuere Arbeiten, die die Einheitlichkeit des Stiles des zweiten Evangeliums und die daraus resultierende Schwierigkeit, die dem Evangelium zugrunde liegenden Quellen noch erheben zu können, betonen, gehen nicht davon aus, dass der Evangelist sein Werk ohne Quellen verfasst hat.

9. Das Problem des Urmarkus

Ur- oder Deuteromarkus

Auch heute noch wird in der Forschung, wie beim Problem der synoptischen Frage kurz erwähnt, gelegentlich die Annahme vertreten, nicht der Verfasser des uns heute vorliegenden Markusevangeliums habe als erster die Gattung Evangelium geschaffen, sondern er habe bereits einen Vorgänger gehabt.

Für diese Annahme stützt man sich vor allem auf die Übereinstimmungen zwischen den Evangelien des Matthäus und Lukas gegen Markus im mit dem Markusevangelium gemeinsamen Stoff (also auf die sog. „kleineren Übereinstimmungen“) und auf die sog. „große“ oder „lukanische“ Lücke im Lukasevangelium, in der Mk 6,45–8,26 ausgelassen sind und die Lukas in seiner Markusvorlage deswegen nicht gefunden haben soll.

Da jedoch auch die Urmarkus-Hypothese nicht in der Lage ist, diese kleineren Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus im mit Markus gemeinsamen Stoff, zu erklären und zudem das Urmarkus-Exemplar des Lukas von dem des Matthäus noch abgewichen sein muss, wenn die Urmarkushypothese das Fehlen von Mk 6,45–8,26 nur bei Lukas erklären soll, verzichtet man besser auf die Annahme dieser weiteren Unbekannten.

Dasselbe gilt, wenn man statt eines Urmarkus als Vorlage für die ► Seitenreferenten einen sog. Deuteromarkus, also eine veränderte Neuausgabe des Markusevangeliums, annimmt. Auch dessen Annahme hat sich, obwohl sie immer wieder und aufgrund des vehementen Eintretens von A. Fuchs vertreten wird, bislang nur gelegentlich durchsetzen können (s. dazu § 3 Nr. 6.2).

10. Die Sprache des Markusevangeliums

Der Zuschreibung des Werkes an einen gottesfürchtigen Frommen aus der Umgebung einer Synagoge widerspricht auch die Sprache des Evangeliums nicht. Wie schwierig das Griechisch des zweiten Evangeliums zu beurteilen ist, kann man an der unterschiedlichen Beurteilung seiner Sprachfertigkeit erkennen.

Unterschiedliche Beurteilungen der Sprache des Mk

Auf der einen Seite kann der Autor aufgrund seiner aus den Übersetzungen erschlossenen Hebräisch-/Aramäisch-Kenntnisse und mancher Eigenarten seines Sprachgebrauchs als in Palästina geborener Jude deklariert werden, andererseits kann er aber auch wegen seines im übrigen doch einigermaßen flüssigen, wenn auch gelegentlich als barbarisch bezeichneten und doch wiederum der Übersetzung der ► Septuaginta überlegenen Griechisch als schon lange in der griechisch sprechenden Diaspora lebend angesehen werden.

Nun finden sich aber eine ganze Reihe von Eigenarten des markinischen Griechisch durchaus auch in nicht semitisch beeinflusster Volksliteratur, und als semitisch beeinflusst geltende Sprach-Merkmale des zweiten Evangeliums lassen sich in nicht geringer Zahl ebenfalls in dieser Literatur nachweisen. Sprache, Komposition und inhaltliche Bearbeitung des Evangelien-Stoffes durch Markus sind im Verhältnis zum sicher nicht semitisch beeinflussten ► Alexanderroman sogar als feinfühliger und geschickter bezeichnet worden. Von daher ist die Zuschreibung des Markusevangeliums an einen Autor semitischer Muttersprache keineswegs mehr so sicher wie einige Zeit angenommen. Dies gilt umso mehr, als andere Autoren der Meinung sind, ein längerer Aufenthalt des Markus in Palästina genüge, um die Übersetzungen und Anklänge an ► Semitismen zu erklären, zumal wir auf die Notwendigkeit solcher Übersetzungen auch schon in der vormarkinischen Tradition hingewiesen haben.

Die Sprache des Evangelisten wird in der neueren Literatur als einheitlicher angesehen als früher, wo man noch die Zuversicht hatte, zwischen der Hand des Evangelisten und seinen Quellen unterscheiden und sauber zwischen Redaktion und Tradition trennen zu können.

Der Evangelist und seine Quellen

Diese Zuversicht kommt der Forschung aus mehreren Gründen immer mehr abhanden. Das hängt zum einen mit den großen Differenzen der Ergebnisse solcher Scheidungsversuche, zum anderen mit der Hoffnung zusammen, die synchronische Betrachtung des Textes werde einhelligere Ergebnisse liefern als die diachronische. In letzterer Hinsicht darf man sehr gespannt sein. Aber auch das Verhältnis des Autors zur mündlichen Tradition wird in der neueren Literatur anders beurteilt als zu Zeiten der klassischen Formgeschichte. Die mündlichen Erzählungen werden bei weitem nicht mehr als so fest in ihrer Form angesehen wie damals und dementsprechend die sprachliche Formung durch den Evangelisten weit höher angesetzt. Ob dem nicht unsere Überlegungen über das Mitschleifen der Übersetzungen hebräisch-aramäischer Termini widersprechen, wird weiter zu prüfen sein.

Die Sprache des Evangelisten spiegelt zwar einen gewissen semitischen Einfluss, aber dieser geht nicht so weit, dass man daraus mit Sicherheit auf einen Judenchristen als Autor schließen könnte.

11. Die theologische Absicht des Evangelisten Markus

Hauptintention: die Christologie

Die primäre Aussageabsicht des markinischen Werkes ist christologisch, so dass die Abschreiber, die schon früh dem Initium „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ (1,1) die Ergänzung „dem Sohne Gottes“ anfügten, durchaus in der Linie der markinischen Absichten blieben, wenn der Titel im Initium nicht ursprünglich sein sollte. Es geht um ein zutreffendes Verständnis Jesu, von dem Markus an markanten Stellen seines Werkes als Sohn Gottes spricht, dessen Bedeutung aber allein mit diesem Titel keineswegs schon zutreffend und umfassend umschrieben ist.

Sohn Gottes

Selbst der Titel „Sohn Gottes“ allein ist noch missverständlich, da dieser nach Ausweis der von Markus übernommenen Traditionen schon in der Kirche des ersten Jahrhunderts unterschiedlich verstanden wurde. Dieser und andere Titel konnten in der Tradition mit Wundergeschichten verbunden werden, die Jesu Würde als Gottessohn oder Davidssohn / Messias zum Ausdruck bringen. Dieses Verständnis lehnt Markus nicht ab, aber er hält es für außerordentlich missverständlich und ergänzungsbedürftig, weswegen er dieser ► theologia gloriae eine weitere Dimension hinzufügt, die des niedrigen und notwendig ins Leiden gehenden Jesus.

Der Jesus der Wunder und der Jesus des Leidens gehören für den Evangelisten untrennbar zusammen. Eine einseitige Betonung nur einer dieser zwei Seiten wird dem Jesusereignis nach Ansicht des Markus nicht gerecht. Zu einem angemessenen Verständnis Jesu gehört dessen ganzes Schicksal.

Wie nicht nur ein Titel genügt, um den Glauben an Jesus zutreffend zum Ausdruck zu bringen, und Jesus deshalb in allen Evangelien, nicht nur bei Markus, eine ganze Reihe von Heilbringertiteln erhält, so können diese Titel unterschiedliche Inhalte umfassen, die nach Markus beim Titel Gottessohn zusammengehören und nicht getrennt werden dürfen.

11.1 Das Messiasgeheimnis

Bekenntnis vs. Schweigegebote

Um freilich sein genaues Verständnis dieses Jesus deutlich zu machen, ist Markus Wege gegangen, die bis heute für uns nicht ganz durchschaubar sind. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts spricht man über das von W. Wrede so genannte „Messiasgeheimnis im Markusevangelium“, womit der auffällige Widerspruch zwischen offenem Bekenntnis der messianischen Würde Jesu z. B. durch die Dämonen und das sich anschließende Schweigegebot von Seiten Jesu oder der Zusammenhang zwischen Jüngerbekenntnis und Schweigegebot in Mk 8,27–33 gemeint sind.

Eine theologische Konstruktion

Dass es sich hierbei um eine Konstruktion und nicht um die exakte Wiedergabe einer historischen Einzelheit handelt, wird schon bei der Perikope vom Töchterlein des Jairus deutlich, wo zunächst der Tod des Mädchens sozusagen vom ganzen Dorf beklagt und im Anschluss an die Totenerweckung von Jesus die Weisung erteilt wird, niemandem etwas davon zu erzählen (Mk 5,22–24.35–43).

Die Komponenten des Messiasgeheimnisses

Im einzelnen sind im Zusammenhang mit dem Messiasgeheimnis folgende Komplexe zu unterscheiden:

(a) das Verbot bei manchen Wundergeschichten, das Wunder weiter zu erzählen (5,43;7,36) – dazu gehört auch, dass dieses Verbot z. T. übertreten wird, vgl. 7,36 und 1,44 f.,

(b) das Wissen der Dämonen um Jesu besondere Würde und der dazu gehörige Schweigebefehl (1,25.34;3,12),

(c) Das Wissen der Jünger um die besondere Würde Jesu und das Schweigegebot (8,27–30;9,9) einerseits, das Unverständnis der Jünger gegenüber den Worten Jesu andererseits (4,13; 8,14–21),

(d) Die Parabeltheorie (4,10–12, siehe dazu 11.2)

11.1.1 Das Wissen um die besondere Würde Jesu und die Schweigegebote

Die ersten drei Komplexe kommen darin überein, dass die Verbreitung entweder eines christologischen Hoheitstitels, der von den Dämonen (5,43;7,36) oder den Jüngern (8,27–29) zur Sprache gebracht wird oder auf andere Weise bekannt wird (9,2–9), oder dass die Verbreitung eines von Jesus vollbrachten Wunders untersagt wird.

Funktion der Schweigegebote

Die literarische Funktion dieser Konstruktion kommt in ihrem künstlichen, eher für schriftliche als für mündliche Literatur bezeichnenden Charakter zum Ausdruck: Die Verbreitung des Wunders wird verboten, aber das Wunder und das entsprechende Verbot werden erst einmal erzählt.

Grenze der Schweigegebote

Auf der Ebene des Markus ist dieser Widerspruch kein Problem, weil er in 9,9 Tod und Auferstehung Jesu als Grenze für das Schweigegebot bezeichnet hat – danach darf offen darüber gesprochen werden!

Wunder und Leiden

Nimmt man Mk 9,9 zusammen mit dem Bekenntnis des unbekannten Hauptmannes unter dem Kreuz, der ausgerechnet angesichts des Todes Jesu zu der Erkenntnis kommt, dass der soeben Verstorbene kein normaler Mensch, sondern ein Gottessohn war (Mk 15,39), und zieht dann auch noch mit in die Betrachtung ein, dass Markus gleich drei Leidensweissagungen in seinem Werk bietet (8,30–33;9,31;10,32–34), dann wird deutlich, dass Markus unbeschadet der Frage, welche Teile des ganzen Komplexes er schon in seiner Tradition vorfand und welche er selbst geschaffen hat, bewusst die Wundergeschichten und die Perikopen um die Hoheitstitel überliefert, dass er diese aber mit Hilfe des Schweigegebots mit dem Leiden Jesu zusammengebunden hat. Zu Jesus gehören die Wunder und das Leiden, weil er der Messias und der leidende Menschensohn zugleich ist.

Die Vermutung, die Gemeinde des Markus habe in der häretischen Gefahr gestanden, Jesus ausschließlich von der Wunder- und Hoheitsseite zu sehen, geht sicher viel zu weit, aber Markus hat nach Ausweis seines Werkes – vgl. vor allem die Abfolge von 8,27–30 und 31–33! – beide Seiten in Jesu Person zusammenbinden wollen.

Nach Markus ist der Jesus der Wunder nicht ohne das Leiden, und der Jesus des Leidens nicht ohne die Wunder zu haben. Beide Aussagereihen, Wunder und Kreuz, dürfen für ein im Sinne des Markus zutreffendes Verständnis von Person und Werk Jesu auf keinen Fall voneinander getrennt werden.

Das Schweigen der Frauen

Dass das Verbot, die Wunder weiter zu erzählen, nach dem Evangelium nicht gehalten wird, hat seinen Gegenpart in dem das Markusevangelium beendenden Schweigen der Frauen nach ihrer Flucht aus dem leeren Grab, hier nun gegen den ausdrücklichen Engelbefehl an sie, Petrus und die Jünger von der Auferweckung Jesu und von seinem Vorausgehen nach Galiläa zu unterrichten.

Wie dort entgegen dem Befehl Jesu das Wunder nicht verschwiegen, sondern öffentlich verkündigt wird, so vermag auch hier die menschliche Unzulänglichkeit der Frauen das Offenbarwerden der Auferstehung nicht zu verhindern. Die Botschaft von Jesus, von seinen Wundern und von seiner Auferstehung, setzt sich durch, auch gegen alle menschliche Unzulänglichkeit. Wie Jesu Wunder nicht verborgen bleiben konnten, so auch seine Auferstehung nicht. Obwohl die Frauen nichts erzählt haben, ist die Auffindung des leeren Grabes dennoch bekannt, und Markus kann sie erzählen.

Dass Markus mit 16,8 zum Ausdruck bringen wolle, die Jünger seien nie von der Auferstehung in Kenntnis gesetzt worden, und mit Hilfe dieser „Nachricht“ seinen Wunsch, „die Aufmerksamkeit vom Auferstandenen weg zum Gekreuzigten zu lenken“ (Kelber, Anfangsprozesse) verdeutliche, scheint mir weder der Erzählung Mk 16,1–8 noch dem Gesamtduktus des Evangeliums zu entsprechen. Dieser betont gerade nicht einseitig das Leiden, sondern auch die wunderbare Seite des Gottessohnes.

Das Leiden der Jünger Jesu

Der Notwendigkeit des Leidens Jesu geht die des Leidens der Jünger parallel, wie Markus z. B. im Nachtrag zur ersten Leidensverkündigung deutlich macht (8,34 ff.). Markus illustriert auf diese Weise, was Matthäus mit Hilfe eines Wortes der Logienquelle so sagt: „Ein Jünger steht nicht über seinem Meister und ein Sklave nicht über seinem Herrn. Der Jünger muss sich damit begnügen, dass es ihm geht wie seinem Herrn.“ (Mt 10,24 f.)

Wie schwer die Akzeptanz dieser Notwendigkeit für die Jünger war und auch noch ist, zeigt Markus an der Reaktion des Petrus auf die erste Leidensansage und in Mk 10,35 ff.

11.1.2 Das Jüngerunverständnis

Das Jüngerunverständnis, das bei Markus mehrfach begegnet (4,10.13;6,52; 7,17 f. ;8,16–18.21 ;10,35 ff.) und nicht immer so betont ist wie in 4,13 ;7,17 f.; 8,17 f. und zu dem auch der Tadel des Petrus in 8,30 und das Unverständnis gegenüber der Notwendigkeit des Leidens in 9,32 gehören, soll keineswegs eine Distanz zwischen Jesus und seinen Jüngern schaffen, sondern hat zumindest eine doppelte Funktion:

Doppelfunktion des Jüngerunverständnisses

(1.) Zum einen macht das Unverständnis der Worte und Taten Jesu auf seiten der Jünger immer wieder deren besondere Belehrung durch Jesus notwendig (4,14 ff.;7,18 ff. ;8,19 f.), so dass sie nach Ostern in der Tat besonders qualifizierte Zeugen des Jesusgeschehens sind, auf deren Überlieferung der Worte und Taten Jesu Verlass ist.

(2.) Zum anderen stellt das Unverständnis der Jünger diese aber zugleich in eine Reihe mit den Lesern des Markusevangeliums – wenn diese nicht alles sofort begreifen, müssen sie sich darüber weder wundern noch sich schämen, den Jüngern des Herrn ist es ganz genauso gegangen.

11.2 Die Parabeltheorie

Gleichnisse zur Verstockung des Volkes?

Nach Mk 4,10–12 sind die Gleichnisse gerade keine Verständnishilfe für die Botschaft Jesu, vielmehr dienen sie der Verstockung des Volkes. Diese sog. Parabeltheorie zeigt deutlich, wie weit die Entwicklung der Tradition weg vom Ursprung im Markusevangelium bereits fortgeschritten ist, denn dahinter steht ja offensichtlich die Meinung, dass die Gleichnisse Jesu mit ihren doch einfachen und schlichten Bildern für das einfache Volk nicht verstehbar sind und dass man eines besonderen Schlüssels für deren Verständnis bedarf.

Dieses markinische Verständnis der Gleichnisse wird diesen selbst nicht gerecht. Man kann das schon daran erkennen, dass Markus trotz der von ihm übernommenen Parabeltheorie nur für ein Gleichnis eine Deutung mitüberliefert – von den anderen geht auch er offensichtlich davon aus, dass sie ohne Deutung für alle und nicht nur für die eingeweihten Jünger verstehbar sind. Darüber hinaus hat Markus mit der Parabeltheorie noch einen weiteren Widerspruch übernommen, gelten doch nach dieser Theorie die Jünger als mit einem besonderen Wissen begabt, während sie nach dem übrigen Evangelium als eher unverständig und besonderer Belehrung bedürftig erscheinen.

Gerade von diesen Spannungen her muss m. E. die Frage noch einmal genau geprüft werden, ob die Verfasser der Evangelien sich ihren Stoff so zu eigen gemacht haben, wie das vor allem in den letzten Jahren unter Einfluss der Redaktionsgeschichte und der synchronischen Analyse vertreten worden ist. Diese Frage ist m. E. auch dann zu stellen, wenn man in Markus nicht den konservativen Redaktor sieht, wie ihn v. a. R. Pesch in seinem Markuskommentar gezeichnet hat. Die Evangelisten können wesentlich mehr selbständige Autoren gewesen sein, als es die Formgeschichte angenommen hat, ohne dass sie sich mit allem und jedem, das sie aus der Tradition übernahmen, identifizierten, zumal bei Markus ja noch die kaum zu klärende Frage offen ist, ob nicht auch er schon, wie Matthäus und Lukas es dann für uns nachvollziehbar getan haben, Stoff aus dem ihm überkommenen Material weggelassen hat.

Wir haben als Interpreten m. E. die Pflicht, aufeinander zu beziehen, was aufeinander beziehbar ist, und im Zweifelsfalle die Dinge für miteinander vereinbar zu halten, die der Evangelist in sein Werk integriert. Aber bei dem unmittelbaren Nebeneinander der von Gott (vgl. das theologische Passiv in 4,11) den Jüngern geschenkten Erkenntnis und deren Unverständnis gegenüber der Gleichnistradition insgesamt (4,13) stellt sich doch die Frage, ob der Evangelist auf diese Spannung zwischen seinen Überlieferungen aufmerksam geworden ist und beide Dinge zusammengebracht hat. Hat er es nicht, brauchen auch wir es nicht zu können. Und lassen sich die gottgeschenkte Erkenntnis und die Sonderbelehrung, die auf die Notiz über das Unverständnis der Jünger folgt, überhaupt miteinander vereinbaren?

Die Genieästhetitik, die teilweise die dogmatische Christologie beeinflusst hat, übt auch in der Exegese kräftigen Einfluss aus und lässt nicht nur die Evangelisten in jeder Hinsicht als ganz große Autoren erscheinen, sondern sieht auch ihre Werke als fehlerfreie Kreationen an. Aber der erste Evangelist, Markus, wäre in meinen Augen auch dann noch ein sehr großer Autor, wenn er an dieser Stelle z. B. die Spannung mit dem Kontext nicht ganz in den Griff bekommen hätte.

Man hat allerdings auch neuerdings wieder die Ansicht vorgetragen, Markus habe in V. 11 im Gegensatz zu der ihm vorliegenden Tradition kein Verstehen des Geheimnisses des Gottesreiches durch die Jünger im Vollsinne aussagen wollen und die Perspektive von V. 11 gegenüber der Vorlage ohnehin erheblich verändert. Offensichtlich sind die beiden Aussagen, so wie sie jetzt unmittelbar aufeinander folgen, für uns nur schwer zu vereinbaren.

Die sog. Parabeltheorie weist in die gleiche Richtung wie das Jüngerunverständnis und zeigt die Jünger als die von Jesus selbst besonders eingeweihten Zeugen des Jesusgeschehens. Die Ablehnung der nachösterlichem Verkündigung erklärt Markus seinen Lesern in Mk 4,10–12 mithilfe des (Jes 6 entnommenen) Verstockungsgedankens.

12. Das „geheime Evangelium nach Markus“

Im Jahre 1973 wurde ein Text veröffentlicht, der 1958 in der Nähe Jerusalems auf den hinteren Seiten einer Ausgabe der Ignatiusbriefe von 1646 entdeckt worden war – geschrieben in einer Minuskel des 18. Jahrhunderts. Da den Text danach niemand mehr gesehen hatte, lag der Vorwurf der Fälschung nahe. Inzwischen haben sich aber weitere Zeugen für diesen Text gemeldet und es sind Fotografien veröffentlicht worden. Gleichzeitig wird behauptet, der Text sei wegen seines homosexuellen Jesusbildes inzwischen vernichtet worden. Der Verdacht der Täuschung bzw. Manipulation steht aber weiterhin im Raum. Der Text enthält einen Auszug aus einem Brief des Clemens von Alexandrien an einen Theodorus, der vor einem verfälschten Markusevangelium warnt und eine geistlichere Fassung dieses Evangeliums zitiert. Er besteht aus zwei sehr ungleichen Teilen, der längere spielt deutlich auf Joh 11 und auf synoptische Abschnitte an. Sollte der Brief echt sein, so ist er wohl nur Zeuge für ein erweitertes Markusevangelium im zweiten Jahrhundert und keineswegs eine ursprüngliche Variante. Für solche Erweiterungen gibt es zahlreiche Parallelen.

13. Traditionelle Fragen und heutiger Zugang zu den Evangelien

Ausgangspunkt Alte Kirche?

Bei der Behandlung des Markusevangeliums war deutlich zu spüren, dass nicht eigentlich das Werk selbst unsere Überlegungen geleitet hat, sondern die Traditionen der Alten Kirche über das Werk. Unsere Arbeit daran bestand zu einem großen Teil in dem Versuch, diese Nachrichten aus der Alten Kirche auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, und die Ergebnisse waren nicht besonders positiv. Diese Art, sich dem Einleitungsstoff in den Evangelien zu nähern, wurde nicht nur deswegen gewählt, weil sie in der Einleitungswissenschaft nun einmal traditionell ist, sondern für diese Art der Behandlung spricht die Tatsache, dass außer den Nachrichten der Alten Kirche kaum Material vorhanden ist, das weiteren Aufschluss in den Fragen gewährt, die die Einleitungswissenschaft zu stellen hat.

Der Erkenntnisgewinn aus der Tradition

Aber es muss jetzt, also nach der Behandlung der das älteste Evangelium betreffenden Probleme auf die herkömmliche Art, die Frage gestellt werden, ob wir aus dieser Art der Behandlung für das Verständnis des Evangeliums den größtmöglichen Nutzen gezogen haben. Waren wir nicht weitgehend mit Fragen beschäftigt, die wir von selbst so nicht oder überhaupt nicht gestellt hätten? Das ist noch kein Argument, diese Fragen aufzugeben, wenn uns die Nachrichten aus der Tradition diese wirklich stellen, aber genau das ist m. E. die Frage: Erzielt man angesichts der Diskussion der von der Tradition aufgegebenen Fragen wirklich den größtmöglichen Erkenntnisfortschritt auf das Evangelium hin oder werden hier überwiegend Fragen traktiert, die zum besseren Verständnis des Evangeliums keinen großen Beitrag leisten?

Aus diesem Grunde machen wir beim nun zu behandelnden Matthäusevangelium den Versuch, die von der Tradition vorgegebenen Fragen jedenfalls nicht an den Anfang zu stellen, sondern beginnen damit, was sich aus der Lektüre des Evangeliums selbst noch für dessen Verständnis erschließen lässt. Danach können auch noch die Nachrichten der Alten Kirche zur Sprache kommen.

Literatur

1. Kommentare

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2. Monographien und Aufsätze

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Einleitung in das Neue Testament

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