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Statt einer Einführung

1. Die Bibel als altes und fernes Buch

Kein Interesse an der Bibel

Wer sich heute noch für die Bibel interessiert, scheint eher ein Exot zu sein als aus unserer Welt zu stammen – denn wer steht noch mit beiden Beinen auf der Erde und interessiert sich für die Bibel? Gleichwohl, wer immer etwas von Kultur versteht – und wer würde keinen Wert darauf legen? –, erkennt die Bibel nicht nur als Weltliteratur an, sondern zählt sie auch zu den Grundlagen unserer Kultur. Aber Weltliteratur ist vieles, was wir auch nicht lesen, und zu den Grundlagen unserer Kultur gehört z. B. auch die griechische Philosophie, für die wir uns dennoch nicht unbedingt interessieren. Warum also soll man sich noch mit der Bibel beschäftigen? Man ist vielleicht versucht, an dieser Stelle auf die umfassende Bedeutung der Bibel für Kirche und Christentum hinzuweisen, dass z. B. ein Christentum ohne Bibel, und zwar die des Alten und des Neuen Testaments, kein Christentum mehr ist und dass das Christentum aller Zeiten an der Bibel festgehalten hat, aber das sind zugegebenermaßen eher theoretische Wahrheiten, die nur über die Erkenntnis hinwegtäuschen (sollen), dass die Bibel in unserer Welt – zumindest in der der Bundesrepublik Deutschland– keine oder allenfalls noch eine geringe Rolle spielt. Das gilt, auch wenn die Bibel dank der Gideon-Bruderschaft im Nachtschränkchen jedes Hotelzimmers liegt und die Auflagenzahlen der Bibelübersetzungen vor allem seit der Aufhebung des Eisernen Vorhangs boomen. Die Bibel wird auch von vielen Christen nicht mehr gelesen und folglich auch nicht mehr gekannt. Damit ist ein Teufelskreis angesprochen, den es – zumindest aus christlicher Perspektive – zu durchbrechen gilt.

Die Bibel – ein konservatives Buch?

Weil wir, woher auch immer, der Meinung sind, die Bibel sei ein konservatives Buch, das aus einer verstaubten Zeit stamme und uns nichts mehr zu sagen habe, lesen wir die Bibel nicht, interessieren uns nicht für ihre Interpretation (wenn wir es nicht als irgendwie mit Theologie Arbeitende beruflich müssen) und können so gar kein eigenständiges Urteil fällen, ob und warum die Bibel ein konservatives Buch ist – so feiern die Vorurteile fröhliche Urständ!

Beispiel: Jungfrauengeburt

Ein Beispiel: Was sollen wir mit der neutestamentlichen, bei Matthäus und Lukas überlieferten Aussage von der Jungfrauengeburt noch anfangen? Dass es so etwas nicht gibt, ist dem modernen Menschen oder dem, der sich dafür hält, evident, und deswegen sind auch diese Geschichten überholt und haben dem heutigen Menschen nichts mehr zu sagen! Aber geht es bei diesen Geschichten um den Vorgang als solchen, wollen also die Evangelisten in erster Linie eine naturwissenschaftliche bzw. eine Aussage über die Natur machen, also dass Jesus ohne die Vereinigung von Josef und Maria (vgl. Mt 1,18: „noch bevor sie zusammengekommen waren“) gezeugt und geboren wurde, oder geht es den Evangelisten weniger um den konkreten Vorgang, der damals in zumindest verwandter Weise keineswegs nur von Jesus, sondern z. B. auch von Platon und Alexander dem Großen ausgesagt wurde, als um eine theologische Aussage, die nur mit Hilfe der Vorstellung von der Jungfrauengeburt zum Ausdruck gebracht werden soll? Und sollte das gelten, welche Aussage könnte das sein? Wenn es mehr um diese Aussage, die hinter der Geschichte von der jungfräulichen Empfängnis Jesu steht, als um die Einzelheiten der Erzählung geht, wie sind die Evangelisten auf diese Aussage und diese Geschichte gekommen?

Schon die Tatsache, dass solche Zusammenhänge auch von anderen überragenden Persönlichkeiten in der Antike ausgesagt wurden, ist ein Hinweis darauf, dass die Evangelisten nicht etwa „direkt von oben“ solche Geschichten eingegeben erhielten und dass es sich dabei auch nicht um geheime Familientraditionen handelt, die erst spät ihren Weg aus dem Kreis der Familie zu den Autoren der Evangelien gefunden haben (weil man dann kaum die völlig unterschiedliche Darstellung bei Matthäus und Lukas erklären kann), sondern dass es sich bei solchen Sachverhalten um Gegebenheiten der damaligen Kultur handelt, deren sich Schriftsteller bedienten, um bestimmte Aussagen über herausragende Persönlichkeiten zu machen.

Aussage des Textes

Kulturelle Gegebenheiten

Warum aber greift ein Evangelist wie Matthäus oder Lukas zu einer solchen Darstellung? Was ist näherhin das Motiv oder der tragende Grund für die Rede von der Jungfrauengeburt bei den beiden Evangelisten? Dahinter steckt sicher nicht die Idee späterer Dogmatiker, die fragen: Wie lässt sich das „Wesen Jesu“ zutreffend beschreiben? Selbst wenn das so wäre, wenn es also den Evangelisten in diesen Geschichten um eine Beschreibung des Wesens Jesu ginge, könnten sie damit auf Zustimmung auch in anderen Kulturen rechnen, in denen die entsprechenden Topoi nicht vorkommen? Damit soll wenigstens angedeutet werden, dass solche Aussagen und deren Akzeptanz einerseits bestimmte Erfahrungen und andererseits einen bestimmten Interpretationshorizont dieser Erlebnisse voraussetzen, mit deren Hilfe diese verstanden und gedeutet werden. Diese Erfahrungen sind wichtiger als die Interpretationsmuster, obwohl erstere auf letztere angewiesen sind, weil sie sich sonst dem Verstehen des Menschen entziehen und derjenige, der die Erfahrungen macht, ohne solche vorgegebenen Interpretationsmöglichkeiten nicht einmal versteht, was ihm geschieht.

Erfahrungen und deren Interpretationsmuster

Augenzeugen

Um welche Erfahrungen mag es dabei gehen? Um diese näher beschreiben zu können, ist es wichtig zu wissen, ob der Evangelist Augenzeuge Jesu gewesen ist oder ob er sich wenigstens auf Augenzeugen stützen kann, wobei natürlich nicht an Augenzeugen für das diesen nun einmal nicht zugängliche Phänomen der Jungfrauengeburt gedacht ist, sondern an Augenzeugen Jesu, also an Menschen, die auf eine umfassende Erfahrung mit dem irdischen Jesus zurückgreifen können. Wäre das der Fall, würde also die Aussage von der Jungfrauengeburt in einer Erfahrung mit der Person des irdischen Jesus gründen, so könnte sie sowohl in seinem Handeln, also in seinem Umgang mit den Menschen, in seinen Wundern oder in seiner Art zu sterben ihren Grund haben als auch in seiner Wort-Verkündigung, also im Inhalt seiner Botschaft. Dann wäre freilich zu fragen, wie die Hörer und Leser des Matthäusevangeliums nach Ostern zu dieser Erfahrung, die ja unwiederholbar und vergangen ist, einen Zugang finden und sie übernehmen konnten / können. – Das wäre ganz anders, wenn Matthäus kein Augenzeuge Jesu gewesen wäre und sich auch nicht auf einen solchen für seine Geschichte hätte stützen können, denn dann würden hinter Mt 1 und 2 ausschließlich Erfahrungen mit der Botschaft Jesu oder mit dem Glauben an Jesus stehen, zu denen sowohl die damaligen wie die heutigen Leser des Matthäusevangeliums, die keine Augenzeugen des historischen Jesus gewesen sind, wesentlich leichter Zugang finden würden als zu Erfahrungen, die auf dem lebendigen Umgang mit der Person Jesu basieren und auf diesen angewiesen sind.

2. Bibelverständnis und literarische sowie geschichtliche Vorkenntnisse

Vorkenntnisse

Diese Überlegungen zeigen, dass zu einem adäquaten Verständnis biblischer Texte eine ganze Reihe von Vorkenntnissen nötig sind, z. B. die Klärung der Frage, ob hinter den Perikopen in den Evangelien Augenzeugen Jesu oder Menschen mit Glaubenserfahrungen stehen, oder gar Menschen, die über beides verfügten.

Das Problem der Vorkenntnisse betrifft aber nicht nur die Überlieferungen, auf die die Evangelisten zurückgegriffen haben, sondern auch die Evangelisten und ihren Anspruch selbst. Was meint etwa Lukas, wenn er im Vorwort zu seinem Evangelium schreibt, dass er sich entschlossen habe, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es der Reihe nach aufzuschreiben? Ist damit bewiesen, dass Lukas sich in unserem Sinne wie ein Historiker verstand, oder einfacher, dass er jedenfalls mit dem Anspruch auftrat, alles in seinem Werk Geschilderte solle für historisch gehalten werden? Und sind wir verpflichtet, diese Ansicht des Lukas zu übernehmen, oder darf man diese Ausführungen im Vorwort des Lukas-Evangeliums im Sinne einer deklaratorischen Formel verstehen, wie sie antike und auch moderne Schriftsteller nicht nur im Vorwort gebrauchen, um Aufmerksamkeit für ihr Werk zu gewinnen, ohne dass man die Formulierungen auf die Goldwaage legen darf? Besagt die von Lukas gewählte Formulierung mehr, als dass er die von ihm gewählte Art des Evangeliums für geeignet hielt, sich „von der Zuverlässigkeit der (christlichen) Lehre (zu) überzeugen“ (Lk 1,4)?

Mit diesen Überlegungen sind wir unversehens von der Frage nach der Bedeutsamkeit der Bibel für den heutigen Menschen zum Problem des Verstehens der Bibel überhaupt hinübergewechselt, was sicher nicht von ungefähr kommt, denn die Frage nach der Bedeutsamkeit der Bibel für den heutigen Menschen kann ja nicht unabhängig von der Frage des Verstehens entschieden werden. Texte, die man nicht versteht, können, zumindest in der Regel, nicht bedeutsam werden, und das Bemühen um das Verständnis eines schwer verständlichen Textes setzt die Vermutung der Bedeutsamkeit dieses Textes voraus. Diese Bedeutungsvermutung sollte für eine Theologie, die sich christlich nennt, hinsichtlich der Bibel gegeben sein, insofern könnte die gestellte Frage nach der Bedeutsamkeit der Bibel auch auf sich beruhen bleiben. Versucht man gleichwohl eine Antwort, die nicht einfach und ausschließlich auf die Behauptung, die Bibel sei Offenbarungsurkunde, abhebt, so wird man u. a. darauf abstellen können, dass der Mensch die Wahrheit nicht selbst produzieren kann, sondern sie sich schenken lassen muss, dass er sich sagen lassen muss, wie Leben gelingen kann und wie es misslingt.

Vermutung der Bedeutsamkeit

Insofern viele und ernsthafte Menschen die Antwort auf diese Fragen in der Bibel gefunden haben, lohnt es sich vielleicht doch, einmal genauer hinzuschauen, was die Bibel sagt und was sie will. Die hinter der Jungfrauengeburt stehende und in ihr sich artikulierende Erfahrung von Menschen, wahrscheinlich sogar des Evangelisten Matthäus selbst, dass in Jesus und seiner Botschaft Gott zu den Menschen spricht, dass hinter dem Jesusgeschehen in einer Weise Gott steht, wie es sonst nur selten oder nie der Fall sein mag, z. B. hat Menschen vieler Generationen überzeugt und ihnen geholfen, mit Hilfe der Botschaft Jesu das Leben zu bestehen. Oder die in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) artikulierte Erfahrung, dass Gott einer ist, der dem Menschen zugetan, der um ihn unabhängig von dem, was er „bringt“, bemüht ist, hat ebenfalls viele Menschen überzeugt und ihnen das Leben zu meistern geholfen, die das Lied „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ aus Zweifel lieber nicht mitsingen.

Um die Klärung solcher Vorfragen, die für das adäquate Verständnis der Bibel, hier speziell des Neuen Testaments, von Bedeutung sind, soll es im Folgenden gehen.

Einleitung in das Neue Testament

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