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§ 7Das Evangelium nach Lukas

1. Gliederung

Das kunstvolle Proömium

Man hat die literarische Gestalt des Lukasevangeliums nicht zu Unrecht gerühmt und mit einem Architekturwerk verglichen, dessen Gliederung sich erst bei dessen Durchschreiten erschließe. Die kunstvolle Komposition signalisieren schon das Proömium und die Tatsache, dass Lukas nicht nur ein Evangelium, sondern auch ein zweites, damit zusammenhängendes Werk (vgl. Apg 1,1) verfasst hat, sowie der Umstand, dass das Vorwort des Evangeliums wahrscheinlich auch schon das zweite Werk mit im Blick hat. Aber der Vergleich mit der Architektur darf nicht zu der Annahme führen, die Strukturen dieses Werkes lägen offen zutage, wenn man nur das Portal durchschreite und sich mit lebendigen Augen ins Innere begebe.

Fehlen von Gliederungsmerkmalen

Inhaltliche Kriterien als Ersatz

Zwar stellen Vorworte schon konventionell etwas eigenes dar, und die Vorgeschichte (1–2) ist erkennbar auch formal vom Beginn der öffentlichen Wirksamkeit des Täufers und der Jesu durch den Synchronismus (= Zusammenstellung von gleichzeitigen Personen oder Ereignissen) in 3,1 f. abgehoben, aber ähnliche trennende Signale finden sich im weiteren Verlauf des Evangeliums nicht, es sei denn, man nähme die etwas feierliche, an ► Septuagintawendungen anknüpfende Formulierung in 9,51 als eine solche, was aber kaum berechtigt ist.

Wie im ersten und zweiten Evangelium sind also auch im dritten nur ganz wenige wirklich deutliche Gliederungssignale vorhanden. Weder der unterschiedliche Stil zwischen Lk 1 und 2 einerseits und dem Korpus des Evangeliums andererseits noch die Tatsache, dass der sog. Reisebericht in 9,51–19,27 keine Parallele bei den übrigen Synoptikern hat und auch sonst abweicht, sind als Gliederungssignal zu bewerten, da das Lukasevangelium nach der Absicht seines Autors ja aller Wahrscheinlichkeit nach als selbständiges Werk gesehen und so auch gelesen werden will (und nicht in ständigem Vergleich mit dem Markusevangelium). Das hat zur Folge, dass man auch hier wie bei den anderen Synoptikern inhaltliche oder geographische Kriterien zur Gliederung heranzieht.

Allerdings gibt es durchaus Autoren, die angesichts des Fehlens solcher formellen Einteilungshinweise hinter 3,1 in 3,1–24,53 einen in sich geschlossenen Hauptteil sehen. Freilich müssen auch sie dann diesen großen Abschnitt in Unterabschnitte zerlegen und sich dabei der genannten oder anderer Kriterien bedienen. Da die Wendung Jesu nach Jerusalem in 9,51 nicht nur deutlich angezeigt, sondern auch mit einer gewissen Feierlichkeit formuliert ist, wird dieser Einschnitt von vielen Autoren als Gliederungsmerkmal akzeptiert. Das gleiche gilt für 4,14 und 19,28/29, obwohl hierfür keine sprachliche Hervorhebung, sondern nur die Hinwendung nach Galiläa bzw. das erstmalige Betreten von Jerusalem und seiner Umgebung angeführt werden kann. Nicht umsonst sind die Autoren, die hier einen neuen Abschnitt beginnen lassen, uneinig, ob dieser mit 19,28 oder mit 19,29 beginnt. Außer der Annäherung an Jerusalem ist dort auch wirklich kein Signal für einen neuen Abschnitt zu entdecken. Dieses aber wird in 19,28 genannt, weswegen mit V. 28 der neue Abschnitt beginnen muss, wenn man hier einen Einschnitt finden will. Hat man sich so auf die Geographie als Gliederungskriterium einmal eingelassen, so kann man auch für den ersten Teil noch in 4,14 aufgrund der Hinwendung Jesu nach Galiläa einen weiteren Abschnitt beginnen lassen.

Legt man sich aber Rechenschaft darüber ab, nach welchem Kriterium diese Einteilung erfolgt ist, so ist dies außer dem konventionellen Einschnitt zwischen Vorwort und Korpus des Evangeliums in 1,5 und dem von Lukas deutlich auch sprachlich signalisierten Einschnitt in 3,1 f. nur die Geographie (4,14; 9,51; 19,28). Dann sollte man nicht auch noch mit 22,1, dem Beginn der Passionsgeschichte, einen neuen Abschnitt beginnen lassen. Das legt sich zwar vielleicht inhaltlich nahe, ist aber durch keine geographische Veränderung angezeigt – auf diese Art und Weise kann man ein einheitliches Gliederungskriterium einigermaßen durchhalten.

Diese Überlegungen führen zu folgender Einteilung:

1,1–4Lukasprolog (Vorwort) mit Widmung an Theophilos
1,5–4,13Kindheitsgeschichten und Vorbereitung des Auftretens Jesu
1,5–2,52Die Kindheitsgeschichten Johannes des Täufers und Jesu
3,1–4,13Johannes der Täufer, Taufe und Erprobung Jesu
4,14–9,50Jesus in Galiläa und Judäa
4,14–6,16Beginn des öffentlichen Wirkens in Nazareth, Berufung der ersten Jünger, Heilungen und erste Auseinandersetzungen
6,17–49Die Feldrede
7,1–9,50Zyklus von Machttaten, Gleichnissen und zunehmende Auseinandersetzungen
9,51–19,27Der sog. „Reisebericht“
darunter: der barmherzige Samariter (10,25–37), Maria und Martha (10,38– 42), das Vaterunser (11,1–4), der reiche Kornbauer (12,13–21), das Gleichnis vom Gastmahl (14,15–24), der verlorene Sohn (15,11–32), das Kommen des Menschensohnes (17,20–37)
19,28–24,53Letzte Tage in Jerusalem, Tod und Auferstehung Jesu
19,27–20,47Einzug, Tempelaktion und Auseinandersetzungen mit Jerusalemer Gegnern
21 Die Endzeitrede Jesu
22–23 Passion, Tod und Begräbnis Jesu
24 Die Auffindung des leeren Grabes, die Emmausgeschichte, die Ostererscheinung Jesu in Jerusalem und die Himmelfahrt Jesu

2. Gründe für die Abfassung des Lukasevangeliums

Lk und Joh nennen Abfassungsgründe

Während Markus und Matthäus zu den Gründen, aus denen heraus sie sich zum Verfassen ihrer Schriften entschlossen haben, keine Auskunft geben, äußern Lukas und Johannes sich dazu. Beide geben deutlich zu erkennen, dass sie ein Buch für den Glauben schreiben wollen – dabei gibt es allerdings charakteristische Unterschiede. Während der Verfasser des Johannesevangeliums am Ende seines Werkes (20,30 f.) deutlich macht, dass es ihm wichtiger ist, den Nicht-Wunderstoff zu erzählen als noch mehr Wundergeschichten zu überliefern, dass aber gleichwohl die bereits erzählten Berichte von den „Zeichen“ besonders geeignet sind, zum Glauben zu führen bzw. in diesem zu halten, stellt Lukas in schriftstellerischer Manier seinem Werk ein Proömium / Vorwort voran, in dem er seine Absichten und sein Verfahren beschreibt. Ist hier auch im einzelnen manches umstritten und sind auch die Absichten, die Lukas mit seinem Evangelium und der Apostelgeschichte verbindet, in ihrer genauen Kennzeichnung kontrovers, so kann man doch sein Ziel anhand seiner Ausführungen wenigstens insoweit umschreiben, dass sein Werk wie das des vierten Evangelisten dem Glauben dienen, näherhin die Zuverlässigkeit der christlichen Lehre aufzeigen will. Wie es das im einzelnen anstrebt, ist allerdings nicht so eindeutig und auch Gegenstand heftiger theologischer Kontroversen geworden.

2.1 Glaube und Historie nach Lukas

Historische Glaubensbeweise

Die grundlegende Frage dabei ist, wodurch genau Lukas die Zuverlässigkeit, die er dem Theophilus mit Hilfe seines Werkes in Aussicht stellt, erreichen will und was diese Zuverlässigkeit der Worte, in denen Theophilus unterrichtet worden ist, exakt meint. Soll hier, wie vorgetragen worden ist, durch historische Rückfrage die Integrität der apostolischen Tradition sichergestellt und dem Glauben auf diese Weise ein zuverlässiges Fundament gegeben werden? Dagegen lässt sich natürlich trefflich einwenden, dass dann dem Glauben das menschliche Bemühen vorgeordnet werde und das Evangelium darüber hinaus unter das Lessingsche Verdikt von den zufälligen Geschichtswahrheiten falle. Zeigt aber Lukas in seinem Vorwort wirklich, dass er etwas ganz anderes will als seine Vorgänger, die sich mit dem Überliefern der Berichte der Tradition zufrieden gaben, während er zu den Tatsachen selbst durchstoßen will? Worin besteht z. B. der Unterschied zu Joh 20,30 f.? Dort ist doch auch nicht ganz allgemein und etwa im modernen Sinne an die Bedeutsamkeit der Wundergeschichten und die daraus zu ziehenden Konsequenzen gedacht, sondern die Wundergeschichten erzählen Dinge, die Jesus, noch zahlreicher als im Evangelium berichtet, „getan“ hat, und diese sind „aufgeschrieben, damit ihr glaubt“. Hier sind die Wunder kaum als zarter Hinweis gedacht, den man aufnehmen, aber auch ebenso gut überhören kann, sondern eher im Sinne des Ersten Vatikanischen Konzils als „ganz sichere Zeichen für die Göttlichkeit der Offenbarung“ verstanden. Lukas geht, das ist zuzugeben, den Weg der Tatsachen viel offener und auch breiter, indem er die Erkenntnis der Zuverlässigkeit der Lehre an seine gesamten Ausführungen und nicht nur an die Wundergeschichten bindet.

Das lukanische Werk als ganzes gewährt nach seiner Ansicht die Zuverlässigkeit der christlichen Lehre, weil sein Verfasser alles getan hat, was man von einem Historiker erwarten kann, allem sorgfältig und von Anfang an nachgegangen ist und es der Reihe nach aufgeschrieben hat. Daraus aber, dass der Bericht des Lukas „wahr“ im Sinne von historisch korrekt zu sein beansprucht, und aus der vorausgesetzten Übereinstimmung dieses Berichtes mit der Lehre, in der Theophilus unterrichtet worden ist, soll dieser deren Zuverlässigkeit erkennen. Vom Glauben ist direkt gar nicht die Rede, und dass die Übereinstimmung der beiden Zeugnisse die Wahrheit des von den Worten Gemeinten beinhaltet, ist ebenfalls auffälligerweise nicht gesagt. Nach Ausweis seines Vorwortes hat Lukas also als ein gebildeter ► Hellenist die evangelische Überlieferung einer sorgfältigen Überprüfung unterzogen und zweifelt keinen Moment daran, dass das Ergebnis seiner Untersuchung mit der Lehre, in der Theophilus unterrichtet ist, übereinstimmt. Dass er sich diese Mühe macht, spricht dafür, dass er sich davon etwas für den Glauben verspricht, aber wie er sich das Verhältnis zwischen der sich aus dieser Übereinstimmung ergebenden Zuverlässigkeit und dem Glauben denkt, gibt er nicht zu erkennen.

Analogie zu Joh 20,30

Die Vermutung, dass er sich dieses ähnlich vorgestellt hat wie der Evangelist in Joh 20,30 f., ist freilich nahe liegend, aber kann man ihm dies zum Vorwurf machen, wenn die Geistesgeschichte noch lange Zeit bis zur Erkenntnis der grundsätzlichen Zufälligkeit alles Historischen gebraucht hat? Ansätze zu dieser Erkenntnis finden sich freilich schon im Neuen Testament (vgl. Mt 12,27 f., aber auch Betz / Riesner 194, die die Zufälligkeit alles Historischen auf ein „mit dem heilsgeschichtlichen Denken der Bibel unvereinbares philosophisches Vorurteil“ zurückführen). Und wird der Glaube schon an die eigene Tätigkeit des Menschen ausgeliefert, wenn ein Schriftsteller die Basis-Erzählungen seiner religiösen Bewegung in eine Form bringt, die den Erfordernissen seiner Zeitgenossen entspricht, die nun einmal auf „Historisches“ aus sind? Man vergleiche dazu nur, wie Josephus versucht, für sein Volk den Anschluss an die Geschichte zu gewinnen (CAp I 1). Die Absicht des Lukas könnte es durchaus sein, allein dieser Tendenz nach Historischem zu genügen, weswegen man auch nicht unbedingt nach Gerüchten über die Christen und Kritik an ihnen als Anlass für die Arbeit des Lukas suchen muss.

Notwendigkeit des lukanischen Unternehmens

Aus dem Vorwort ergibt sich des Weiteren, dass nach Ansicht des Lukas aus den von ihm erwähnten Vorgängerwerken diese Sicherheit nicht zu gewinnen war. Insofern solche historische Zuverlässigkeit aber nach Ansicht des Lukas für den Glauben in der hellenistischen Welt notwendig ist, ist das von Lukas in Angriff genommene Unternehmen für seine Umgebung zwingend erforderlich.

2.2 Das Verfahren des „Historikers“ Lukas

Anspruch und Wirklichkeit

Ein Problem besteht nun freilich darin, dass Lukas diesen in seinem Vorwort ausgedrückten Anspruch im Innern seines Werkes in keiner Weise einlöst.

Zwar verbessert er seine Vorlagen, kürzt sie auch und stellt gelegentlich größere Zusammenhänge her, aber dass er systematisch, womöglich aufgrund von Nachforschungen, Verbesserungen an seinen Quellen im Hinblick auf deren größere historische Genauigkeit vornimmt, ist nicht feststellbar, es sei denn, man begreift die Auslassung eines erheblichen Teiles des Markusstoffes als solche. Aber allein die Art und Weise, wie er mit der eschatologischen Botschaft Jesu umgeht, spricht in keiner Weise dafür, dass dies auf einer sorgfältigen Nachforschung bis zu den Ursprüngen beruht oder dass diese auch nur beabsichtigt ist. Entgegen den Ausführungen im Vorwort verhält er sich im Innern seines Werkes keineswegs anders als seine Vorgänger.

Zwar lassen sich eine ganze Reihe von Umstellungen und Auslassungen gegenüber dem Markusevangelium beobachten, aber auch die Gründe dafür sind in der Regel erkennbar, und diese sind schriftstellerischer und nicht historischer Natur. Man kann das sehr schön an der Perikope von der Verwerfung Jesu in seiner Vaterstadt (4,16–30 par Mk 6,1–6) sehen, die Lukas in Abweichung von seiner Markusvorlage zu einer programmatischen, das öffentliche Wirken Jesu eröffnenden Szene umgestaltet hat, in der sich das Wirken Jesu und sein „Erfolg“ bereits abschattet. Es spricht nichts dafür, dass Lukas für diese redaktionell gestaltete Szene an dieser Stelle eine konkrete Nachricht hatte, vielmehr weist alles darauf hin, dass Lukas diese Szene hierher gestellt und selbst gestaltet hat, weil er sie für die Eröffnung des öffentlichen Wirkens Jesu für besonders geeignet hielt. Nicht eine geschichtliche Nachricht, sondern die schriftstellerischen Ziele des Lukas sind der Anlass für diese Szene. Dieses Verfahren – Lukas richtet sich nach schriftstellerischen Notwendigkeiten und nicht nach seinen Quellen – lässt sich auch sonst in seinem Werk häufig beobachten und zeigt, dass die Beschreibung der lukanischen Absicht im Prolog nicht im Sinne eines heutigen Historikers missverstanden werden darf.

Lukas ist der einzige Evangelist, der sein Werk nach Art der antiken Schriftsteller mit einem Prooemium eröffnet, in dem er seine Absicht erläutert. Indem er mit seinem Werk für Theophilos, dem er das Werk widmet, die Zuverlässigkeit der Lehre erweisen will, will er nicht den Glauben an die Historie ausliefern und begreift er das Jesusgeschehen auch nicht als ein ausschließlich der Vergangenheit angehörendes Ereignis, sondern begreift das Jesusgeschehen als konstitutiven Teil der Ereignisse, die sich als Erfüllung der Schrift ereignet haben.

3. Der Verfasser des Lukasevangeliums

Sehr auffällig ist die Tatsache, dass Lukas trotz seines literarisch ausgefeilten Vorwortes seinen Namen in diesem nicht preisgibt, obwohl an sich die Nennung des Namens durchaus zum Stil des Vorwortes gehört. Deswegen sind wir für die Rückfrage nach dem Verfasser zunächst ausschließlich auf innere Kriterien angewiesen. Allerdings kann dazu auch die Apostelgeschichte herangezogen werden, da diese vom selben Verfasser stammt (zur Begründung s. unten § 8 Nr. 3.1)

3.1 Ein Verfasser der dritten christlichen Generation

Juden oder Heidenchrist?

Schon aus dem Vorwort geht hervor, dass der Verfasser des Lukasevangeliums nicht den Anspruch erhebt, Augenzeuge des Jesusgeschehens zu sein, sondern der zweiten oder eher der dritten Generation angehört. Da Sprache und Stil der lukanischen Werke auf einen gebildeten ► Hellenisten hinweisen, konzentriert sich die Frage nach dem Verfasser zunächst darauf, ob es sich um einen Judenoder einen Heidenchristen handelt.

Ambivalente Argumente

In der Regel wird für die Entscheidung dieser Frage einerseits darauf hingewiesen, dass der Verfasser mit dem Alten Testament in seiner griechischen Übersetzung sehr vertraut und von dessen Sprache geprägt ist, durchaus ein gewisses Interesse am Gesetz, den Propheten und Jerusalem hat, dass er den Synagogengottesdienst korrekt zu beschreiben in der Lage ist (Lk 4,16–30; Apg 13,14–41) und über zahlreiche, aus judenchristlichem Milieu stammende Sondertraditionen verfügt (Lk 1–2; 17,11–19; 18,9–14). Andererseits gibt es aber wichtige Argumente, die für einen Heidenchristen sprechen: Lukas vermeidet semitische Begriffe, hat kein Interesse an Auseinandersetzungen um kultische Fragen, kennt sich in der Geographie Palästinas nicht aus (17,11), und die typisch jüdische Sühnevorstellung tritt stark zurück. Das Ergebnis dieser Argumentation ist dann in der Regel ein Heidenchrist mit Kontakt zum Diasporajudentum als Autor des dritten Evangeliums, wenn der Verfasser nicht weitergehend sogar zu dem Kreis der Gottesfürchtigen im Umfeld der Synagoge gezählt wird.

Die Lage ist naturgemäß doch komplexer, als sie bei solcher Zusammenfassung erscheint. Lukas hat z. B. durchaus jüdische Termini nicht nur gestrichen bzw. durch griechische Termini ersetzt (Rabbi, Rabbuni, Kananäer), sondern auch beibehalten. So begegnet Beelzebul bei Lk genauso häufig wie bei Matthäus, aber häufiger als bei Markus, für Mammon lauten die Zahlen: Matthäus 1, Markus 0, Lukas 3, für gehenna Matthäus 7, Markus 3, Lukas 1 und für Satan Matthäus 3, Markus 5, Lukas 5 Belege. Ebenso überliefert Lukas durchaus eine ganze Reihe von Perikopen, die von Gesetzes- und Reinheitsproblemen handeln (vgl. nur Mk 2,23–3,6 parLk), und dass Geographie-Kenntnisse als Argument kaum zu verwenden sind, haben wir schon beim Markusevangelium gesehen (s. dazu oben § 5 Nr. 3.2.2).

Dennoch gehen die oben genannten Argumente in die richtige Richtung, weisen doch die Sprache und die hellenistische Bildung des dritten Evangelisten auf einen in der Diaspora Geborenen hin. Die Tendenz zur Reduzierung jüdischer Fragen und Ausdrücke, die sich ja sicher auch der fortgeschrittenen Entwicklung des „Christentums“ und seiner Bewegung vom Judentum fort verdankt, könnte ein Hinweis dafür sein, dass der Verfasser eher aus dem Heiden- als aus dem Judentum stammt. Dass dies „mit Sicherheit“ gesagt werden kann, scheint mir jedoch eine Übertreibung zu sein – die mangelnde Kenntnis der Geographie Palästinas und die Reduzierung der semitischen Fragen und Begriffe geben diese Sicherheit nicht her. Das gleiche gilt freilich erst recht für die neuerdings wieder vereinzelt vorgetragene Ansicht, Lukas sei ein Judenchrist aus der Diaspora.

3.2 Die Nachrichten aus der Alten Kirche und die moderne Kritik

3.2.1 Die Zeugnisse

Irenäus von Lyon

Nun gibt es freilich aus der Alten Kirche wie schon bei den Evangelien nach Matthäus und Markus eine Reihe von Nachrichten, die den Verfasser wesentlich genauer zu kennen scheinen. Im einzelnen handelt es sich um Zeugnisse von der Mitte des zweiten Jahrhunderts an, von denen anzuführen sich m. E. allenfalls das des Irenäus von Lyon († um 200) lohnt: „Und Lukas hat als Begleiter des Paulus das von ihm gepredigte Evangelium in einem Buch niedergelegt“ (Haer. III 1,1 nach Eusebius, Kirchengeschichte V. 8,3; vgl. noch Irenäus, Haer. III 10,1; 14,1.2 und I 23,1). Irenäus verweist zur Begründung auf die sog. Wir-Berichte der Apostelgeschichte (s. dazu unten § 8 Nr. 6.3.1), die den Verfasser der Apostelgeschichte als Begleiter des Paulus ausweisen, und auf 2 Tim 4,10 f., wo Lukas als einziger Begleiter des Paulus genannt ist, sowie auf Kol 4,14, wo von Lukas als dem geliebten Arzt die Rede ist (Haer. III 14,1). Auf Philemon 24, wo ebenfalls ein Lukas als Mitarbeiter des Paulus erwähnt wird, nimmt er hier keinen Bezug.

Irenäus schreibt: „Dieser Lukas war von Paulus unzertrennlich und sein Mitarbeiter am Evangelium, wie er selbst deutlich macht, und zwar nicht, um sich aufzuspielen, sondern von der Wahrheit gedrängt. Denn als sich Barnabas und Johannes, der sich Markus nennt, von Paulus getrennt und sich nach Zypern eingeschifft hatten (vgl. Apg 15,39), da, sagt er, ‚kamen wir nach Troas‘ (Apg 16,8). Und als Paulus im Traum einen Mann aus Mazedonien gesehen hatte, der zu ihm sagte: ‚Komm nach Mazedonien und hilf uns‘, Paulus (Apg 16,9), da, sagt er, ‚hatten wir das Verlangen, sofort nach Mazedonien aufzubrechen, da uns klar war, dass der Herr uns rief, ihnen das Evangelium zu bringen. Wir segelten also von Troas ab mit Kurs auf Samothrake‘ (Apg 16,10 f.). Im Folgenden beschreibt er sorgfältig ihre ganze weitere Reise bis nach Philippi (vgl. Apg 16,12) und wie sie (dort) zum erstenmal predigten: ‚Wir setzten uns‘, sagt er nämlich, ‚und sprachen zu den Frauen, die sich eingefunden hatten‘ (Apg 16,13). Es (wird auch berichtet), was für Leute da zum Glauben kamen und wie viele es waren. Und er sagt auch: ‚Nach den Tagen der Ungesäuerten Brote segelten wir von Philippi ab und kamen nach Troas, wo wir uns sieben Tage aufhielten‘ (Apg 20,6).. Weil Lukas bei allem dabei war, hat er alles genau aufgeschrieben, ohne bei einer Lüge oder Übertreibung ertappt werden zu können, weil eben alle diese Dinge so feststehen und er älter ist als alle, die jetzt andere Lehren verbreiten und die Wahrheit nicht kennen. Er war ja nicht nur ein Begleiter der Apostel, sondern auch ihr Mitarbeiter, vor allem aber der des Paulus, und Paulus hat das in seinen Briefen auch selbst gezeigt …“ (Irenäus von Lyon, Haer. III 14,1).

Weitere Zeugnisse

In den sog. ► anti-marcionitischen, in ihrem Alter häufig überschätzten Evangelienprologen wird im Vorwort zum Lukasevangelium gesagt, dies sei von dem Arzt Lukas aus Antiochien geschrieben, der keine Frau und keine Kinder gehabt und sein Evangelium als dritter, also nach Matthäus und Markus, aber vor Johannes verfasst habe und in Bithynien im Alter von 84 (88) Jahren gestorben sei. Darüber hinaus finden sich bei Justin dem Märtyrer († um 165) Anspielungen auf das Lukasevangelium, und Marcion hat bekanntlich (um 140) das Werk des Lukas ohne dessen Namen mit erheblichen Streichungen (z. B. Lk 1–2 und das meiste von Lk 3–4) und Korrekturen als sein „Evangelium“ herausgegeben. Auch in dem im ausgehenden zweiten Jahrhundert verfassten ► Muratorischen Kanonverzeichnis wird von Lukas berichtet, ohne dass daraus neue Kenntnisse über die bereits genannten Quellen hinaus gewonnen werden könnten. Nach Origenes (185 – nach 254) hat Paulus das Werk des Lukas sogar mit Lob bedacht.

3.2.2 Überprüfung der Kirchenväterzeugnisse

Lukas als Paulusbegleiter?

Die Zeugnisse aus der Alten Kirche lassen sich dadurch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, dass diese Lukas mit dem in Phlm 24 von Paulus selbst und dem in den ► Deuteropaulinen genannten Paulusbegleiter Lukas identifizieren. Wäre dieser Lukas der Verfasser der Apostelgeschichte, dann müsste er Paulus längere Zeit begleitet haben, was Irenäus ja auch tatsächlich behauptet, und deswegen nicht nur mit seiner Theologie, sondern auch mit seinen wesentlichen Daten und Intentionen vertraut sein, so dass zu fragen ist: Passt das Zeugnis der Apostelgeschichte mit dem Selbstzeugnis des Paulus zusammen? Dies ist nach allgemeiner Überzeugung aber nicht der Fall. Weder die Paulusreisen nach Jerusalem vor dem Apostelkonzil, noch die Darstellung der Auseinandersetzungen und Beschlüsse dieses Konzils stimmen bei Paulus und in der Apostelgeschichte überein, und dass Paulus einen seiner Mitarbeiter den Juden(-christen) zuliebe hätte beschneiden lassen (Apg 16,3), scheint mir absolut unvorstellbar, auch wenn dies Exegeten gelegentlich für möglich halten.

Da den Berichten des Paulus als Beteiligten und in vieler Hinsicht Betroffenen trotz aller auch hier anzuwendenden Vorsicht eindeutig die Priorität gebührt und auch die theologischen Anschauungen des Paulus in der Apostelgeschichte kaum wiederzuerkennen sind und darüber hinaus die Existenz von Paulusbriefen in der Apostelgeschichte nicht erwähnt wird, kann der Autor dieses Werkes kaum der Paulusbegleiter Lukas sein. Allerdings ist gerade in dieser Frage des Verhältnisses der lukanischen Apostelgeschichte zu Paulus und seiner Theologie in der letzten Zeit vieles in Bewegung. Schröter hat in seinem Literaturbericht die Lage so zusammen gefasst. Die Diskussion bewege sich zwischen zwei Extremen: „der Paulusbegleiter Lukas, der einen historisch zuverlässigen Bericht über die Paulusmission übermittelt, auf der einen, der unbekannte Autor aus dem 2. Jh., der praktisch ohne Zugang zu Paulusüberlieferungen das literarische Konstrukt eines ‚paulinischen Christentums’ entwirft, auf der anderen Seite.“ Trotz der in der neueren Literatur deutlich erkennbaren Annäherung des Lukas und seiner Theologie an Paulus bleibt festzustellen, dass die Spezifika der paulinischen Briefe in der Apostelgeschichte fehlen. Dies kann kaum ausschließlich damit zusammenhängen, dass der Paulusbegleiter der Wir-Berichte in der Zeit, in der der Apostel die Briefe schrieb (= Teile der zweiten und dritten Missionsreise, 16,18–20,4) gerade nicht bei Paulus war.

Lk im Neuen Testament

Darüber hinaus ist häufig so argumentiert worden, die alten kirchlichen Nachrichten über den Autor des Lukasevangeliums verdienten auch deswegen kein historisches Vertrauen, weil wir ihre Entstehung aus den Nachrichten der oben genannten Spätzeugnisse des Neuen Testaments selbst noch verfolgen könnten. Deswegen erstaunt es auch nicht, dass die aufgrund von Kol 4,14 („Lukas der Arzt“) durchgeführte Prüfung, ob die Werke des Lukas eine besondere Affinität zur Medizin erkennen lassen, zu keinem positiven Ergebnis geführt hat.

Nun hat man aber diese Behauptung, die altkirchlichen Aussagen beruhten auf einer Kombination aus den paulinischen und deuteropaulinischen Bemerkungen über Lukas, mit dem Argument als unbrauchbar zu erweisen versucht, es handele sich doch um einen merkwürdigen Zufall, „dass die Kirche auf der Suche nach geeigneten Verfassernamen für zwei ihrer Evangelien ausgerechnet in solchen Briefen ‚fündig“ geworden sein soll, die um Jahrzehnte jünger sind als die beiden Evangelien“ (Thornton 80). Die Angelegenheit sei vielmehr genau umgekehrt abgelaufen. Weil die Verfasser des Ersten Petrus- und des Zweiten Timotheusbriefes Markus und Lukas bereits als Verfasser von Evangelien gekannt hätten, hätten sie diese mit Petrus und Paulus in Verbindung gebracht. Dieses Argument scheint insgesamt kaum plausibler zu sein als das oben erwähnte von der Erschließung des Lukas aus den Wir-Berichten der Apostelgeschichte.

Das zuerst genannte Argument von der Erschließung aus den Wir-Berichten kann sich immerhin darauf stützen, dass Irenäus selbst auf diese Wir-Berichte Bezug nimmt. In jedem Fall schießt m. E. die Annahme Thorntons (66), spätestens mit der Verbreitung eines Evangeliums über die Grenze der Entstehungsgemeinde hinaus habe ein Interesse bestanden, nicht nur Verfasser und Titel, sondern auch noch weitere Informationen über diese Schrift zu besitzen, zumindest beim Markusevangelium weit über das Ziel hinaus. Es dürfte doch nicht von ungefähr kommen, dass im Prinzip alle vier in den Kanon aufgenommenen Evangelien keinen Verfassernamen (außer in der Überschrift, die in der Regel für sekundär gehalten wird) aufweisen, was gerade beim Lukasevangelium angesichts des topischen Charakters seines Vorwortes, zu dem normalerweise der Verfassername gehört, besonders auffällig ist. Sosehr irgendwann zum Ausgang des ersten oder zu Beginn des zweiten Jahrhunderts, sobald mehrere Evangelien in einzelnen Gemeinden Verbreitung gefunden hatten, eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen den verschiedenen Evangelien geschaffen worden sein muss, so wenig muss beim Markusevangelium diese sozusagen von Anfang an – beim Verlassen der Heimatgemeinde! – bestanden haben, weil es eben nicht das Evangelium des Markus, sondern das von Jesus Christus ist und weitere Werke der gleichen Art damals noch nicht existierten. Die Tatsache, dass auch Matthäus und vor allem Lukas ihren Namen nicht im Korpus des Evangeliums nennen, könnte zumindest ein Hinweis darauf sein, dass die Notwendigkeit der Unterscheidung des eigenen Werkes von den anderen Evangelien auch von ihnen nicht gesehen wurde, zumal keineswegs ausgemacht ist, ob Matthäus und Lukas ihr Werk neben das Markusevangelium stellen wollten oder ob sie nicht eher dessen Ersetzung anstrebten.

Das Lukasevangelium stammt von einem hellenistisch gebildeten, mit der LXX und jüdischen Bräuchen vertrauten Christen, dessen Namen wir nicht kennen und der vermutlich kein geborener Jude war. Dass wir gleichwohl auch weiterhin von Lukas und dem Lukasevangelium sprechen, wie wir es bereits beim Markus- und Matthäusevangelium getan haben, hat traditionelle Gründe. Eigentlich müsste man den Namen immer in Anführungszeichen setzen.

3.2.3 Stammte der gemeinsame Verfasser von Lukasevangelium und Apostelgeschichte aus Philippi?

Exakte Ortsbeschreibungen und ihre Konsequenzen

Vor einiger Zeit hat Pilhofer aus der zuverlässigen Darstellung in Apg 16,6 ff. auf eine Herkunft des Verfassers von Lukasevangelium und Apostelgeschichte aus Philippi geschlossen und dabei vor allem darauf abgehoben, „dass die ‚kartographische Wegbeschreibung‘ nirgendwo sonst in der Apostelgeschichte so präzis ist wie hier in Makedonien; ein Mehr an Einzelheiten ist im Rahmen eines Werkes wie der Apostelgeschichte schwerlich auch nur vorstellbar…“ (165). M. E. führen die von Pilhofer 249–251 aufgezeigten Beobachtungen, wonach 16,9 f. 13–15.16–18.19–24.25–34 zumindest in einem wichtigen Kernbestand auf Tradition beruhen, allenfalls so weit, dass der Verfasser der Apostelgeschichte Zugang zu Ortstraditionen aus Philippi hatte, nicht aber dahin, dass Philippi „seine Gemeinde“ gewesen sein muss. Die Überlegung, dass er aufgrund der guten Ortskenntnis aus Philippi stammen muss / soll, kommt m. E. über den Status einer (anregenden) Vermutung nicht hinaus.

Man wird bei der Würdigung des von Pilhofer beschriebenen Tatbestandes auch im Auge behalten müssen, was Breytenbach zu Kap. 13 und 14 erarbeitet hat, dass nämlich auch dort ein unlösbarer Zusammenhang zwischen der Erzählung und dem jeweiligen Schauplatz gegeben ist (52). Breytenbach erörtert verschiedene Möglichkeiten, wie der Verfasser der Apostelgeschichte an diesen, Lokalbezug verratenden Stoff gekommen sein kann, unter denen aber die Variante, dass der Verfasser der Apostelgeschichte in dieser Gegend seinen Wohnort hatte, bezeichnenderweise nicht auftaucht (94 f.). – Es sieht gegenwärtig so aus, als bahne sich in der deutschen Forschung zur Apostelgeschichte so etwas wie ein grundlegender Wandel hinsichtlich der Einschätzung ihrer historischen Zuverlässigkeit und ihrer Traditionsgebundenheit an. Ein zuverlässiger Schluss auf die Herkunft des Verfassers der Apostelgeschichte ergibt sich aus diesen aber wohl nicht.

4. Die Abfassungszeit des Lukasevangeliums

Nach dem MkEv verfasst

Da Lukas die Logienquelle und das Markusevangelium als Quellen benutzt, muss er sein Werk nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben haben. Dafür, dass dies der Fall ist, spricht auch seine Bearbeitung der markinischen Fassung der synoptischen Apokalypse, die in 21,20–24 trotz der erneuten jüngsten Bestreitung deutlich nicht nur von der Zerstörung Jerusalems spricht, sondern diese selbst als schon geschehen voraussetzt. Anders ist m. E. weder die lukanische Textveränderung in 21,20 noch die in 21,24 mit ihrer Anspielung auf das Ende des Jüdischen Krieges („als Gefangene wird man sie in alle Länder unter alle Völker verschleppen“) verstehbar, auch wenn das häufig bestritten wird. Die Formulierung von 19,43 f. mit dem Hinweis auf den Wall um Jerusalem und die Belagerung dürfte ebenfalls bereits auf die Zerstörung Jerusalems zurückblicken, denn die Belagerung mit Hilfe eines Walles geschah zwar häufig, war aber nicht so normal, dass Lukas sie einfach hätte als Weissagung einführen können. Die Reflexion der Autoren auf entsprechende alttestamentliche Weissagungen, um die Abfassung des Lukasevangeliums in den 60er Jahren zu ermöglichen, scheint mir nicht tragfähig zu sein.

Kenntnis der Paulusbriefe?

Ist von daher der Beginn des Zeitraumes, in dem das Lukasevangelium entstanden ist, gut bestimmbar, so gilt das leider für das Ende dieses Zeitraumes nicht in gleicher Weise und ist dementsprechend kontrovers (vgl. Meiser). Dass Lukas auf den Tod des Paulus zurückblicken muss, unterliegt keiner Frage und wird durch Apg 21,24 f.38 zwar nicht erwiesen, aber doch in gewisser Weise nahegelegt. Dass er dessen Briefe nicht gekannt hat, ist angesichts der Tatsache, dass er nirgends in irgendeiner Weise darauf Bezug nimmt, die wahrscheinlichste, wenn auch neuerdings wieder bestrittene Annahme. Da diese allem Anschein nach um 100 gesammelt vorlagen, soll Lukas die Apostelgeschichte noch vor deren Sammlung geschrieben haben. Nun unterscheidet sich aber das „erste Wort“ (Apg 1,1) des Lukas von seinem zweiten, der Apostelgeschichte, etwas im Stil, woraus man auf eine gewisse zeitliche Distanz zwischen Evangelium und Apostelgeschichte geschlossen hat und mit dem Evangelium etwas weiter hinauf ins erste Jahrhundert gegangen ist, obwohl solche Stilunterschiede auch zwischen dem ersten und zweiten Teil der Apostelgeschichte festgestellt worden sind. Von daher wird das Evangelium in der Regel zwischen 80 und 90 datiert.

Ob die Argumentation mit den Paulusbriefen für die Datierung der Apostelgeschichte freilich in Zukunft weiter so eingesetzt werden kann, scheint fraglich, denn die Tatsache der Sammlung setzt doch ein Bewusstsein von der Bedeutung dieser Briefe voraus, das nicht schlagartig entstanden sein, sondern sich in einem längeren Prozess herausgebildet haben wird. Entweder ist dieser Prozess vollkommen an Lukas vorbeigegangen oder aber Lukas war an diesem gar nicht interessiert – aber ist das vorstellbar, beim „Historiker“ Lukas? Kann man angesichts dieser Tatsache Lukas in einer oder mehreren paulinischen Gemeinden ansiedeln? Auch das Argument hinsichtlich der Apostelgeschichte, in dieser spielten die Verfolgungen unter Domitian noch keine Rolle und deswegen müsse die Apostelgeschichte noch vor diesen, also um 90, verfasst sein, wird man, wenn überhaupt, nur mit großer Vorsicht einsetzen dürfen, da zumindest eine große Verfolgung unter Domitian inzwischen doch erheblichen Zweifeln in der Literatur begegnet (s. dazu unten § 31).

Man wird den Entstehungszeitraum des Lukasevangeliums am ehesten zwischen 80 und 100 ansetzen. Letztere Grenze wird durch ► Didache 1,4 f. gesetzt, wo doch wohl eine Erinnerung an die lukanische Feldrede vorliegt. Auch die theologische Entwicklung im Unterschied zu der des 2. Jahrhunderts spricht für diesen Zeitraum (vgl. Meiser). Dass die Autoren, die in Lukas aufgrund der Wir-Passagen der Apostelgeschichte (s. dazu § 8 Nr. 6.3.1) einen Paulusbegleiter sehen, hier eher weiter ins

1. Jahrhundert hinaufgehen, versteht sich von selbst.

5. Der Abfassungsort des Lukasevangeliums und die Zusammensetzung der lukanischen Gemeinde

Nur wenige Kriterien

An Orten und Landschaften, in denen Lukas sein Evangelium nach der Literatur verfasst haben soll, ist kein Mangel. Genannt werden: Caesarea, die Dekapolis, Antiochien, Kleinasien, Ephesus, Achaia, Makedonien, aber auch Rom, wobei Achaia und Rom schon in der Alten Kirche genannt wurden. Aus der Vielfalt dieser Nennungen auch in jüngster Zeit ist erkennbar, dass es kaum Daten zur Näherbestimmung des Abfassungsortes gibt und dass man dazu auf allgemeine Erwägungen angewiesen ist. Man hat z. B. auf die große Bedeutung Roms in der Apostelgeschichte hingewiesen, aber diese wird doch eher in deren Charakter als Reichshauptstadt und Mittelpunkt der damaligen Welt als in einer konkreten Beziehung des Autors zu dieser Stadt begründet sein. Von dort aus auf eine Abfassung des Evangeliums in Rom zu schließen, wäre deswegen doch wohl zu gewagt. Man hat freilich dazu ergänzend auch eine westliche Perspektive entdecken wollen, aus der Lukas auf Palästina blickt, die auch mit seiner Sicht des Mittelmeers übereinstimmen würde, das für ihn das Meer schlechthin ist, weswegen er die markinische Bezeichnung „Meer“ für den See Genesaret konsequent ändert.

Außerhalb Palästinas

Aber sehr viel weiter als zu der Bestimmung, dass der Verfasser außerhalb Palästinas schreibt, was wir angesichts seiner Sprache und des Zurückgehens spezifisch jüdischer Fragestellungen ohnehin schon wissen, kommt man mit diesen Überlegungen auch nicht. Soweit man das Matthäusevangelium nach Antiochien verlegt, sollte man für das Lukasevangelium besser auf Antiochien als Abfassungsort verzichten, obwohl Lukas schon im anti-marcionitischen Prolog und bei Eusebius sowie Hieronymus mit Antiochien in Verbindung gebracht wird. (Die Entstehung dieser Ansicht dürfte mit dem „Wir“ im westlichen Text [s. dazu unten § 8 Nr. 7] von Apg 11,28 zu tun haben.) Es sei denn, man geht von mehreren, relativ getrennten christlichen Gemeinden in Antiochien aus.

Überwiegend Heidenchristen

Die Gemeinde, für die Lukas schreibt, wird sich ganz überwiegend aus Heidenchristen zusammensetzen. Es ist schon deutlich geworden, dass das Interesse an spezifisch jüdischen Fragen bei Lukas gegenüber dem Markusevangelium deutlich gemindert ist und dass auch bei Markus noch vorhandene semitische Termini in griechische überführt werden, wenn das auch nicht bei allen und konsequent der Fall ist. Angleichungen an hellenistische und nicht-palästinische Realien sind in 5,19 parMk (Dach aus Ziegeln) und 6,48 parMt (Haus mit Keller) erkennbar. Für heidenchristliche Adressaten spricht schließlich auch die Anknüpfung an die hellenistische Literatur mit Hilfe des Vorworts. Zu diesem kann das Vorwort des Josephus in seinem Jüdischen Krieg verglichen werden, das sich auch nicht vornehmlich an Juden wendet. In die gleiche Richtung weisen schließlich auch die Rückführung des Stammbaums Jesu nicht nur auf David und Abraham als die entscheidenden Stationen der jüdischen Erwählungsgeschichte wie bei Matthäus, sondern bis zu Adam, und endlich auch seine Rede von Judäa als Bezeichnung für Palästina und nicht etwa nur die Umgebung Jerusalems. – Allerdings ist dies nur ein Aspekt des lukanischen Horizonts, neben den auch noch die Darstellung von der Entstehung der Gemeinden in der Apostelgeschichte zu stellen ist. Paulus beginnt dort mit seiner Predigt nicht nur in den Synagogen, sondern er gewinnt in der Regel aus den Juden und den jüdischen Sympathisanten der Synagoge auch die ersten Anhänger. Da dieses Bild dem Lukas von irgendwoher vermittelt sein muss und die wahrscheinlichste Annahme ist, dass diese Vermittlung (zumindest auch) durch die Zusammensetzung seiner Gemeinde geschah, ist es kaum sinnvoll, diese Gemeinde als ausschließlich aus Heidenchristen bestehend anzusehen. Man wird wegen des im dritten Evangelium erkennbaren heidenchristlichen Horizontes wohl kaum mit einem gleich starken Anteil von Juden- und Heidenchristen in der Gemeinde des Lukas zu rechnen haben, aber aufgrund der Darstellung der Apostelgeschichte ist doch ein gewisser Anteil an Judenchristen zu veranschlagen. Dazu dürften auch eine Reihe von Frauen gehört haben, wie überhaupt nach der Apostelgeschichte Frauen von Anfang an zur Urgemeinde gehörten. Ob einige von ihnen auch missionarisch tätig waren, wird v. a. in der feministischen Literatur diskutiert.

Da das dritte Evangelium eindeutig das nach 70 verfasste Markusevangelium voraussetzt und bereits dem Autor der ca. 100 entstandenen ► Didache bekannt gewesen sein dürfte, dürfte es zwischen 80 und 100 abgefasst worden sein.

6. Die Quellen des Lukasevangeliums

Kannte Lk „viele“ Evangelien?

Dass Lukas das Markusevangelium und die Logienquelle benutzt hat, hat sich bereits bei der Behandlung des synoptischen Problems ergeben (s. oben. § 3). Auffällig ist der Hinweis auf die zahlreichen Vorgänger im Prolog. Dieser Hinweis ist jedoch nicht so zu verstehen, dass Lukas bereits mehrere Evangelien kannte, da die Erwähnung mehrerer Vorgänger und die Betonung der zuverlässigeren Art der eigenen Darstellung zu den Topoi eines solchen Vorworts gehört. Es reicht so vollkommen, in den „Vielen, die es unternommen haben“, den Verfasser des Markusevangeliums, den der Logienquelle Q und die Autoren des Sonderguts des Lukas zu sehen.

Wie Lukas mit seinen Vorlagen umgegangen ist, lässt sich für die Logienquelle und das Sondergut nur per Analogie zu seinem Umgang mit dem Markusevangelium erheben. Da er einen großen Teil des Markusevangeliums (die Angaben schwanken je nach der gewählten Bezugsgröße. Wählt man die Verszählung als Vergleichspunkt, so kann man sagen, dass Lukas von den 661 Versen [auch diese Angabe schwankt, vgl. oben § 3 Nr. 4] des Markusevangeliums ca. 350 übernommen hat.) ausgelassen hat, ist auch mit einem Fortfall von Material der Logienquelle zu rechnen. Die Gründe für die Auslassung der im Markusevangelium vorhandenen Stücke lassen sich teilweise noch erkennen. Zum einen spielt die mehrfach erwähnte größere Ferne zum Judentum und dessen Fragestellungen eine Rolle. Stücke mit solchem Inhalt lässt Lukas als seine Gemeinde nicht mehr interessierend aus (Mk 7,1–23; 10,1–12; 7,24–30). Aber auch negative Äußerungen über Jesus und seine Verwandten oder über seine Jünger werden fortgelassen (Mk 3,20 f.; 6,45–52). Ein weiterer Grund dürfte sein, dass Lukas es vermeidet, Doppelberichte zu bringen, weswegen er sich bei Parallelen zwischen Q und Markus für eine Fassung entscheiden muss.

Reichlich Sondergut

Die Tatsache, dass fast die Hälfte des Evangeliums keine Parallele bei Markus und / oder Matthäus aufweist, zeigt, dass der Verfasser reichlich Sondergut-Material zur Verfügung hatte. Dass dieses Material aus einer Quelle stammt, ist angesichts der inhaltlichen, aber auch stilistischen Unterschiede wenig wahrscheinlich. Dieses Sondergut hat Lukas zum großen Teil in zwei geschlossenen Abschnitten in seinem Evangelium untergebracht (sog. Kleine [= 6,20–8,3] und Große Einschaltung [= 9,51–18,14]) und die sog. Vorgeschichte (1–2) an den Anfang gestellt. Das Markusgut dagegen findet sich in drei geschlossenen Blöcken, die freilich auch mit kleineren Einfügungen aus Sondergut oder der Logienquelle Q versehen sind: 3,1–6,19; 8,4–9,50; 18,15–24,11.

Sonderquelle für die Passionsgeschichte?

Ein besonderes Problem stellt noch die Passionsgeschichte dar, weil hier im Vergleich mit dem zweiten Evangelium nicht nur Umstellungen (z. B. 22,54b-62), sondern auch einige Einfügungen (22,15–18.24–30.31 f.35–38.43 f.; 23,6–12.13–16.27–31.39b-43) und Auslassungen (Mk 14,3–9.27.33 f.38b-42.44.46.49b-52.55–61a; 15,4 f.16–20a.23.25.29 f.34 f.44 f.) vorliegen, weswegen man dafür lange Zeit mit einer zusammenhängenden Sonderquelle gerechnet hat, die Lukas neben der Passionsgeschichte des Markusevangeliums benutzt haben sollte. Auffällig sind die Übereinstimmungen mit der johanneischen Passions- und Ostergeschichte v. a. in nicht-redaktionellen Passagen.

So nehmen manche Forscher nicht nur die Übernahme von Sondergut-Material an, sondern rechnen damit, dass Lukas neben der markinischen noch eine zweite, ihm bereits schriftlich vorliegende Passionsgeschichte kannte, die eng mit der vorjohan-neischen verwandt ist (Klein, Schleritt). Andere versuchen, die lukanische Passionsgeschichte vollständig auf der Basis der markinischen Leidensgeschichte zu verstehen, die Lukas seinen schriftstellerischen und theologischen Zielen entsprechend bearbeitet und mit weiteren Stoffen angereichert habe (vgl. Harrington). An der lukanischen Bearbeitung der Passionsgeschichte leuchtet schon etwas von dem großen Schriftsteller Lukas auf, das dann in der Apostelgeschichte, wo Lukas aufgrund des fehlenden vorgegebenen Rahmens viel selbständiger arbeiten muss und kann, noch deutlicher hervortritt.

7. Die Sprache des Lukasevangeliums

Unterschiedliches Sprachniveau

Die Sprache des Lukasevangeliums ist Gegenstand intensiver Forschung gewesen, was sicher auch damit zusammenhängt, dass dessen Sprache am ehesten von den vier Evangelien dem Ideal des klassischen Griechisch entspricht, wie schon Hieronymus (ca. 347–420) bemerkt hat. Allerdings, und das ist auffällig, gibt es in der Sprache des Evangeliums erhebliche Unterschiede. Dass und wie Lukas fast klassisch zu schreiben in der Lage ist, zeigt der Prolog 1,1–4, mit dessen Stil sich im Neuen Testament nur noch Hebr 1,1–4 vergleichen lässt. 3,1 f. und Apg 1,1 f. kommen an das Niveau von 1,1–4 zwar nicht heran, zeigen aber ebenfalls das hohe Stilniveau des Lukas. Lk 1,5–2,52 sind dagegen stark von der Sprache des Alten Testaments beeinflusst, was man wiederum vom übrigen Evangelium jedenfalls nicht in gleichem Maße sagen kann, obwohl sich auch dort, wie wir gesehen haben, immer noch eine ganze Reihe von semitischen Termini und Anlehnungen an die Sprache der ► Septuaginta finden (vgl. z. B das häufige „und es geschah“, die den Propheten-Schriften entnommene Wendung „es werden Tage kommen“ und die Form der Eigennamen des Alten Testaments). Dieser Unterschied in der Sprache wird sicher auch mit den verarbeiteten Quellen zusammenhängen, aber dieser Umstand erklärt diese Differenzen nicht vollständig. Warum Lukas, dessen stilistische Fähigkeiten der Prolog zeigt, sein Evangelium nicht noch gründlicher stilistisch überarbeitet, als er es ohnehin getan hat, bleibt unklar.

Die Verbesserungen sind im Einzelnen durch einen Vergleich mit dem Markustext eindeutig zu erheben, sie brauchen hier nicht eigens aufgeführt zu werden (vgl. dazu Fitzmyer, Luke I 107 ff.) – es mag der Hinweis genügen, dass Lukas ebenso wie Matthäus die auffällig häufige Parataxe des Markus oft durch eine Partizipialkonstruktion ersetzt und auch das historische Präsens des Markus meidet. Ein Vergleich des Vokabulars mit dem der klassischen griechischen Schriftsteller demonstriert die Eleganz des von Lukas geschriebenen Griechisch, obwohl 90 % seines Vokabulars auch in der Septuaginta zu finden ist. In diesem Phänomen kommt zum Ausdruck, dass Lukas mit seiner Sprache eine doppelte Tendenz verfolgt: Er will sich sowohl an die Klassik als auch an die Sprache der Bibel anpassen. Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass Lukas sich auch um eine stilistisch ausgefeilte Sprache bemüht. Dies kommt u. a. in dem Gebrauch von Synonymen zur Vermeidung von Wiederholungen und in dem von Klangfiguren wie der Alliteration zum Ausdruck.

8. Die Widmung an Theophilus

Die im Rahmen der neutestamentlichen Evangelien ungewöhnliche Widmung an den „hochverehrten Theophilus“ (= Gottesfreund, „Gottlieb“) ist im Rahmen antiker Werke nichts besonderes, da diese häufig im Vorwort (oder auch im Nachwort) Widmungen enthalten. So dediziert z. B. Josephus sowohl seine Jüdischen Altertümer (Proöm. 1,8) als auch sein Werk Contra Apionem (I 1,1; vgl. auch II 1 und 296 sowie Vita 430) dem ebenfalls (jedenfalls in CAp II) „hochverehrten“ Epaphroditus, über dessen Identität ebenso verschiedene Vermutungen vorgetragen worden sind wie über den Widmungsempfänger des Lukasevangeliums.

Theophilus eine konkrete Person?

Verlegerpflichten des Widmungsempfängers?

Dieser „Gottlieb“ hat die Exegese vielfältig beschäftigt, und man hat eine Reihe von Überlegungen zu seiner Person angestellt, die aber über den Charakter von Vermutungen nicht hinausgelangt sind. Dass hinter diesem Namen eine konkrete Person steht, die der Verfasser des Evangeliums und der Apostelgeschichte (vgl. 1,1) im Blick hat, und dass Lukas nicht etwa einfach alle Gottesfreunde dieser Welt meint, sollte nicht bezweifelt werden. Die Buchwidmungen in der hellenistischen Literatur beziehen sich durchweg auf eine konkrete Person (die Ausnahme Philokrates im Aristeasbrief ist anders zu bewerten). Selbst die Anrede mit „hochverehrter“ Theophilus, aus der man u. a. mit Hinweis auf Apg 23,26; 24,3; 26,25, auf einen römischen Beamten geschlossen hat, ist eine in solchen Buchwidmungen verbreitete Höflichkeitsanrede (vgl. nur Jos CAp I 1) an einen in der Regel sozial Hochgestellten, so dass auch aus ihr nicht allzu bedeutende Schlüsse gezogen werden können. Der Name ist nicht römisch, er wird bei den Juden der Diaspora gerne gebraucht.

Dass der von Lukas im weiteren Verlauf des Vorwortes in Aussicht gestellte Zweck des Doppelwerks auf ein Verlangen des Theophilus zurückgeht, ist nicht besonders wahrscheinlich. Es dürfte sich in Lk 1,4 eher um eine Darlegung der von Lukas mit seinen beiden Werken beabsichtigten Zwecke als um konkrete Forderungen des Theophilus handeln (vgl. allerdings Alexander).

Dass der im Vorwort eines Werkes Genannte auch die Pflichten des Verlegers zu übernehmen und für die Verbreitung des „Buches“ zu sorgen hatte, wird man so generell sicher nicht sagen können, wie sich daraus ergibt, dass uns Widmungen von Büchern bekannt sind, die gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. In der Regel freilich dürften sowohl der Autor als auch der mit der Widmung Bedachte Interesse an der Verbreitung des Inhaltes und der mit der Widmung verbundenen Ehre gehabt haben, so dass sehr häufig durchaus von einer „verlegerischen“ Tätigkeit des Widmungsempfängers ausgegangen werden kann. Diese bestand darin, das Buch abschreiben zu lassen und es zu verbreiten, und unterschied sich von der gewerbsmäßigen Tätigkeit eines Buchhändlers dadurch, dass sie privat geschah und sich eben in der Regel nur auf ein bzw. mehrere Bücher desselben Autors bezog. Eine Verpflichtung allerdings auf seiten des Widmungsempfängers zur Verbreitung des Buches dürfte es nicht gegeben haben. Eine solche war im übrigen auch deswegen nicht nötig, weil man sich in der Antike, wenn der Ruf eines Buches sich erst ein wenig verbreitet und ein Bedürfnis, es zu lesen oder es zu besitzen, geweckt hatte, was z. B. durch öffentliche Autorenlesungen geschehen konnte, selbst privat Abschriften machen ließ.

„War ein bestimmtes Buch im Buchhandel nicht aufzutreiben …, misstraute man der Qualität der dort angebotenen Exemplare, waren finanzielle oder sonstige Gründe im Spiel, so verhinderte kein Urheber- oder Verlagsrecht, damals unbekannte Begriffe, dass man sich den Text irgendwo auslieh und eine private Abschrift herstellte. Ob der Interessierte dann den Text eigenhändig kopierte, hierzu einen fähigen oder sogar in solchen Arbeiten besonders erfahrenen Sklaven beauftragte, oder ob er die Arbeit einem Scriptorium, einer ‚Schreibanstalt‘ gegen Entgelt, übertrug, hing freilich wiederum von den jeweiligen persönlichen Intentionen und Möglichkeiten ab“ (Blanck 117 f.).

So wie der Autor Kopien seiner Bücher anfertigen ließ, so wird es in der Regel auch der Widmungsempfänger getan haben. Das beweist Statius (geb. ca. 40 n. Chr.), ein äußerst vielseitiger Dichter in Rom, der das zweite Buch seiner Silvae einem Atedius Melior widmet und diesen bittet: „Liebster Melior, wenn sie (die Verse) dir nicht missfallen, so mögen sie durch dich ihr Publikum finden, andernfalls sende sie mir zurück“ (2, praef.).

9. Die theologischen Anschauungen des Lukasevangeliums

Dass das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte in ihren theologischen Anschauungen eine Einheit bilden, ist weitestgehend anerkannt und aufgrund der gemeinsamen Verfasserschaft naheliegend. Diese Tatsache würde es rechtfertigen, die Theologie dieser beiden Schriften zusammen zu behandeln. Dies wird aus praktischen Gründen hier nicht getan, sondern die mehr das Evangelium betreffenden Gesichtpunkte werden hier erörtert, die mehr die Apostelgeschichte betreffenden in § 8 unter Nr. 11. Da grundsätzliche Aspekte der lukanischen Theologie in beiden Abschnitten erörtert werden, sollte § 8 Nr. 11 hier zur Ergänzung herangezogen werden.

9.1 Der theologische Entwurf des Lukas in der Kritik

Das LkEv als Werk des Frühkatholizismus?

Wie sehr das Lukasevangelium und hier vor allem dessen theologische Anschauungen in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt des exegetischen Interesses gestanden haben, kann man sich daran verdeutlichen, dass dieses Evangelium als ein Sturmzentrum der wissenschaftlichen Bemühungen um das Neue Testament bezeichnet worden ist und dass die theologischen Anschauungen des Lukas mit harschen Worten getadelt wurden. Die Zuweisung des lukanischen Doppelwerks an den ► Frühkatholizismus, worunter v. a. die institutionelle Absicherung des Glaubens durch Lehramt und Ämtersukzession zu verstehen ist, und die damit verbundene Ablehnung seiner theologischen Anschauungen durch Ernst Käsemann war fast noch vornehm, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch folgende Ansicht Overbecks (1837–1905) wieder aufgenommen wurde: „Es ist das eine Taktlosigkeit von welthistorischen Dimensionen, der größte Exzess der falschen Stellung, die sich Lukas zum Gegenstand gibt … Lukas behandelt historiographisch, was keine Geschichte und auch so nicht überliefert war“. Die kirchliche Predigt wurde sogar vor die Alternative gestellt, sich für Lukas oder Paulus zu entscheiden. Allerdings wurde die Theologie und v. a. die Geschichtsauffassung des dritten Evangelisten von anderen, ebenfalls protestantischen Autoren zur gleichen Zeit als so typisch für das ganze Neue Testament angesehen, dass sie als Urbild ganzer neutestamentlicher Entwürfe dienen konnte. Gegen den Vorwurf eines latenten Katholizismus von seiten ihrer Gegner verteidigten sich diese Autoren gerade mit dem Hinweis auf die Zugehörigkeit des Lukasevangeliums zum Kanon.

9.2 Der Interpretationsentwurf Hans Conzelmanns

Drei getrennte Perioden der Heilsgeschichte?

In dieser Diskussion mit Schlagworten rief Conzelmann zu einer präziseren Bestimmung der Begriffe und zu einer genaueren Analyse, die er mit seiner Schrift „Die Mitte der Zeit“ vorlegte, wobei er freilich auf wichtige Erkenntnisse von Baers zurückgreifen konnte. Diese Schrift beherrscht die Diskussion teilweise bis heute, obwohl das Gespräch in der Zwischenzeit doch wohl gezeigt hat, dass Conzelmann die Dinge teilweise etwas zu scharf gesehen hat.

Nach Conzelmann (und v. Baer) unterscheidet Lukas drei Perioden der Heilsgeschichte, einmal die Zeit Israels, gekennzeichnet durch das Gesetz und die Propheten, die bis zu Johannes dem Täufer einschließlich reicht, sodann die Zeit Jesu als Mitte der Zeit und der Heilsgeschichte, mit der aber nicht schon wie bei Markus die Endzeit anbricht, sondern die nur eine „Vorausdarstellung“ der künftigen Heilszeit bildet. Während Paulus auch die eigene Zeit, also die Zeit der Kirche als eschatologische ansieht (2 Kor 6,2), ist das bei Lukas nicht der Fall, er „sieht das Heil bereits wieder in der Vergangenheit. Die Heilszeit ist historisch geworden, ein Zeitabschnitt, der wohl die Gegenwart bestimmt, aber als Epoche zurückliegt und abgeschlossen ist. … Mit Jesus ist nicht die Endzeit angebrochen… Nicht, dass Gottes Reich nahe herbeikam, ist die frohe Botschaft, sondern dass durch das Leben Jesu die Hoffnung auf das künftige Reich begründet ist“ (Conzelmann 30 f.).

Schließlich folgt nach dieser Interpretation auf die Mitte der Zeit die Zeit der Kirche, gekennzeichnet durch das Wirken des Heiligen Geistes, durch den Rückblick auf die Heilszeit in Jesus und durch die Übertragung der heilsgeschichtlichen Stellung Israels auf die Kirche. – Diese Dreiteilung wird heute nicht mehr so stark akzentuiert und stattdessen eher eine Zweiteilung vorgezogen, die die Verbindung zwischen der Zeit Jesu und der der Kirche stärker betont, ohne aber beide einfach ineinander aufgehen zu lassen. Auch hinsichtlich der Grenzziehung zwischen der Zeit Israels und der Zeit Jesu – ist diese mit Lk 16,16 und Apg 10,37 hinter Johannes dem Täufer (so Conzelmann) oder in Anlehnung an die überbietende Parallelisierung von Jesus und dem Täufer in Lk 1 und an andere Worte besser vor dem Täufer zu ziehen? – ist sich die Exegese nicht mehr so sicher, wie Conzelmann es war. Es könnte durchaus sein, dass der Täufer schon zur Mitte der Zeit zu rechnen und nicht so scharf, wie Conzelmann das tut, von der Jesuszeit abzutrennen ist. Die grundsätzliche Grenzziehung zwischen der Zeit Israels und der folgenden Heilszeit durch Lukas hat sich dagegen weitestgehend durchgesetzt.

9.3 Die systematischen Prämissen der Diskussion über das Lukasevangelium

Hermeneutik des Vorurteils

Schon an dieser kurzen Darstellung kann man sehen, dass diese Diskussion nicht rein exegetisch geführt wurde, sondern stark von systematischen Positionen beeinflusst war. So wenig erstaunlich das für eine hermeneutisch bewusste Theologie ist, so auffällig ist der Umstand, dass um diese Positionen gleichzeitig immer wieder mit Hinweis auf neutestamentliche Texte gerungen und so deutlich gemacht wird, dass wir eine reine Exegese der Texte nicht haben, sondern immer wieder hermeneutische Vor- und Grundurteile die Exegese beeinflussen.

Proömium und Corpus des Evangeliums

Dann wundert es nicht, dass die Deutung von der Historisierung des Heils durch Lukas durchaus auch hinterfragt, verneint und dem Lukasevangelium ein ebenso kerygmatischer Charakter zugesprochen wird wie den übrigen Evangelien. Diese Ansicht kann sich immerhin darauf stützen, dass Lukas sich innerhalb seines Evangeliums trotz der z. T. anderen Absicht, die er im Vorwort zum Ausdruck bringt, genauso verhält wie die übrigen Synoptiker und dass von einer Absicherung des Glaubens durch die Geschichte und durch die geschichtliche Rückfrage dort nichts zu spüren ist. Dieses von der Ankündigung im Vorwort möglicherweise abweichende Verhalten im Innern des Evangeliums und die ganz andere Art der Evangelienschreibung auch des Lukas, z. B. im Vergleich mit den Arbeiten des Josephus, müssen die Frage veranlassen, ob das Vorwort richtig verstanden ist, wenn dort die Absicherung des Glaubens durch historische Forschung gefunden wird. Dass dieses Verständnis des Proömiums keineswegs zwingend ist, haben eine ganze Reihe von Arbeiten gezeigt. Oder kann man vielleicht sogar davon ausgehen, dass hier der Zwang der Konvention eines solchen Vorwortes die eigentlichen theologischen Absichten des Lukas überdeckt hat? Jedenfalls ist das von der Ankündigung im Proömium abweichende Verhalten des Lukas im übrigen Evangelium, wo von einem Bemühen um die historisch richtige Reihenfolge nicht besonders viel zu spüren ist, auffällig.

9.4 Die Stellung des Lukas zur Parusie

Der Grund für die in hohem Maße von den meisten übrigen theologischen Entwürfen des Neuen Testaments abweichende Theologie des Lukas wird häufig in der Parusieverzögerung gesehen, die Lukas veranlasst hat, die bislang die urchristliche Verkündigung beherrschende Predigt des in Bälde kommenden Erhöhten aufzugeben und an deren Stelle die geschichtliche Überlieferung von Jesus zu setzen.

Keine Naherwartung mehr

Daran, dass Lukas die Naherwartung, nicht aber die Parusiehoffnung überhaupt, aufgibt, kann kein Zweifel bestehen, wenn auch einzelne Worte mit Naherwartung noch im Evangelium zu finden sind (z. B. 21,32). Wie sehr die Naherwartung aus dem beherrschenden Zentrum, das sie bei Markus noch einnahm, verschwunden ist, vermag schon die Tatsache zu verdeutlichen, dass Mk 1,15 als Zusammenfassung der Predigt Jesu bei Lukas keine Parallele hat und dass in der in vieler Hinsicht für die theologische Sicht des Jesusphänomens typischen Antrittspredigt Jesu in Nazareth (4,16–30) ebenfalls von der Naherwartung nicht die Rede ist (vgl. auch die Änderung von Mk 9,1 in Lk 9,27 und dazu die Kommentare).

„Stetsbereitschaft“

Lukas reagiert damit auf die sich dehnende Zeit bis zur Parusie (vgl. 21,9.12), betont stattdessen die Mahnungen zur Wachsamkeit und fordert die „Stetsbereitschaft“ (21,34–36) für die Wiederkunft des Herrn. Dementsprechend treten die universalen Momente der Endvollendung zurück und die Vollendung des Einzelnen im Sterben wird hervorgehoben (vgl. Lk 16,19–31; 21,19; 23,43).

9.5 Israel und die Heilsgeschichte

Geschichte nach Gottes Plan

Die ganze Heilsgeschichte aber, die Zeit Israels, das Jesusgeschehen und die Entwicklung der Kirche bis hin zur Parusie richten sich nach Gottes Plan, wie Lukas mit Hilfe verschiedener Motive (Gottes Ratschluss, Gottes Willen, Gottes Bestimmung, das göttliche „Muss“) zu betonen nicht müde wird. Auch Jesus ist diesem göttlichen Willen unterworfen und stellt sich unter diesen Willen, indem er z. B. die Schrift erfüllt. Denn der Gedanke der Schrifterfüllung dient ebenfalls der Darstellung des göttlichen Heilsplans, z. B. wenn Lukas Jesus sagen lässt: „Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf; dort wird sich alles erfüllen, was bei den Propheten über den Menschensohn steht“ (18,31diffMk; vgl. auch 22,37: „Ich sage euch: An mir muss sich das Schriftwort erfüllen: ‚Er wurde zu den Verbrechern gerechnet.‘ Denn alles, was über mich gesagt ist, geht in Erfüllung“ oder 24,25–27.44). Jesus kennt den Willen Gottes und ist in der Lage, diesen zu erfüllen, weil er in besonderer und bleibender Weise mit dem Geist erfüllt ist, der schon seine Geburt veranlasst hat (1,35) und der bei der Taufe durch Johannes in leiblicher Gestalt auf ihn gekommen ist (3,22), was er in Nazareth in seiner Antrittspredigt mit Hilfe eines Jesaja-Zitats auch bekannt gemacht hat (4,18). In der Apostelgeschichte rüstet der Heilige Geist die christliche Gemeinde aus und sorgt durch Visionen und andere Zeichen dafür, dass die Gesandten Gottes den von Gott gewollten Weg gehen (Apg 10; 16,6.9). Offensichtlich bedarf es immer wieder solcher Nachhilfe, von allein sind die Zeugen des Glaubens trotz ihrer Ausrüstung mit dem Heiligen Geist zu Pfingsten nicht in der Lage, die Pläne Gottes mit der Welt zu erkennen und zu befolgen. In diesem Plan verliert Israel seinen heilsgeschichtlichen Vorrang nicht von selbst, wie sich schon daraus ergibt, dass Paulus trotz steter Ablehnung und häufigen heftigen Widerstands von Seiten „der Juden“ bei seiner Predigt bis zu Apg 28 nicht aufhört, diese bei „den Juden“ zu beginnen. Erst nachdem diese nicht bereit sind, seine Botschaft anzunehmen (vgl. Apg 13,5.14.46–49; 14,1; 16,12–15; 17,1–15 usw.), wendet er sich an die Heiden.

Heil für die Heiden

Dass aber das Heil der Heiden nicht bloßes Zufallsergebnis der Ablehnung der Jesusbotschaft und des Jesuskerygmas durch die Juden, sondern in Gottes Plan bereits enthalten ist, macht Lukas auf zweierlei Weise deutlich. Zum einen lässt er schon den greisen Simeon in 2,30 f. sagen: „Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel“ und bringt so schon zu Beginn der Jesusgeschichte den Bezug des Jesusgeschehens auf Juden und Heiden im Plan Gottes zum Ausdruck. Zum anderen führt er die Ablehnung Jesu durch Israel auf eine schon alttestamentlich belegte Verstockung von Seiten Gottes zurück (Apg 28,26 f.). Deswegen kann er auch als Grund für das Verhalten der Juden in Apg 3,17 Unwissenheit nennen. Das Motiv der Unwissenheit lässt die Möglichkeit besserer Erkenntnis und damit der Umkehr ausdrücklich offen. Die Folge der dauernden Ablehnung der Predigt der Jesuszeugen von Seiten „der Juden“ formuliert Lukas in Apg 28,25–28, und die Feierlichkeit des Ausdrucks mag auf den grundsätzlichen Charakter dieses Entschlusses hinweisen: Das Heil, das Jesus gebracht hat und das seinem Volke galt, ist auf die Kirche aus Juden und Heiden übergegangen.

Heil für Juden und Heiden

Es gilt zwar auch weiterhin den Juden – diese sind also keineswegs nach Lukas irgendwie oder gar grundsätzlich vom Heil ausgeschlossen –, aber es gilt den Juden in gleicher Weise wie den Heiden. Deswegen predigt Paulus nach Apg 28,30 das Evangelium allen, die bei ihm eintreten. Es ist insofern nur konsequent, wenn Lukas nie die Kirche als neues oder wahres Israel bezeichnet. Allenfalls in Apg 15,14 kommt er mit dem Ausdruck „aus den Heiden ein Volk für seinen Namen gewinnen“ einem solchen Verständnis nahe. – Angesichts der Formulierung von Apg 28,30 wird man auch kaum bereits in Apg 13,46 eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten der Heiden und gegen die Juden finden können, zumal sich an der Predigt vor den Juden als ersten Adressaten der Missionspredigt im Folgenden auch nichts ändert.

Wenigstens zwei auffällige Besonderheiten des Lukasevangeliums seien abschließend noch erwähnt: Das Zurücktreten des Sühnetodmotivs und die besondere soziale Komponente im Lukasevangelium.

9.6 Die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod

Das bei Paulus stark betonte Motiv des Sühnetods ist schon im ältesten Evangelium nicht besonders ausgeprägt und kommt dort nur zweimal vor (Mk 10,45; 14,24), Lukas lässt es in der Parallele zu Mk 10,45 sogar noch fort und bietet es nur in dem doch wohl ursprünglichen sog. Langtext der Abendmahlseinsetzung (22,19 f.; vgl. allerdings auch noch Apg 20,28), dort freilich gleich zweimal, sowohl mit dem Brot- als auch mit dem Kelchwort verbunden. Insofern kann von einem völligen Fehlen des Sühnegedankens bei Lukas keine Rede sein, aber dass er eher am Rande steht, ist festzuhalten. Diese Randexistenz des Sühnetodmotivs bei Lukas sieht man weniger, wenn man den Sühnetodgedanken im dritten Evangelium mit dessen Vorkommen im Markusevangelium vergleicht, als wenn man in die Apostelgeschichte schaut, wo in den Predigten das Heilsgeschehen häufig zusammenfassend unter Hervorhebung der Predigt, des Todes und der Auferstehung Jesu verkündigt, wo aber der Gedanke des Sühnetodes insgesamt nur einmal erwähnt wird. Zwar kennt Lukas auch noch den Gedanken des leidenden Gerechten aus dem Alten Testament und überträgt ihn auf Jesus (22,37), aber auch diese Deutung des Todes Jesu ist nicht besonders betont.

Das Leben Jesu als Grund des Heils

Das dürfte damit zusammenhängen, dass Lukas die Ursache des Heils nicht so sehr punktuell in den Tod Jesu verlagert, sondern dieses in dessen ganzem Leben begründet sieht, wie die zahlreichen Heilsbegriffe schon in der Vorgeschichte zum Ausdruck bringen (1,46–55; 2,11.30–32). Charakteristisch für die Anschauung des Lukas ist die Predigt Petri auf dem Tempelplatz in Apg 3,15: „Den Urheber des Lebens habt ihr getötet, aber Gott hat ihn von den Toten auferweckt.“ Jesus ist der Urheber des Lebens – aber nicht aufgrund eines punktuellen Ereignisses, sondern aufgrund seiner ganzen Existenz, die das Ziel hatte, „zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (19,10). Nicht umsonst bildet Jesus nach Lukas in seinem Erdenleben die Güte Gottes ab und verteidigt sein anstößiges Verhalten mit Hinweis auf die Liebe Gottes zu den Verlorenen (vgl. nur 15,11–32).

9.7 Besitz und Besitzverzicht im Lukasevangelium

Was die Stellung des Lukas zum Besitz und zum Verzicht auf diesen betrifft, so kann man zunächst festhalten, dass die Kritik am Reichtum und die Forderung auf Besitzverzicht zwar in jedem Evangelium (Mk 10, 17–31 par; Mt 19,23– 26) belegt sind, aber im Lukasevangelium eine unvergleichlich wichtigere Rolle spielen.

Besitzverzicht vs Almosen

Allerdings stellt der dritte Evangelist seine Ausleger vor das Problem, dass er von den Christen zugleich totalen Besitzverzicht (12,33 f.; 14,33; 18,18–30) und Almosen verlangt (6,33–36; 16,9; 21,1–4). Wie soll aber der, der alles weggegeben hat, noch Almosen geben? Die radikale Forderung, auf den gesamten Besitz zu verzichten, bezieht sich sicher nicht nur auf die kirchlichen Amtsträger, so ehrenwert diese von einem (späteren) Amtsträger vorgetragene Lösung ist, da diese Unterscheidung in den Besitzverzicht fordernden Worten in keiner Weise angedeutet ist. Gerade das Wort von 6,33–36 wendet sich nach Ausweis von 6,27 an alle seine Zuhörer, und diese sind nach 7,1 nicht etwa nur die Jünger, sondern das Volk. Zu fragen ist allerdings, ob Lukas diese von den Exegeten erkannte Schwierigkeit überhaupt bedacht hat. Seinen Forderungen dürfte zum einen die Radikalität der Umkehrforderung Jesu zugrunde liegen, zum anderen die aus dem Nächstenliebesgebot sich ergebende Pflicht zur gegenseitigen Fürsorge. Die Frage, ob und wie Lukas sich einen Ausgleich dieser Forderungen vorgestellt hat, verliert im übrigen viel von ihrer Brisanz, wenn man sich klar macht, dass diese Forderungen heute in jedem Fall neu überdacht und nicht von vornherein wörtlich, sondern sinngemäß auf die Gegenwart angewandt werden müssen. Das gilt nicht nur, weil im Zeitalter der Volkskirche und des sogar staatlich erzwungenen Versorgungsdenkens niemand – oder jedenfalls fast niemand – bereit ist, auf seinen ganzen Besitz zu verzichten, oder dies gar kann, sondern es gilt auch, weil z. B. mit einem einmaligen riesigen Verzicht der Industriestaaten den armen Ländern wahrscheinlich weniger geholfen wäre als mit einer regelmäßigen, freilich wesentlich großzügigeren Gabe als heute, weil im ersteren Falle nach der einmaligen Gabe in den Industrieländern bald nichts mehr zum Geben vorhanden wäre. Auch die Barmherzigkeit braucht einen Plan!

Der zeitliche Abstand zur Verkündigung Jesu hat im Lukasevangelium deutliche Spuren hinterlassen. Der dritte Evangelist begegnet der Erfahrung der Parusieverzögerung mit einer Aufgabe der Naherwartung, an deren Stelle er die Forderung zur Wachsamkeit und zur Stetsbereitschaft stellt.

An die Stelle der Kritik am heilsgeschichtlichen Entwurf des Lukas aus den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist inzwischen eine gerechtere Würdigung der lukanischen Theologie getreten, die im Gegensatz zu der früher vertretenen Zuweisung des Jesusgeschehens an die Vergangenheit den Gegenwartscharakter des ► Kerygmas im lukanischen Verständnis hervorhebt und den Glauben nicht mehr als an die Geschichte ausgeliefert versteht. Auch die Rolle Israels wird heute anders gesehen, die Kirche tritt nach Lukas nicht an die Stelle Israels, sondern das durch Jesus erschlossene Heil gilt Juden und Heiden.

Literatur

1. Kommentare

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Einleitung in das Neue Testament

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