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Kapitel 2

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Julio hatte zwei Routen erkundet, auf denen er je nach Tageszeit und Verkehrslage, ohne Stunden im Stau zu verbringen, zu seinem Arbeitsplatz hinter Versailles gelangen konnte. Die eine führte an den Seine-Quais entlang zum Autobahnzubringer in Boulogne-Billancourt, die andere über einen wenig befahrenen Schleichweg parallel zum Boul’ Mich’ nach Süden und hinter Malakoff auf der Route Nationale Nr. 12 Richtung Petit-Clamart. Gegen elf Uhr war die erste günstiger. Hatte er den Tunnel von St. Cloud erreicht, dann war er in einer halben Stunde am Ziel. Auf der Autobahn ging es zwanzig Kilometer nach Westen, dann verließ er sie und fuhr auf einer Landstraße durch ein Hügelland nach Gersaint, einem Dörfchen an einer Sackgasse, die auf das Tor eines umfangreichen Schlossgeländes zuführte.

Vor dem Eingang parkte er, ging zu dem winzigen Postamt, das in der ehemaligen Pförtnerwohnung untergebracht war, und hob bei Monsieur Monfils 600 Euro von seinem Postsparkonto ab. Weil er etwas spät dran war, ließ er sich nicht auf den gewöhnlichen Schwatz mit dem Beamten ein, stieg wieder ins Auto, fuhr hinter dem Tor die Allee zum Renaissance-Schlösschen hinüber, in dem Verwaltung und Mensa der Hochschule untergebracht waren, und von dort nach rechts an den Studentenwohnheimen vorbei zu den Hörsälen. Das einstöckige Gebäude war durch lange Gänge mit Laboratorien und Gewächshäusern verbunden. Dahinter breiteten sich Versuchsfelder bis an den Rand des etwa zwei Kilometer breiten Talkessels aus, dessen Mitte der Wald des Schlossparks einnahm.

Julio begrüßte auf der Freitreppe zwei Studenten seines Kurses, den Libanesen Mohammed Bonnard und den Bretonen Pierre Rude, die auf ihn gewartet hatten, weil sie ihm besonders zugetan waren. Gemeinsam gingen sie zum Hörsaal, in dem zwanzig weitere Kursmitglieder in die höheren Geheimnisse der italienischen Sprache eingeweiht werden wollten. Bonnard schloss die Tür hinter Julio und setzte sich in die erste Reihe zu seinen Füßen. Julio erstieg das Podium, begrüßte seine Hörer im neuen Quartal und verkündete ihnen, dass er die Lehrbücher Italienisch für Fortgeschrittene bei sich habe und nun verteilen würde. Die Studenten, junge Leute, deren gesunde Gesichtsfarbe verriet, dass sie sich viel an frischer Luft bewegten, schauten erwartungsvoll zu ihm auf.

Julio hob den Aktenkoffer auf den langen Tisch neben dem Lesepult, schob mit beiden Daumen die Riegel beiseite und klappte den Deckel zurück. Mohammed, der zu ihm aufsah, hatte den Eindruck, Julio stünde plötzlich kurz vorm Schlaganfall. Sein Sprachlehrer hielt mit ausgestreckten Armen den Kofferdeckel fest und starrte mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf den Inhalt hinunter. Erschreckt schlug er den Deckel zu.

Der Libanese rief besorgt: "Signor Martini, was ist los? Ist Ihnen nicht wohl?"

Julio schüttelte den Kopf, aber nicht als Antwort auf die Frage, die er gar nicht vernommen hatte. Was er gesehen hatte, war das Unglaublichste, Unvorstellbarste, Verrückteste, Hirnverbrannteste, es war......es war mehr, als er vertragen konnte. Zum Glück stand ein Stuhl hinter ihm, auf den er sich fallen lassen konnte, als seine Knie nachgaben.

"Ich habe die Bücher vergessen", stammelte er nach kurzer Verschnaufpause, und seine Gesichtsfarbe wechselte zwischen rot und weiß, "ich habe die falsche Tasche mitgenommen."

"Aber das ist doch nicht so schlimm", beruhigte ihn Rude, "das kann doch jedem mal passieren. Wir fürchteten schon, Sie würden tot umfallen."

"Nein, nein, es ist..." stotterte Julio weiter, "es ist wirklich....also sehr peinlich ist mir das." Und in seinem Innern flammte das Fanal: Ich bin Millionär wie mit einem Riesenfeuerwerk in einen pechschwarzen Nachthimmel geschrieben.

Er legte beide Hände auf den Schatz vor sich, der in braunes Leder mit Messingbeschlägen verpackt und so vor den Blicken der verdutzten Schüler verborgen war, und wusste nicht, was er nun tun sollte. Und vor seinem inneren Auge sah er wieder die Reihen gebündelter Banknoten vor sich, die den Diplomatenkoffer bis zum Rand anfüllten. Und die Zahlen darauf, die vielen Nullen hinter der eins.

"Ja, was machen wir nun?" fragte er, versuchte auf den weichen Beinen zu stehen, merkte, dass es ihm gelang, und beugte sich vor, um die Schnappschlösser zu schließen. Jetzt ist es passiert, dachte er, ich hatte es geahnt, und er versuchte, des Schwindels Herr zu werden, der ihn schwanken ließ.

"Es tut mir echt leid....wir hätten sonst....", fuhr er kläglich fort, stellte den Koffer hinter das Pult und fühlte sich bereits in der Lage, seinen Opfern etwas vorzuspielen. Dabei spekulierte er auf die angeborene Arbeitsunlust junger Leute bei schönem Frühlingswetter.

"Wir könnten ein paar Übungen machen, den Konjunktiv wiederholen oder die unregelmäßigen Verben", regte er an. Das wirkte Wunder.

"Lassen wir doch die Sitzung einfach ausfallen", schlug Barrault vor. Auf ihn hatte Julio gerechnet, er war der Faulste von allen, seine Noten bewegten sich hart am Rand von mangelhaft.

Bonnard, Rude und die vier weiblichen Hörer protestierten, aber Barraults Suggestion fiel auf fruchtbaren Boden.

"Stimmen wir ab", rief ein Rothaariger in der letzten Reihe, von dem Julio glaubte, dass er an dem Kurs, der übrigens freiwillig war, nur teilnahm, weil in ihm sämtliche Mädchen versammelt waren, die an der Landwirtschaftlichen Hochschule studierten.

"Einverstanden", sagte Julio. Er zählte die für den Abbruch der Veranstaltung ausgestreckten Arme ab und stellte erleichtert fest, es war die Mehrheit.

"Auf Freitag also", rief er in den geräuschvollen Aufbruch hinein, "dann habe ich aber die Bücher wirklich mit. Das passiert mir nicht ein zweites Mal."

Nachsichtiges Gelächter kommentierte seinen Ausruf. Dabei überfiel ihn der Gedanke, dass er vielleicht geschwindelt hatte. Er würde natürlich auf der Stelle den Dienst quittieren und zu Cleo zurückkehren.

Es zog ihn in sein Zimmer im Studentenwohnheim, wo er sich sammeln und seinen Schatz inspizieren könnte, aber Rude, Bonnard und eines der Mädchen traten herzu, um ihn zu begleiten. Rude nahm Julio sogar mit schnellem Griff den Diplomatenkoffer ab, um ihn zu tragen. Julio hätte sich beinahe mit ihm darum gestritten, aber er ließ es bleiben, um keine Aufmerksamkeit auf das Objekt zu lenken.

"Ist der aber schwer", juxte der Bretone, "sind da Goldbarren drin?"

Julio begnügte sich mit einem schwachen Grinsen und trottete einsilbig und im inneren Aufruhr zwischen den Studenten daher.

"Non possiamo fare un piccolo esercizio di conversazione, soltanto noi tre con Voi? (Können wir nicht eine kleine Konversationsübung machen, nur wir drei mit Ihnen)" fragte ihn das Mädchen, "qui al sole (hier in der Sonne)." Und sie wies auf eine Bank zwischen den Blumenrabatten vor dem Hörsaalgebäude.

Julio hätte sie schlagen mögen, aber er konnte sich kaum seiner Verpflichtung entziehen, schließlich wurde er für sechs Stunden Unterricht in der Woche bezahlt. Sie setzten sich also, Julio erklärte ihr, dass die Form Voi seit einigen Jahrzehnten nicht mehr benutzt würde, weil sie im Faschismus gebräuchlich gewesen sei. Man habe sie durch die Form Lei mit der dritten Person Singular ersetzt. Das habe er Ihnen doch schon mehrmals erklärt.

"Da muss ich gefehlt haben", erklärte sie, "Voi wäre wirklich bequemer für uns."

"Das glaube ich gern", sagte er, "aber wir Italiener wollen schließlich auch etwas Eigenes haben" und sah mißtrauisch zu Rude hinüber, der sein Köfferchen auf die Knie gelegt hatte und mit den Fingern an den Schlössern herumspielte.

"Warum soll denn die zweite Person Plural faschistisch sein?" fragte sich Rude, ließ ein Schloss aufschnappen und drückte es wieder zu, um es gleich wieder hochschnellen zu lassen. "Dunque noi altri francesi siamo dei fascisti? (Dann sind wir Franzosen also Faschisten)?"

Julio erklärte geduldig, wie sich Sprachgewohnheiten entwickelten. "La lingua è la fisionomia intellettuale ma anche emozionale di un popolo, (die Sprache ist die intellektuelle, aber auch emotionale Physiognomie eines Volkes) seiner Vorurteile, seiner Ideologien, seiner idées fixes. Nimm zum Beispiel das Wort Neger. Bis Menschenrechtler in Amerika in den sechziger Jahren behaupteten, das Wort sei rassistisch, wurde es überall wertneutral benutzt, genau wie das Wort Weißer. Neger wurde plötzlich als Schimpfwort angesehen, man musste aus den Europäern unerfindlichen Gründen Schwarzer sagen, obwohl Neger, vom lateinischen niger abgeleitet, die gleiche Bedeutung hat."

"Ich glaube, man wittert hinter jedem alten Sprachgebrauch irgendeine schlechte Gesinnung", meinte Danielle, "und dann will man mit neuen Wörtern die Leute in die Falle locken: wer nicht Schwarzer sagt oder besser noch Farbiger, den hat man als Rassisten entlarvt, hurra!"

"So einfach ist das", meinte auch Rude, und ließ das Schnappschloss wieder aufspringen. "dasselbe Spiel betreibt man mit dem Wort Kapitalist, das eigentlich nichts weiter bedeutet als ein Mensch, der Geld besitzt. Solange er Geld in der Tasche hat, ist jeder Mensch Kapitalist. Aber seit Marx entdeckte, dass Kapital böse ist, sind alle moralisch minderwertig, die auch nur einen Pfennig ihr eigen nennen."

Julio stimmte ihm begeistert zu, aber als plötzlich beide Schlösser aufsprangen und Rude den Kofferdeckel leise mit den Daumenspitzen anhob, riss er ihm sein Spielzeug vom Knie: "Du machst einen ganz nervös. Jetzt ist aber Schluss damit!"

Diese Aktion war so ruckartig geschehen, dass ein Banknotenpäckchen hochsprang und zwischen den Deckel und den Kofferrand geriet. Julio merkte es nicht und versuchte vergeblich, den Deckel zu schließen. Der Bretone zog es blitzschnell hervor, hielt es lachend in die Höhe und rief: "Kapitalistenschwein!" Julio schlug verzweifelt den Deckel zu und drückte die Verschlüsse ein.

"Das nenne ich wirklich schizophren", tadelte das Mädchen, das Danielle Bertrand hieß, den Bretonen, der Julio reumütig das Päckchen zurückgab, "erst erklärst du das Wort Kapitalist für wertneutral, und dann ist Herr Martini auf einmal ein Kapitalistenschwein."

"Hai ragione (du hast recht)", gab Rude zu, während Julio das Päckchen mit zitternder Hand in seine Rocktasche steckte, "la parola era soltanto dettato dall'invidia (das Wort war nur vom Neid diktiert). Aber sag mal, Julio, was machst du mit all dem Zaster, da ist doch noch mehr drin?"

Not macht erfinderisch. "Ich muss heute Abend ein Appartment anzahlen. 90.000 NF. Der Besitzer will es in bar haben", log Julio kurz und knapp. Lange Erklärungen wirken nicht überzeugend.

"Na, das ist doch wieder mal so ein Steuerbetrüger", vermutete Bonnard, "und deswegen musst du das ganze Geld mitschleppen und riskierst, dass dir jemand in einer dunklen Ecke eins über den Schädel gibt."

"So ist das Leben!" murmelte der Sprachlehrer, der von seinem Abenteuer so mitgenommen war, dass ihm alle Gliedmaßen schmerzten, "sagte mal, wärt ihr mir sehr böse, wenn wir uns jetzt trennten. Ich bin todmüde, hatte eine schlaflose Nacht.“

„Durchgemacht, eh?" meinte Rude.

"Nein, ich machte mir Sorgen wegen des Bankkredits, den ich aufnehmen musste. Weiß noch nicht, wie ich ihn zurückzahlen soll. Aber ich brauche eine Wohnung."

"Aber du hast doch hier ein kostenloses Zimmer", erinnerte ihn Rude.

"Muss man euch denn alles auf die Nase binden, ich habe eine Verlobte, wir wollen zusammenziehen."

Das Mädchen machte ein Gesicht, als wäre ihr das gar nicht recht. Die Jungen stießen sich in die Rippen und kicherten.

"Toujours la sessualité", zitierte Bonnard aus Zazie dans le métro.

Sie gingen zusammen zum Wohnheim II hinüber, einem ungemütlichen dreistöckigen Betonbau. Vor seiner Tür verabschiedeten sie sich voneinander

"Wir sehen uns vielleicht nach dem Abendessen zum Billard", sagte Julio und klopfte Rude freundschaftlich auf die Schulter, um wieder einen Eindruck von Normalität entstehen zu lassen. Im Grunde aber hatte er das Gefühl, dass sie ihn alle bohrend betrachteten, als wüssten sie um sein Geheimnis. Als er in der Tür einen Blick hinter ihnen herwarf, sah er, wie sie die Köpfe zusammensteckten, während sie zur Cafeteria hinüberschlenderten. Danielle lachte auf, und der Libanese drehte sich ruckartig um, als wollte er sich vergewissern, ob Julio etwas von ihren Reden mitbekommen hatte. Der spielte den Gleichgültigen, wandte sich um, schloss die Tür auf und betrat sein Zimmer.

Viel Einrichtung war zwischen den weißgestrichenen Betonwänden nicht anzutreffen. Es gab nur drei bewegliche Möbel, einen Stuhl, einen Tisch und ein Metallbett, dazu ein Waschbecken mit Spiegel, einen großen Wandschrank und ein in die Wand eingelassenes Bücherregal. Eine Gefängniszelle hatte mehr Komfort. Vor dem Fenster hing ein zweiteiliger Vorhang aus gelbem Plastikmaterial. An den Wänden hatte er mit Klebestreifen ein paar Plakate mit italienischen Motiven befestigt, damit der Raum nicht allzu kahl und ungemütlich aussah. Nachdem er die Tür mit vor Aufregung zitternder Hand von innen abgeschlossen hatte, vergewisserte er sich, dass niemand durch einen Spalt im Vorhang sehen konnte, denn sein Zimmer lag im Erdgeschoss, warf das Köfferchen aufs quietschende Bett, und setzte sich daneben.

Beinahe versagten ihm die Arme den Dienst, so bebten sie, als die Verschlüsse aufsprangen, als er den Deckel lüftete und endlich seinen Schatz in Ruhe betrachten konnte. Wie in Trance verloren, nahm er ein Päckchen nach dem anderen heraus, wobei er sich ständig verrechnete, weil ihm tausend Gedanken durch den Kopf schossen. Nach mühsamen Kampf mit dem Einmaleins kam er auf die Summe von drei Millionen Euro. Er packte den Haufen und drückte ihn gegen seine Brust.

Er musste es Cleo sagen, sofort, sie musste wissen, dass alles Elend mit der Bank des Heiligen Geistes vorbei war, dass ein neues Leben ohne Sorgen für sie begann, nur der Kunst und der Liebe gewidmet. Aber wo sollte er telefonieren? Ein Mobiltelefon besaß er nicht, bisher hatte es seine Finanzlage nicht zugelassen. Der Apparat vor der Cafeteria hing unter einer Plexiglashaube an der Korridorwand, jeder konnte mitbekommen, was er sagte. In der Post war es das gleiche. Er hatte den Verdacht, dass Monfils aus Langeweile alle Gespräche mithörte. Er lächelte immer so verständnisvoll, wenn Julio nach dem Telefonat mit Cleo seine Rechnung beglich.

Der Mann im Trenchcoat hatte sich geirrt. Er hatte das Geld dem Falschen übergeben und zwar für eine Ware, die er in Julios Diplomatenkoffer vermutete. Julio hatte genügend Zeitung gelesen, um zu wissen, worum es sich handelte. Rauschgift! Die kleinen Plastikpäckchen mit Heroin oder Kokain, die der Experte mit seinem Taschenmesser ansticht, um eine Probe auf die feuchte Finger- und Zungenspitze zu nehmen, was der Mann im Trenchcoat aber versäumt hatte.

Aber wie konnte es zu dieser Verwechslung kommen? Er hatte eine verworrene Vorstellung, wie es geschehen sein konnte. Er war wohl eine Zeitlang eingenickt. Jetzt erinnerte er sich, er hatte von Cleo geträumt, wie sie sich auf dem Sofa dehnte, ihre bunten Ketten am Hals und die mit Reifen geschmückten Arme nach hinten über die Lehne ausgestreckt. Er hatte gedacht: Wenn ich sie doch so malen könnte, wie Delacroix Cleopatra, die Königin von Ägypten gemalt hätte, halbnackt in den Armen von Cäsar in seiner römischen Rüstung. Cäsar? Hatte nicht jemand "Cäsar" geflüstert? Ja, das war es, und er hatte in seinem Dämmerzustand "Cleopatra" geantwortet. Das Passwort für den Austausch.

Cleopatra hatte das Glück gebracht. Ah, wenn sie jetzt hier wäre und er könnte die Geldscheine über ihren nackten Leib regnen lassen, wie es einer Königin gebührt!

Aber plötzlich machte sein Herz einen Sprung. Statt Heroinsäckchen abzuwiegen, blätterten nun Hände, die geübt waren, mit scharfen Dolchen Hoden ab- und Herzen herauszuschneiden, in zwanzig Bänden Italienisch für Fortgeschrittene auf der Suche nach dem Namen ihres Besitzers.

Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, er wischte ihn mit der Hand fort und begann fieberhaft nachzudenken. War noch irgendetwas in und an seinem Diplomatenkoffer, was einen Hinweis auf ihn geben konnte? Wenn er sich bloß erinnern könnte? Steckte etwa sein Taschenkalender darin? Er betastete sein Jackett, und ein Stein fiel ihm vom Herzen, das Büchlein war in der linken Brusttasche, seine Brieftasche in der rechten. Sonst gab es nichts Auffälliges, weder hatte er seinen Namen in die Aktenmappe geschrieben, noch war ein Firmenlogo des Verkäufers darin eingeklebt.

Blieben nur die Bücher, und die waren Hinweis genug. Er sprang auf und lief im Zimmer hin und her, erschrak, als er sich im Spiegel sah mit zerzaustem Haar und verstörtem Blick. Er musste fort von hier, das war das erste, das zweite, er musste so schnell wie möglich zurück ins Hotel de Médicis, um alle Spuren seines Daseins zu beseitigen.

Natürlich brauchten sie Zeit, ehe sie auf ihn kamen. In Paris und Umgebung existiertengewiss mehr als zwei Dutzend Institutionen, an denen Italienisch gelehrt wurde: staatliche Schulen und Hochschulen, Privatschulen, Sprachlehrinstitute, das Istituto Dante. Aber besonders letzteres war zu fürchten: er hatte zwar nichts mit ihm zu tun, aber das Sekretariat besaß die Namen und Adressen aller Italienischlehrer in Frankreich, um sie mit Informationsmaterial und Büchern zu versorgen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie vor seiner Tür auftauchen würden.

Er lief zum Vorhang, zog ihn ein Stückchen zur Seite und lugte durch den Spalt zum Parkplatz hinüber. Dort stand sein kleiner Fiat mit der italienischen Nummer, ein sicheres Zeichen, dass er anwesend war. Der musste weg. Aber was sollte das? Es gab genügend Leute auf dem Hochschulgelände, die seinen Verfolgern sagen konnten, wo er zu finden war.

Schließlich beruhigte er sich: Sollen sie mich doch erwischen! Ich gebe ihnen das Geld, erkläre ihnen, dass ich mit allem nichts zu tun hatte, dass es mir nur in den Schoß gefallen ist....

Er hielt inne. Das klappte nicht, sie würden ihn trotzdem umbringen. Er wusste zuviel. Er könnte beteuern, dass er sich an den Mann im Trenchcoat nicht erinnerte, sie würden ihm nicht glauben. Er spürte das Messer schon an der Kehle, den scharfen Schnitt, den Schwall heißen Blutes, der herausschoss. Die Mafia machte gern reinen Tisch.

Unsinn, sagte er sich, ruhiger geworden. Sie würden Dutzende von Leuten brauchen, um allen Spuren nachzugehen, sie müssen erst herauskriegen, wie und wo sie suchen sollen.

Aber der Zufall könnte sie ihn als ersten finden lassen, so wie der Zufall ihm zu seinen Millionen verholfen hatte. Und er fragte sich verwundert, warum er sich nicht auf der Stelle in Sicherheit brachte.

Warum nur?

Er war zu träge, er konnte sich nicht an die Vorstellung gewöhnen, dass er vom Augenblick an, in dem er ahnunglos das Aktenköfferchen in die Hand genommen hatte, ein Gejagter war. Er betrachtete sich noch immer als einen gewöhnlichen, gesetzestreuen, unschuldigen Bürger, dem nichts Schlimmeres passieren kann, als dass ihm jemand eine Tasse Kaffee über den Anzug gießt.

Plötzlich kam große Erleichterung über ihn, sein Fieber legte sich: er hatte die Lösung gefunden. Er würde den Koffer mit seinem kapitalen Inhalt zum nächsten Polizeirevier bringen und damit hatte es sich. Ruhe, Friede, Feierabend! Er setzte sich aufs Bett, nahm langsam ein Päckchen nach dem anderen und legte sie in ordentlichen Reihen in das Köfferchen. Er warf zum Abschied noch einen langen Blick auf die braunen Scheine mit den vielen Nullen hinter der eins und drückte den Deckel zu.

Dann saß er eine Weile stumpf neben dem Schatz, den ihm der Zufall zugespielt hatte, und konnte sich nicht entschließen aufzustehen und hinauszugehen.

Was? Er sollte aus reiner Bequemlichkeit und Feigheit das Glück, das ihm der Name seiner Cleopatra gebracht hatte, von sich weisen? Wie sollte sie ihre Schulden bezahlen, wie sollten sie jemals auf einen grünen Zweig kommen, heiraten, eine Familie und einen Hausstand gründen können? Gott hatte ihm den Schatz doch nicht in den Schoß geworfen, damit er sich davonstahl aus seiner Verantwortung als Sohn, Liebhaber und Ehemann?

Zum Teufel, was war er doch für ein Spießer, dachte er plötzlich verwundert. Da lagen drei Millionen vor ihm, damit konnte man anderes anfangen, als sich eine Mietwohnung in der Neustadt von Pitigliano zu kaufen. Und der innere Vorhang hob sich vor einer barocken Bühne: Gärten voller Statuen und rauschenden Fontänen, Feste in prächtigen Palästen mit schönen Frauen, Musik, Tänzern und Sängern, Meerfahrten auf der eigenen Yacht und Cleo, die Schöne, um die ihn jeder beneidete, immer neben ihm....

Das Glück lag im Koffer, so schön kompakt, und auch noch so dauerhaft, weil vermehrungsträchtig. Was konnte er allein mit den Zinsen anfangen, wenn er es richtig anlegte? Er drückte das Köfferchen an die Brust. Nein, er wäre ein undankbarer Idiot, wenn er nicht darum kämpfen würde.

Da klopfte es an der Tür.

Er erschrak, antwortete nicht, nahm das Köfferchen, warf es in den Wandschrank, schloss ab und steckte den Schlüssel ein.

"Herr Martini“, tönte plötzlich leise Danielles Stimme aus dem Schlüsselloch, "machen Sie auf. Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen."

Er starrte auf die Tür und konnte sich nicht von der Stelle rühren. War Danielle eine Spionin, die man vorgeschickt hatte. Er schwieg.

"So öffnen sie mir doch!" flüsterte es durch das Schlüsselloch, "ich weiß doch, dass Sie da sind."

Wenn er nur wüsste, ob hinter ihr jemand mit einer Baseballkeule stand?

"Sie wollen Ihnen Ihr Geld stehlen", lispelte die Stimme, "ich habe es zufällig gehört."

Endlich gelang es ihm, seine Erstarrung zu überwinden, er schritt zur Tür, drehte den Schlüssel um, öffnete einen Spalt, sah sie allein im Flur, legte ihr den Arm um die Schulter, zog sie hinein und schloss ab.

"Wer will mich bestehlen?" fragte er und wunderte sich über ihre entzückende Aufmachung - sie hatte ihre braunen Haare hochgesteckt, das Kleid gewechselt und eine leichte Seidenbluse mit kurzen Ärmeln und statt der Jeans einen engen Rock angezogen, der ihre Hüften betonte. Er forderte sie auf, sich aufs Bett zu setzen und ließ sich neben ihr nieder.

"Barrault und Poil de carotte", flüsterte sie und brachte ihr Gesicht näher an seins heran.

"Aber woher wissen die, dass es bei mir etwas zu holen gibt?" fragte er sie verwundert. Ihre grüngrauen Augen starrten ihn ängstlich und verlangend an. Er sah auf ihren roten Mund und die weißen Zähne und fühlte sich beklommen und erregt zugleich.

"Der blöde Rude hat überall herumgetratscht, dass Sie einen ganzen Koffer voller Geldbündel mitschleppten."

"Quatsch, ich habe euch doch gesagt, es sind nur 90.000 NF für die Anzahlung."

"Er behauptet, er hätte eine ganze Reihe von Geldscheinpäckchen gesehen. Nach seiner Rechnung wären das mindestens 3 Millionen."

"Quatsch!" wiederholte er mit schwacher Stimme. Nach kurzer Überlegung fuhr er fort: "Na ja, ich habe euch nicht ganz die Wahrheit gesagt, ich hatte Angst, du verstehst jetzt. Tatsächlich habe ich anderthalb Millionen dabei, das ist nicht die Anzahlung, sondern der Preis für das ganze Appartment."

"Wow", sagte sie bewundernd, "dann lohnt es sich also doch."

"Was soll sich lohnen?"

"Na, der Überfall. Ich kam am Fenster von Barraults Zimmer vorbei, es stand halb offen und da hörte ich, wie er sich mit Poil de carotte beriet."

"Und wie wollen sie vorgehen?"

"Sie wollen zum Fenster einsteigen, wenn Sie schlafen, und Ihnen den Koffer stehlen. Wenn es geschlossen ist, wollen sie Ihnen morgen, wenn Sie in die Stadt zurückfahren, im Wäldchen von Montfort auflauern. Da ist eine scharfe Kurve, vor der man abbremsen muss, dort werden sie mit ihrem Wagen den Weg blockieren, und wenn Sie anhalten, kommen sie mit Strumpfmasken überm Kopf ans Fenster und halten Ihnen eine Pistole an die Schläfe."

"Besitzen die denn eine richtige Pistole oder werden sie nur eine Attrappe benutzen, eine Gas- oder so eine Spielzeugpistole?"

"Ich weiß nicht, sie sprachen nur von der Pistole."

Julio hob den Oberkörper, den er vorgeneigt hatte, um ihr Flüstern zu verstehen, und nickte in sich gekehrt: "Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll."

"Gib mir nur einen Kuss!" antwortete sie zu seiner Überraschung.

Sie war ein hübsches Mädchen, das musste er zugeben, deswegen lag in dem Opfer, das er den Millionen und Cleopatra zuliebe brachte, gar kein moralisches Verdienst. Er neigte sich zu ihr hinüber und küsste sie zart auf die roten Lippen. Sie schloss die Augen, drückte sich schmachtend an ihn, ihre Hände glitten unter seinen Achseln hindurch an seinen Hinterkopf und wühlten in seinem Haar. Langsam sank sie ins Kissen und zog ihn mit sich. Julio war verblüfft und beunruhigt. Als ihre Atemzüge immer heftiger und kürzer wurden, fühlte er sich unwillkürlich miterregt. Sie musste es spüren, denn sie schlang ihre Beine um seine und ihre Zunge stieß zwischen seine Zähne vor. Plötzlich riss er sich los.

"Entschuldigung", sagte er ungeschickt, als sie ihn entgeistert anblickte, "wer weiß, wo das hinführt, wenn wir so weitermachen."

"Ich liebe dich", sagte sie flehend und streckte ihre Arme nach ihm aus, "hast du das nicht gewusst?"

"Nein", stammelte er.

"Ich liebe dich, seit du zum ersten Mal in den Hörsaal getreten bist", fuhr sie fort und nestelte an den Knöpfen ihrer Bluse. Er streckte die Rechte aus, um sie daran zu hindern, aber sie nahm sie und legte sie auf ihre linke Brust. Er spürte die Spitze durch den dünnen Stoff hindurch und ihn durchzuckte eine süßer Schauder. Er musste sich zurückhalten, um nicht geradezu über sie herzufallen.

"Aber wie kannst du es nicht gewusst haben? Ich habe dir eine Karte aus den Ferien geschrieben, darin habe ich es doch gestanden."

Er erinnerte sich zwar dunkel an die Karte, aber an ein Liebesgeständnis entsann er sich nicht.

"Du hast es wohl zu gut verklausuliert."

"Ich fürchte auch. Ihr Männer könnt nicht lesen."

"Du bist sehr attraktiv, zu attraktiv", er versuchte schmeichelnd den Rückzug einzuleiten, "aber du weißt ja, ich bin verlobt."

"Ist das nicht auch gelogen?"

"Nein, das ist die Wahrheit."

"Ist sie schön?" fragte sie und richtete sich auf.

"Sehr schön", versicherte er, konnte sich jedoch nicht enthalten, in ihre halb geöffnete Bluse zu starren.

"So schön wie ich?" sie öffnete weitere Knöpfe, schüttelte die Bluse von ihren Schultern, sie trug einen jener raffinierten Büstenhalter, die mehr ent- als verhüllen. Mit einer anmutigen Bewegung griff sie mit beiden Armen hinter sich und öffnete den Verschluss.

Sie sah den Blitz des Begehrens in seinen Augen, streckte die Arme aus und zog seinen Kopf an ihren Busen.

Da klopfte es an der Tür.

Julio vernahm es zugleich bestürzt und erleichtert. Er hob den Kopf von den warmen Hügeln, legte den Finger auf die Lippen und flüsterte: "Wir müssen verschwinden. Zieh dich sofort an!"

Er stieg leise aus dem Bett, ging zum Wandschrank, öffnete ihn, zog den Diplomatenkoffer hervor und ging zum Fenster, während sie eilends den Büstenhalter anlegte und die Bluse über die Schultern zog. Er öffnete den Vorhang ein Spalt weit und schaute hinüber zum Parkplatz. Es war inzwischen dunkel geworden. Spärliches Laternenlicht erhellte ihn und die Fahrwege. Neben Julios Fiat stand eine dunkle Gestalt und leuchtete mit einer Taschenlampe in das Innere.

Ihm war, als ob ihn ein Tiefschlag erwischt hätte. Sie waren schon da, und er hatte gedacht, es würde noch tagelang dauern. Die Taschenlampe erlosch und der Mann, der den Wagen untersucht hatte, verschwand aus dem Blickfeld.

Es klopfte wieder. Julio sah, dass die Klinke sich langsam nach unten bewegte. Dann hörte er ein stocherndes Geräusch, man versuchte wohl, einen Dietrich in das Schloss einzuführen, doch zum Glück hatte er den Schlüssel steckenlassen. Er zog Danielle, die ihn entsetzt ansah, zu sich ans Fenster, schwang die Beine über das Fensterbrett, ließ sich, das Köfferchen in der Rechten haltend, auf die Erde fallen, streckte die Arme aus und fing sie an den Hüften auf, als sie sich zu ihm herabgleiten ließ.

Er wies ihr die Fluchtrichtung, geduckt liefen sie unter den Erdgeschossfenstern vorbei und schlugen vom Wohnheim aus den Weg durch die Spalierobstboskette zum Wald hin ein. Als sie sich weit genug aus der Gefahrenzone bewegt hatten, hielt Julio hinter einem Geräteschuppen an, lehnte sich im Dunkeln an die Mauer und zog Danielle neben sich.

"Ich muss dir die Wahrheit sagen", flüsterte er schwer atmend, "ich bin da in eine gefährliche Sache geraten, ich darf dich nicht mit hineinziehen. Da sind auch noch andere Leute hinter mir her."

"Wer sind die?"

"Ich weiß es nicht."

"Und was wollen sie von dir?"

Jetzt wurde es schwierig.

"Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Es könnte dich gefährden", warnte er, und er meinte es ehrlich.

"Hängt es mit dem Geld zusammen?" lispelte sie ahnungsvoll.

"Ja", sagte er widerwillig.

"Es gehört dir nicht", flüsterte sie nahe an seinem Ohr, und der warme Atem strich über seine Wange.

Wie antwortet man auf eine solche Frage?

"Ja....vielmehr nein", stotterte er.

"Wieviel ist es denn nun wirklich?" fragte sie, lehnte sich an seine Brust und versuchte ihm in der Finsternis in die Augen zu schauen.

"Drei Millionen", sagte er, "und sie gehören der Mafia."

"Du machst Witze", meinte sie, "Mafia, das gibt´s doch gar nicht."

Er erklärte ihr geduldig, wie er an den Koffer gekommen war und was das bedeutete. Sie nickte, nun hatte sie verstanden.

"Hör' mal", sagte er unruhig, "die Zeit drängt. Ich muss verschwinden, und du musst zurückgehen und niemand wissen lassen, was eben geschehen ist. dass wir uns kennen, darf niemand ahnen, sonst bist du dran."

"Und wie willst du weg? Vorne heraus geht es nicht und deinen Wagen kannst du auch nicht benutzen."

"Ich schleiche mich durch den Wald und steige über die Mauer auf der anderen Seite. Dann gehe ich nach Les Roques und versuche, noch einen Bus zu bekommen oder ich rufe mir ein Taxi."

"Gut", sagte sie, "ich tu, was du verlangst. Aber versprich mir, dass du mir Nachricht gibst, wenn du in Sicherheit bist."

"Versprochen", antwortete er und gab ihr unaufgefordert den Kuss, auf den sie aus war. Sie umarmte ihn fest und ließ ihn erst nach einer langen Weile wieder los.

"Du hast nicht wieder geschwindelt?" fragte sie ängstlich.

"Nein", beruhigte er sie, meinte aber "ja", legte ihr den Arm um die Schultern, drückte sie noch einmal an sich und wandte sich ab, um davonzueilen.

Ein wilder Sturm der Gefühle tobte in ihm, Cleo, Danielle, das Geld, drei Mächte, die um die Vorherrschaft stritten. Dachte er an seine Geliebte und den freudigen Schreck, den er ihr bereiten wollte, kam ihm Danielles nackter Busen dazwischen, und er hatte das Gefühl, dass er sie sofort zu sich rufen würde, sobald er sich im Versteck des nächsten Hotels eingerichtet hatte; kaum war er soweit, dachte er wieder an die Gefahr, der er ausgesetzt war, wenn er sich ans Licht der Öffentlichkeit traute. Zuerst sollte er sein Aussehen verändern, das Geld irgendwo deponieren, wo es sicher war, in einer Bank...., aber würde man nicht misstrauisch werden, wenn er drei Millionen Euro einzahlte?

Ein Gedanke purzelte über den anderen, endlos, während er davoneilte.

Julio kannte sich im Wald hinter dem Schloss gut aus. Neben dem Fahrweg, der auf die andere Seite des Parks führte, zogen sich andere mehr oder minder offizielle Pfade durch das Unterholz. Zwei davon führten zu Steinbrüchen, in denen die Studenten aus der lockeren Erde versteinerte Muscheln und Schnecken aus der Kreidezeit kratzten.

Julio hielt von Zeit zu Zeit an und horchte angestrengt, ob jemand in der Nähe war, doch er vernahm nur das leise Rauschen des Windes im den dunklen Baumkronen. Zuweilen wurde es heller, wenn die Wolkendecke aufriss und ein wenig vom blassvioletten Westhimmel freigab. Vom Schloss her kam leise das Geräusch startender Autos. Er schlich sich an den Fahrweg heran und schaute hinüber, aber er konnte keine Scheinwerfer erkennen. Beruhigt setzte er sich in Trab, nahm den nächsten Pfad, der auf einen Hügel mit einem barocken Tempelchen als Aussichtspunkt zuführte, von wo aus ein weiterer Weg an die westliche Grenze des Universitätsgeländes ging. Dort wollte er an einer günstigen Stelle über die Umfassungsmauer steigen.

Die Mitte des Waldes nahm ein kleines Gebäude in der Form eines antiken Tempels ein. Es erhob sich von einem rustikalen Unterbau, zu dem eine breite Treppe hinaufführte. Die Vorhalle hatte vier korinthische Säulen, eine runde Kuppel über der Cella, dem Innersten des Heiligtums, wurde von der einstmals vergoldeten Skulptur der Göttin Fortuna bekrönt. Julio erwies ihr seine Reverenz, indem er sich auf altfranzösische Weise vor ihr verneigte und dabei den Geldkoffer ausladend schwenkte. Dabei schoss ihm ein warnender Gedanke durch den Kopf. Er durfte nicht den ganzen Schatz mit sich nehmen. Sollte ihm etwas mit dem, was er bei sich hatte, passieren, dann konnte er noch immer auf den versteckten Rest zurückgreifen.

Nach einer Viertelstunde Arbeit hatte er den Löwenanteil seiner Beute sicher und trocken untergebracht. In seinem Koffer behielt er einen Rest, mit dem er sich, wenn nötig, ein gutes halbes Jahr über Wasser halten konnte, auch bei vermehrten Ausgaben.

Er staubte seinen Anzug ab und schaute sich um. Vom Hügel aus konnte er im Dunkeln die Straße erahnen, die am südlichen Ende des Schlossparks entlanglief und am Westrand des Waldes nach Norden abknickte. Ab und zu sah er das Licht von Wagen aufleuchten und wieder erlöschen, wenn sie hinter einer Kurve oder in einem Gehölz verschwanden. Er stieg den Hügel hinab, ohne darauf zu achten, ob er noch einem Pfad folgte, und ging auf den roten Abendschimmer im Westen zu, das zwischen den hohen Buchenstämmen leuchtete. Ab und zu knackte ein Ast unter seinen Füßen, dann hielt er aufgeschreckt inne, um zu horchen, ob nicht doch jemand hinter ihm her war. Endlich wuchs eine schwarze Wand vor ihm auf, er hatte die Umfassungsmauer erreicht. Als er vor sie trat und an ihr entlangstrich, überkam ihn allmählich leises Unbehagen. Nirgendwo war eine Möglichkeit, auf die drei Meter hohe Mauerkrone zu gelangen. Er hatte damit gerechnet, auf einen Baum klettern zu können und sich dann von einem Ast auf sie hinunterzulassen. Aber die dicken Buchenstämme konnte er nicht umklammern, außerdem hinderte ihn der Koffer.

Er musste also bis zu dem verschlossenen Eisentor des Fahrwegs gehen, das schwer zu überwinden war, denn es war überall mit Lanzenspitzen bewehrt. Zum Glück hatte er feste Sohlen unter seinen Schuhen. Zwar spürte er, wie die Spitzen unangenehm am Fußballen drückten, aber er konnte sich, den Koffergriff zwischen den Zähnen haltend, allmählich am Rand des Tors zur Mauerkrone hinaufziehen. Erleichtert glitt er hinüber, schwang die Beine auf die andere Seite, ließ das Köfferchen ins Gebüsch unter sich fallen, hielt sich an den Eisenstäben des Tores fest und sprang hinab. Es war inzwischen stockdunkel geworden. Der Westwind hatte zugenommen und das Rauschen in den Wipfeln war so laut, das es selbst das Hinabplumpsen des Koffers zudeckte.

Er ging vorsichtig voran, denn er konnte nur wenig vor seinen Füßen erkennen. Der kurze Zugangsweg, der von der Straße auf das Westtor zuführte, war zugewachsen. Er schob die Zweige der Sträucher auseinander, um auf die Fahrbahn hinauszutreten......

.... ich habe doch, .... eben noch, .... am Morgen saß ich ....wer sagt mir denn?... was ist los? Wie eine Endlosschleife lief ein kurzer Film durch Julios wirres Gedächtnis, ohne dass er seinen Sinn erfassen konnte. Sein Kopf schmerzte und dröhnte. Er starrte durch eine schlierige Windschutzscheibe auf daherrollendes, regennasses, spiegelndes Pflaster, auf flirrende Reihen schwarzer Alleebäume, die sich im Lichtstrahl der Scheinwerfer vor ihm teilten, griff sich an den Kopf, fühlte eine große Beule und klebrige Nässe unter einem Stück Stoff. Dann nahm er eine dunkle Gestalt neben sich wahr, die er im Verdacht hatte, vor sich hin zu stöhnen. Erst als er nach peinvoller Erinnerungsarbeit realisiert hatte, dass es Danielle war, die neben ihm das Steuer lenkte, bemerkte er, dass das Stöhnen aus ihm selber kam.

„Wo fahren wir hin?“ fragte er und wunderte sich über die brüchige Stimme.

„Nach Montfort-l’Amaury, zur Ersten Hilfe. Man muss dich röntgen.“

„Was ist passiert?“

„Jemand wollte dir den Schädel einschlagen.“

„Warum? Weshalb?“

„Erinnerst du dich nicht?“

„Ja, da war was, ein Mann im Luxembourg-Park, ein Köfferchen, Geldbündel, der Kurs...“ Er hielt inne, sah sie von der Seite an, Wellen von Schmerz durchliefen den Schädel, dann wie ein kleines Fenster sich öffnet, die Wahrheit: „Du hast mich gerettet...!?“

„Ich kam gerade noch rechtzeitig, der Mann hatte dich niedergeschlagen, da bog ich um die Ecke, ich sah euch deutlich im Scheinwerferlicht, du lagst auf der Erde, er wollte dir den Koffer aus der Hand reißen, aber du hast ihn festgehalten, ich hupte, da sprang er auf, lief zu seinem Wagen, startete und verschwand.“

„Und ich hatte dir doch gesagt, folge mir nicht, es ist zu gefährlich.“

„Da siehst du, wie gut es ist, wenn man nicht gehorcht.“

„Aber wenn du, wenn er...“ Julio konnte noch nicht richtig nachdenken, verlor wieder den Faden.

„Du hast mir doch gesagt, du wolltest von Les Roques aus mit dem Bus fahren oder ein Taxi herbeitelefonieren. Aber ab acht geht kein Bus mehr, du besitzt kein Handy und es gibt da auch kein öffentliches Telefon. Die Kneipen sind heute geschlossen, kein Hotel und kein Gasthof sind auf in dieser Jahreszeit. Wo wolltest du dann hin?“

„Ich habe mir das nicht überlegt, ich wusste nur, ich muss so schnell wie möglich verschwinden.“

Julio legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie dankbar. Sie langte mit der freien Hand hinüber und tätschelte seine.

"Du hast recht", meinte er, "das Beste ist, wir fahren nach Montfort, parken den Wagen in irgendeiner abgelegenen Gasse, lassen mich verarzten und nehmen den Zug nach Paris. Ich muss mein Hotelzimmer räumen. Hoffentlich sind sie noch nicht darauf gekommen, wo ich wohne. Denn wenn sie in meinen Sachen wühlen, fürchte ich..." Er hielt entsetzt inne.

"Was fürchtest du?"

"dass Sie herauskriegen, wo meine Familie wohnt und Cleo... Sie könnten sie zum Reden zwingen, drangsalieren, entführen, foltern, was weiß ich...?"

"Dann musst du sie warnen und zwar sofort." Sie griff neben sich in die Tasche an der Autotür und reichte ihm ihr Handy hinüber.

Er wehrte ab. "Ich weiß nicht, das geht mir alles zu schnell. Ich brauche Zeit zum Nachdenken."

„Gut,“ sagte sie und legte den dritten Gang ein, „du denkst nach, und ich fahre nach Montfort.“

Er sah sie erstaunt von der Seite an. Nie hätte er gedacht, dass in diesem zierlichen Körper ein so entschiedener Charakter steckte. Sie schaute geradeaus auf die vom Scheinwerfer beleuchtete Allee vor sich. Er bewunderte ihr schönes, vom schwachen Instrumentenlicht erhelltes Profil und sagte sich verzweifelt: Ich liebe sie. Aber ich liebe auch Cleo. Was soll das werden?

Der Diplomatenkoffer

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