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Erbkrankheiten

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Als ich vor kurzem meine Steuerunterlagen gesichtet und nach Themengruppen sortiert in einem Ordner versammelt hatte, dachte ich unwillkürlich: so, jetzt kannst du sterben. Natürlich wurde mir sofort die peinliche Banalität, ja Dummheit dieses Gedankens bewusst, denn es hatte sich ja nur um die Steuer von 2006 gehandelt, die Unterlagen von 2007 harrten noch in einer krankhaft aufgeblähten Hängeregistratur ihrer Erledigung. Trotzdem ist das ein Gefühl, das in letzter Zeit sehr oft wiederkehrt, vielleicht liegt es am Alter, jedenfalls beruhigt mich oft der Gedanke, ich hätte meine Angelegenheiten geordnet hinterlassen. Potentielle Hinterbliebene könnten sich hemmungslos der Trauer hingeben und ich müsste mir nicht aus dem Jenseits würdelose Gespräche anhören: »… ach, wissen Sie, was das Schlimmste ist, er hatte ja noch nicht mal die Steuer für 2006 gemacht, das bleibt jetzt alles an mir hängen …«

Nein, solche Szenen will ich vermeiden, der Tod darf mich nicht mit Bergen voll ungeordeter Bewirtungsquittungen antreffen. Meine Familie soll einfach nur den Schmerz oder meinetwegen auch die Freude über mein Ableben auskosten dürfen. Tatsächlich muss man wohl eine Familie haben, um sich in derart schwachsinnigen Gedankenbahnen zu bewegen.

Es ist allerdings keineswegs so, dass mein gesamter Tagesablauf ein einziges memento mori carpe diem wäre. Ich bin durchaus in der Lage, den Abwasch zu erledigen, ohne danach zu denken: wenn ich jetzt stürbe, wären wenigstens die Töpfe sauber.

Aber ist denn nicht doch der Großteil unseres Lebens eine einzige Nachlassvorbereitung? Meine Mutter wirft in Erwartung eines baldigen Ablebens ständig größere Teile ihres Hausstandes in den Müll oder ich muss ihn in die Altkleidersammlung transportieren: »Damit ihr nicht so viel zum Wegwerfen habt.«

Das geht jetzt seit beinahe 15 Jahren so, demnächst wird meine Mutter 85. Vor kurzem warf ich zehn Jahrgänge der Zeitschrift Mojo ins Altpapier. Ich hatte sie getreulich gesammelt, weil sie ein hervorragendes Nach­schlagewerk der Popmusik abgegeben hätte, aber in Ermangelung eines Registers war es dann doch nur ein Haufen Papier, der zuviel Platz einnahm. Nach der Entsorgung war ich zwar noch nicht zum Sterben bereit, aber erleichtert.

Dem Tode noch näher fühlte ich mich, als ich meine Platten endlich komplett alphabetisch geordnet hatte. Sogar die Sonderabteilungen »Bra­silien«, »Frank­reich« und »Bubblegum«. Nur ein kleiner Stapel von etwa fünfzig Platten macht mir Sorgen, in ihm stehen die Neuerwerbungen, die ich noch nicht oder nur einmal gehört habe. Ich ordne eine Platte nämlich erst dann endgültig ein, wenn ich sie zum zweiten Mal abgespielt habe. Diesen ungeordneten Haufen müsste ich meiner Tochter hinterlassen, denn ich schätze, dass sie sich halbwegs ernsthaft mit der Verwaltung dieses Nachlassobjekts beschäftigen würde. Vielleicht sollte ich es wie Peter Handke oder Ror Wolf machen und meine Plattensammlung schon zu Lebzeiten ans Literaturarchiv nach Marbach verkaufen, aber ich befürchte, die wissen in Marbach gar nicht, wer ich bin und deshalb muss ich das Ganze selber katalogisieren. Das steht mir nämlich auch noch bevor. Ich besitze einige Platten u.a. von Leo Kottke, aber auch von den Monkees doppelt, weil ich den Überblick verloren habe. So konnte ich mich anfangs zweimal freuen, musste mich am Ende aber auch einmal ärgern und mir Gedanken über Alzheimer machen. In Marbach würden kundige Archivare eingreifen. Wenn ich zweifelnd im Plattengeschäft stünde und überlegte, was ich eigentlich schon alles von Brinsley Schwarz habe, dann würde ein Anruf in Marbach genügen und eine heisere Fistelstimme betete mir vor: »Silver Pistol«, »Despite it all«, »Nervous on the road« und »Playing new favourites«. Ich bin fest davon überzeugt, dass alle Archivare in Marbach heisere Fistelstimmen haben.

Warum gibt es noch nicht ein »Archiv für literarisch so gut wie unbedeutende Autoren«? Irgendeine staatliche Stelle, die meinen Mist einlagert und mit Laufnummern versieht? Bis das geschaffen worden ist, bleibt leider noch dieses chaotische Resthäufchen, das ich, so gerne ich das auch tun würde, auf keinen Fall alphabetisch vorordnen kann, denn hier müssen die Platten so stehen, wie sie reingekommen sind, die neuen vorne, die älteren hinten, sonst verliere ich den Bezug zu ihnen.

Falls also der Tod demnächst vor der Tür steht, dann werde ich versuchen, noch ein bisschen Zeit rauszuschinden, um das Ordnungswerk zu vollbringen. In den folgenden Bereichen aber wird mich der Tod nicht unvorbereitet antreffen: Ich habe den Staubsaugerbeutel gewechselt, den gelben Sack entsorgt, die Winterreifen aufgezogen, das Wasser in der Heizung nachgefüllt, meine Publikationen an die VG-Wort gemeldet, den Tannenbaum abgeschmückt und an die Straße gelegt, alle Kugeln nach Farben sortiert in die entsprechenden Kästen eingeordnet und diesen Text fertiggestellt.


100 Prozent aller Personen, die ihren letzten Willen aufgesetzt haben, sind später gestorben. Das Verfassen von Testamenten gilt deshalb als Todesursache Nr. 1

Die 55 beliebtesten Krankheiten der Deutschen

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