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7. Die Bühne ruft

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Schon als Gymnasiast ist Marcel Pilet ein eifriger Theaterbesucher. Er erhält die Erlaubnis, im Lausanner Theater, in dem auch die vedettes, die Stars, aus Paris gastieren, sich hinter den Kulissen umzusehen. Die Beziehungen, die sein Vater als Kommunalpolitiker hat, machen es ihm möglich. Und natürlich träumt der junge Theaternarr davon, selbst einmal auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu stehen, vielleicht sogar als Berufsschauspieler.

Die sogenannten théatrales sind eine Tradition bei Belles-Lettres. Jeden Dezember tritt die Theatertruppe der Studentenvereinigung vor vollem Haus im feudalen Lausanner Grand Théâtre auf. Vorher oder nachher ziehen die schauspielernden Bellettriens durch den Kanton und erfreuen das Publikum der grösseren Ortschaften mit ihren Aufführungen. Pilet ist schon von Anfang an Mitglied der Theaterkommission der Verbindung. Eine Hauptaufgabe der Kommission ist die Wahl der Stücke. Man bemüht sich um eine Mischung zwischen modernen Komödien, die eben in Paris mit Erfolg gespielt worden sind, und Klassikern. Man prüft, ob ein Stück allzu gewagt sei, um es keuschen weiblichen Ohren zuzumuten. Pilet ist hier liberal. Ein klein wenig risqué darf es schon sein, solange der gute Geschmack nicht durch Vulgaritäten verletzt wird.

In der Theaterkommission kümmert sich Neuling Pilet um Dinge wie Saalmiete, Anschaffung von Kostümen, Druck der Programme, Korrespondenz mit Behörden, Verteilung der Rollen, Ansetzung der Proben – wer zu spät kommt, zahlt eine Busse. Soll man den Zofingern das Gewand von Louis XIV ausleihen? Pilet ist dagegen und der Vorstand auch. «Nieder mit Zofingen!», liest man in einem Protokoll. Bereits in seinem ersten Semester spielt Neuling Pilet mit.

Am 20. Januar 1908 wartet im Grand Théâtre ein gut gelauntes Publikum auf die traditionelle (wegen des Todes des Rektors verschobene) Jahresendaufführung der Bellettriens. Auf den Rängen sitzen Verwandte und Bekannte, Altherren und Scharen von erwartungsvollen jungen Fräuleins, darunter viele Ausländerinnen – Russinnen hauptsächlich – aus Lausannes zahlreichen Mädchenpensionaten.

Der Abend beginnt mit dem beliebten Prolog, in dem das Geschehen des abgelaufenen Jahres persifliert wird. Politiker, nicht zuletzt der in der Loge sitzende syndic, werden schonungslos aufs Korn genommen. Die Zuschauer lachen. Dann folgt als pièce de résistance die anspruchsvolle Komödie Le mariage de Figaro von Beaumarchais. Auch wenn man dem Darsteller Figaros «mehr Leben» gewünscht hätte, amüsiert sich das Publikum königlich. «Glückliche Jugend!», schreibt der Kritiker der Gazette de Lausanne. Ihm sind zwei «Debütanten, die viel versprechen», aufgefallen, «die Herren Simond und Pilet», der Letztere in der Rolle des Grafen Almaviva, eines tyrannischen alten Lüstlings.

Die Theaterabende in der Provinz sind verbunden mit Bankett, Reden, Tanz. Der Sekretär von Belles-Lettres schreibt jeweils einen Bericht über die théatrales. Im Dezember 1909 liegt die Aufgabe bei Pilet. Wie es Brauch ist, kritisiert er den Auftritt der Kollegen:

Rey ist viel besser gewesen, als man hätte glauben können. Gagnaux gab eine ausgezeichnete Soubrette in einem welschen Marktflecken. Secretan spielte einen manischen und affektierten Kammerdiener, der ganz gelungen war; man muss sagen, dass dies perfekt zu seinem Naturell passte, nicht dass er ein Kammerdiener wäre, sondern nun, Ihr versteht mich. Girardet und Pilet waren, was sie sind, immer ohne Fehler.

Sekretär Pilet geistreichelt weiter:

Um 2 Uhr früh verliess Belles-Lettres diese Stadt, die sie hatte verderben wollen. Die einzige Spur ihrer Durchfahrt war am nächsten Morgen die [rot-weisse] zofingische Farbe der Bettwäsche der Mädchen. Getrieben von Erinnerungen, vom Verlangen und von irgendeinem Teufel, hatten sie Ihr versteht mich. Ihre Mütter sahen darin das Zeichen von Gottes Finger und schworen sich, die Mädchen nie wieder zu den Abendveranstaltungen von Belles-Lettres zu führen.

Will Pilet mit der schlüpfrigen Bemerkung den Kollegen imponieren? Dass die Bellettriens, junge Männer um die zwanzig, sich im Umgang mit dem schönen Geschlecht oft keinen Zwang antun, zeigen die Notizen auch anderer Sekretäre:

Eine Gruppe von kühnen Bellettriens dringt [in Aubonne] bei der Modistin ein, die im Ort en vogue ist, und bald ist der ganze Laden drunter und drüber. Herzog umarmt die kleine Lehrtochter, Pilet berührt das Bein einer Arbeiterin, während Gagnebin geschickt die Chefin auf den Mund küsst. Alle diese Damen sind entzückt.

In Champéry trinken die Bellettriens beim offerierten Apéritif sieben Liter Absinth:

Die Serviertöchter haben mehr Mühe, sich der sadistischen Hände zu erwehren, die nach ihren keuschen Formen greifen, als uns zu bedienen. Der von alten Herren umgebene Pilet ist gezwungen, sich gut zu benehmen, und er leidet darunter.

Da Belles-Lettres keine weiblichen Mitglieder hat, werden Frauenrollen von Studenten gespielt. Der Elsässer Georges Bergner, der zusammen mit Pilet das grüne Béret von Belles-Lettres trug, erzählt zwei Jahrzehnte später von einer Sondervorstellung von Gringoire in einem asile d’aliénés, einer Irrenanstalt:

Als Pilet vor dem Aufgang des Vorhangs zusammen mit seinem als Loyse transvestierten Kameraden einen French Cancan tanzte, rief der Arzt: «Ihr Unglücklichen, wenn meine Kranken euch sehen, werden sie tatsächlich noch verrückt!»

Dass Pilet als Schauspieler de véritables prouesses, wahre Spitzenleistungen, vollbrachte, bestätigt der bereits erwähnte Bergner. Schlank und «mit der Nase im Wind» habe er dem Pariser Schauspieler Louis Lenoir geglichen und diesem mehrere Rollen entliehen, darunter «Harpagon, mit der Souplesse, die auf die Politik vorbereitet, L’Intimé mit Unverschämtheit, Gringoire mit Romantik, Petruchio mit Ungestüm».

In der Gazette rühmt G. R. (Georges Rigassi, später Chefredaktor des Blatts) den talentierten Mimen:

Belles-Lettres besitzt in M. Pilet (Harpagon) – der letztes Jahr der Rolle des Poeten Gringoire derartigen Glanz verlieh – einen Künstler von sehr reellem Wert.

Nachdem in L’Avare der Vorhang gefallen war, sagte Pilet – wenn wir Bergner glauben wollen –: «Dies ist meine Beerdigung.»

Jedenfalls hat Marcel den Traum einer Schauspielerkarriere aufgegeben. Die Versuchung war da, aber sie ist geschwunden. Ein halbes Jahr später erinnert er sich in einem Brief an Tillon dankbar an seine zwar nicht grösste aber «hübscheste» Rolle. In dem 1908 von den Bellettriens aufgeführten Pariser Erfolgstück Le Bon Roi Dagobert spielte er Saint Eloi, den Kirchenmann und Staatsminister des Königs. Bekleidet in einem köstlichen mauve Nachthemd hat er als ältlicher Komödienbischof eben seinen lustigsten Auftritt gehabt. Das «sehr zufriedene» Publikum spendet Beifall und wie es Brauch ist, wird den Schauspielern ein Palmenzweig hingereicht. Pilet im Brief:

Mit gebrechlichen, kleinen Schrittchen gehe ich den Zweig holen, um ihn der Königin (Rey) zu überreichen, aber in dem Moment, wo ich mich dem Souffleurkasten nähere, fällt der Vorhang. Ich stehe plötzlich allein zwischen ihm und dem Publikum, das um so lauter applaudiert und mir eine kleine Ovation darbringt – eine ganz persönliche.

Es sei dies das erste und letzte Mal gewesen, dass er den Stolz und die Trunkenheit des Beifalls, das «Gefühl der Eitelkeit des Triumphs» gespürt habe. Wenn er auch nicht den geringsten Schritt tun werde, um dieses Hochgefühl je wieder zu erleben, bleibe ihm doch eine bewegende Erinnerung.

Politiker wider Willen

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