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14. Berliner Luft

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Pilet hat seinen Deutschlandaufenthalt genau geplant. Mit Ausflügen in andere Städte und historische Orte will er seine Bildung erweitern. Er besucht Jena, Weimar, Eisenach mit der Wartburg. Im Wallpavillon in Dresden besucht der an Naturwissenschaften und Technik interessierte Student die Internationale Hygiene-Ausstellung. Diese von nicht weniger als 5 Millionen besuchte gigantische Schau ist eine Ode an die Medizin und an den menschlichen Fortschritt, der unaufhaltsam scheint. Pilet ist beeindruckt.

Anfang Juli fährt er für eine Woche nach Berlin. Erster Eindruck: Enttäuschung. Er hatte erwartet, dass diese gigantische, enorme, allmächtige Stadt, dieses «zweite Paris» ihn aufmuntern und packen würde. Nichts dergleichen. Man hat ihm vom lebhaften Treiben auf den Strassen geschwärmt, doch er sieht weniger Verkehr als an einem Sonntag in Genf. Auch die Stadt selbst enttäuscht ihn, das Schloss, der Dom, die grossen Plätze vor dem Schloss und der Siegessäule, die Friedrichstrasse und Unter den Linden, beide weltberühmt. Er besucht die Oper – das Orchester ist «unzweifelhaft weniger gut als in Leipzig» – und kehrt über die Wilhelmstrasse und das Brandenburgertor ins Hotel zurück. Ernüchternd. Alles tot, die Lichter gelöscht, die Strassen halb leer, was in Lausanne auch um Mitternacht selten der Fall ist. «Und das ist die Hauptstadt Preussens!»

Am zweiten Tag erwartet ihn bei der Agentur «Weltreise» eine «Stadtrundfahrt im Automobil» – in einer Art offenem Car, auf dem vielleicht dreissig Personen auf treppenförmigen Bänken zusammengepfercht sind. Der Reiseführer muss schreien wie ein billiger Jakob, um den Strassenlärm zu übertönen. Auf der Rundfahrt gibt es Dinge, die Pilet gefallen, der grosse Park von Charlottenburg – «fröhlich und einfach» –, das elegante Schloss Friedrichs I. und das Mausoleum Wilhelms I. Im Mausoleum ist ihm egal, dass dort die Kaiser und Kaiserinnen ruhen. Er ist fasziniert vom violett-goldenen, harmonischen Licht, das auf den die Gräber beschützenden Engel fällt. Dort wäre er gerne länger verweilt, doch der Chauffeur drängt zum Aufbruch.

Den Rest der Woche ist er allein unterwegs, fühlt sich oft einsam. Im Zoologischen Garten langweilt er sich sterblich, gähnt vor den Tigern, die zurückgähnen. Die Kamele, die Giraffen, die «Schweine Europas, Asiens und Afrikas» öden ihn ebenso an wie die schlecht riechenden, vielfarbigen Vögel. Ein einziger einfacher, freier Spatz wiegt sie alle auf. Pilet flüchtet in den Tiergarten, den Volkspark in der freien Natur. Dort entzückt der Rosengarten den Blumennarren – «des roses, encore des roses, toujours des roses, weisse, rote, creme- und fleischfarbene, splendides et discrètes».

Brandenburg lässt Pilet kalt – ausgenommen der schmackhafte Johannisbeerkuchen in der Konditorei Graf und die Brandenburger Spargeln. Hässlich und schmutzig das Sommertheater, ein deutsches Tivoli, vergleichbar mit lärmigen Lausanner Pinten, in denen Belles-Lettres Radau machen und sich besaufen können. Er würde zögern, in Uniform hinzugehen. Die paar Minuten, die er dort verbrachte, genügten, um des rencontres louches, zweifelhafte Begegnungen, zu machen. Also rasch weg.

Das Schönste, was Pilet in seiner Berliner Woche zu sehen bekommt, ist Potsdam. Es ist magnifique, nicht nur magnifique, sondern délicieux, stundenlang könnte man sich dort verlieren. Auf dem Gelände hinter dem Schloss begegnet er einem von einem zwanzigjährigen Fräulein begleiteten Ehepaar. Der fünfzigjährige Herr sieht, wie Pilet sich über seinen Ortsplan beugt, und bittet ihn um eine Auskunft. Berliner, die Potsdam nicht kennen! Man beschliesst, gemeinsam die Sehenswürdigkeiten zu besuchen: die prächtigen Blumenbeete, die Brunnen, die Orangerie, das Belvedere, das neue Palais. Dann schaut der Berliner Herr auf die Uhr, blickt zu Madame und meint, es sei Zeit heimzugehen. Zum Erstaunen Pilets, der angenommen hat, die junge demoiselle sei seineTochter, fragt der Herr: «Fräulein, was gedenken Sie zu tun?» Das Fräulein schaut Pilet an, mustert ihn kritisch, würde gerne im schattigen Park weiter spazieren, möchte sich aber nicht auf eine abenteuerliche Begleitung einlassen.

Sie fasst genug Vertrauen zu dem höflichen Fremden, um sich ihm anzuvertrauen. Das Fräulein ist Rheinländerin, zu Besuch in Berlin. Die beiden gehen «von einer charmanten Ecke zur anderen charmanten Ecke, schnattern wie Elstern, wenigstens, wie französische Elstern auf Deutsch schnattern können.» Ein angenehmer Nachmittag.

Pilet hätte nie ihren Namen gekannt, wenn sie nicht, «als kuriose kleine Deutsche», ihn gebeten hätte, ihm ein paar Ansichtskarten aus der Schweiz zu schicken, «die ein sehr schönes Land sein müsse». So findet er heraus – «können Sie, es glauben?» –, dass sie Mathilde heisst, gleich wie seine Tillon. Dies stört Marcel nicht. Seine Tillon war für ihn nie Mathilde, der Vorname bedeutet ihm nicht mehr, als wenn sie «Euphrasie oder Philomène» hiesse. Ah, wie sehr vermisst er Tillon, wie gerne würde er Arm in Arm mit ihr durch Potsdam schlendern.

Im Pergamonmuseum durchstreift Pilet die Altertümer Ägyptens, Griechenlands und Italiens. Angesichts der Mumien, die ihn frösteln lassen, denkt er (kurioserweise) an die im Moment aktuellen Eisenbahnerstreiks in Frankreich, wo es auf verschiedenen Linien zu Sabotageakten gekommen ist:

Ich bin gewiss nicht Sozialist, und wenn es einen Dienst gibt, den ich gerne leisten würde, wäre es, geradezu auf dieses Gesindel, das die Eisenbahnlinien sprengt, loszumarschieren. Doch lassen wir das.

Pilet wird fünfzehn Jahre später in seiner viel beachteten, umstrittenen Jungfernrede im Nationalrat, den Schweizer Bundesbeamten, insbesondere den Eisenbahnern, das Streikrecht absprechen.

Eine weitere Etappe des unermüdlichen Touristen ist das Friedrichmuseum, die Nationalgalerie. Er bewundert die von ihm geliebten alten flämischen Meister – Rubens, van Dyck, Rembrandt, van Ruysdael – die Spanier –, «die splendiden und arroganten» Velázquez, die «tieferen» Riberas, zwei exquisite Murillos. Das Juwel der Sammlung ist für Pilet ein «Mädchenkopf» von Jean-Baptiste Greuze – wer kennt ihn noch? –:

Ich gestehe es Ihnen, Tillon meine Freundin, Greuze ist der Einzige, den ich für würdig halte, Ihr Portrait zu machen. Zweifellos sind van Van Dyck, Rubens, Rembrandt und andere die grösseren Maler, aber sie wären nicht imstande, den Zauber Ihres Gesichts wiederzugeben, denn dies ist seine grosse Qualität: zu bezaubern. Von ihnen würde der eine Sie zu traurig darstellen, der andere zu glänzend in der Hautfarbe und wieder einer zu ernst. Einzig Greuze würde die Grazie Ihres Lächelns, den träumerischen und anmutigen Glanz Ihrer Augen, die vagabundierende und sonnige Leichtigkeit Ihrer Haare gleichzeitig verstehen und malen können.

Absence makes the heart grow fonder, weiss ein englisches Sprichwort.

Die Eislaufvorstellung im Admiralspalast bezaubert den romantischen Schweizer: «Welch hübsche und exquisite Sache, ein Walzer auf dem Eis, in bleichem Licht, mit einem betäubenden Orchester!» Wenn er die Paare elegant sich drehen sieht, fühlt sich Pilet als ungelenker Tor: «Welch traurigen Marcelin haben Sie da gewählt, Tillon, und wie schlecht wird er Sie unterhalten können.» Er läuft nämlich «Schlittschuh wie drei Neger», «tanzt kaum besser», spielt grauenhaft Geige, kann zur Not ein Pferd führen, ein Florett halten und in seinen Büchern büffeln. Der Wille vermag vieles, aber Pilet weiss: Ich bleibe schwerfällig und linkisch.

«Als alter Troupier» begutachtet er in der historischen Sammlung des Zeughauses Kanonen, Befestigungseinrichtungen und Säbel. Er bewundert die fein ziselierten türkischen Scimitare. Die Menge hingegen interessiert sich für Uniformen, für die Ausrüstungen Bismarcks, Blüchers, Napoleons – diese «erbeutet», wie diskret darunter steht – und die Orden dieser Herren.

Zufällig trifft er bei der Börse einen Schulkameraden aus dem Gymnasium, einen Banquier. Die beiden können sich nicht ausstehen und Pilet hat einst diesem «Wesen, das ich verabscheue», die Aufnahme in Belles-Lettres verunmöglicht. Doch man ist höflich und urban, wie es sich gehört. Dank dem Banquier verbringt Pilet seinen letzten Berliner Abend bei einem Essen mit Schweizern, hauptsächlich Lausannern und Neuenburgern.

Die mehrheitlich sehr ernsten, sogar hoch philosophischen Gespräche zogen sich bis in den Morgen hinein. Es war schon nach drei Uhr morgens, als diese messieurs, die mich liebenswürdigerweise heimbegleitet hatten, mich im Hotel verliessen.

An seinem letzten Berliner Tag: Rathaus – architektonisch recht interessant –, Königspalast – zu viele Vergoldungen und zu viele Auftragsbilder –, Reichstag – auch nicht berauschend. Der Sitzungssaal hat nichts «Imposantes und Grandioses», nichts Vergleichbares mit dem Ständeratssaal in Bern und seiner «Reihe von Chorstühlen und ihren eingeschnitzten Kantonswappen». Die «Psychologie der Besucher» amüsiert den Schweizer:

Man hat gesehen, wie sich ihre Wünsche, ihre Ruhmsucht und ihr Ehrgeiz unschuldig nackt zur Schau stellten. Alle, oder wenigstens fast alle von denen, die mich begleiteten, die Damen wie die Herren, betrachteten mit Ehrfurcht den luxuriösen Sessel des Ratspräsidenten und empfanden ein halb komisches, halb ernstes, auf der Illusion von Ruhm beruhendes Vergnügen, sich einen Augenblick lang darauf zu setzen. Und die zwanzig oder so, die dort waren, haben einer nach dem anderen sich auf diesem erhabenen Stuhl niedergelassen.

Pilet selber? Nein. Allerdings ist er dann geradewegs zur Tribüne geschritten, um festzustellen, ob der Redner, von dort aus die Versammlung beherrschen und, ohne in seinen Bewegungen gestört zu sein, alles sofort übersehen kann.

Ah, du alter Grundstock des Schauspielers und des Advokaten, und auch der des Klassik-Gymnasiasten, der stolz darauf sein möchte, gutes Französisch zu sprechen, du tauchst doch immer wieder auf! Marcelin hat gelächelt, als er daran dachte.

Ahnt der selbstironische junge Tourist, dass er dereinst als Bundesrat mit seiner Redekunst selbst Deutschschweizer Parlamentarier beeindrucken wird?

Politiker wider Willen

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