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13. Eifersucht
ОглавлениеZusammen mit Bekannten aus Orbe verbringt Tillon die Juniwochen in Sanary an der Côte d’Azur. Marcel gönnt ihr das Meer, die frische Luft, die Gesellschaft und hofft, dass sie erholt, gesund und frisch in die Heimat zurückkehren wird. Aus der sonnigen Provence schreibt die Freundin weniger lang und weniger regelmässig. Einmal sind ihre Blätter derart durcheinandergeraten, dass Pilet den Mistral oder die preussische Zensur verdächtigt – ironisch selbstverständlich. Wenn einmal der Briefträger an einem Sonntag oder gar Montag mit leeren Händen an die Davidstrasse kommt, hintersinnt sich Marcel. Ist etwas geschehen, ist sie krank, hat sie beim Baden zwischen den Felsen im Meer nicht aufgepasst? Wenn die Sonne Tillon schreibfaul gemacht hat, versteht Marcel keinen Spass und beginnt zu nörgeln.
In seiner Leipziger Einsamkeit beschleichen ihn ungute Gedanken. Hat ihn sein Vertrauen in falscher Sicherheit gewiegt? Hat seine Tillon etwa dort unten, wie man in der Provence sagt, zahlreiche galants und, mon Dieu, gefällt ihr dies vielleicht ganz gut? Pilet lässt seiner Phantasie freien Lauf:
Und wenn am Morgen Sie es der wilden Welle schon nicht verübeln, dass sie Sie gegen eine befreundete Hand schleudert, sind Sie am Abend – was noch besser ist – nicht glücklich, ans Meer träumen zu gehen, begleitet von einem Kerl mit feinem Schurrbart.
Zu Beginn ihrer Ferien hat Tillon stundenlang auf einem einsamen Felsen gesessen und dem abwesenden Marcel lange Briefe geschrieben. Und jetzt? Marcel, bitter:
Aus den Stunden sind Minuten geworden, wenn nicht Massagen auch noch diese ausfüllen.
Und dann gefällt sich Tillon gar noch darin, ihn dies wissen zu lassen! Der Philosoph Schleiermacher wusste es: «Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.» Der einsame Marcel spintisiert weiter:
So habe ich mich denn schon gefragt, ob es nicht gut wäre, meinem «Papa» Déverin dort unten in Monaco zu telegrafieren, ob er nicht sein Lycée ein paar Tage verlassen könnte und sich auf eine Ermittlung nach Sanary zu begeben!
Und was, wenn der Rapport ungünstig ausfiele? Welch «bramarbasierender und fuchsteufelswilder Marcelin» würde Tillon eines schönen Tages am Strand auftauchen sehen! Meint Pilet es ernst oder macht Pilet sich über sich selbst lustig? Beides vermutlich. Eifersüchtig ist er jedenfalls und die Angst, die Verlobte zu verlieren, kehrt periodisch zurück. Wie so oft in seinem Leben – und ganz besonders später in der Politik – holt er sich Rat bei dem Dichter, der gleichzeitig sein Lieblingsphilosoph ist, Jean de La Fontaine. Die Milchfrau seiner Fabel, die ebenfalls Luftschlösser gebaut hat, verliert schliesslich alles. La Fontaines Moral von der Geschichte:
Ein Zufall wirkt, dass ich mich auf mich selbst besinne, und siehe da: Ich bin das Hänschen wie vordem.
Pilet fühlt sich als gros Jean comme devant, als einer, der alles verloren hat, was ihm wichtig war. Trotzig warnt er die ferne Geliebte, auch er könnte sich «lustige Stunden» machen. Ob Tillon wisse, dass es auch in Leipzig «Lustige» gibt?
Wenn er ihr mit «bösartig spitzer Zunge» erzählen würde, dass Fräulein Zöbisch, die Tochter seiner Wirtin, ein nettes Kind von achtzehn Jahren, ein frisches Gesicht hat und sich dies gerne sagen lässt? Seit Herr Pilet ihr ein Kompliment über ihre Füsschen gemacht hat, verweilt sie, wenn sie sein Zimmer reinigt, gerne länger, um ihm allerhand Klatsch auszubreiten. Sie gibt zu verstehen, dass am Abend im Mondenschein sich über die Bäume des grossen Parks viel schöner träumen lässt als allein im Bett. Hé, hé, was würde Tillon dazu sagen?
Marcel hat für seine Tillon noch eine weitere «charmante» Geschichte auf Lager. Für den Wagner-Zyklus hat er ein Abonnement für einen Platz in der Seitenloge. Wenn man früh kommt, kriegt man einen guten Sitzplatz vorne an der Balustrade. Pilet ist natürlich immer früh, ebenso eine junge Dame, die sich jeweils neben ihn setzt. Eines Abends ist die Dame verspätet und ihr bleibt nur der Platz in der hinteren Ecke, wo man nichts sieht, es sei denn, man stehe. «Vor der Nase der erstaunten Deutschen» bietet Pilet «dieser armen Nachzüglerin» höflich seinen Platz an. In der Pause kommt die elegante, feine Schwarzhaarige im Foyer zu ihm, um sich für seine Liebenswürdigkeit zu bedanken. Man plaudert. An seinem holprigen Deutsch erkennt sie den Ausländer: «Sie sind Franzose, nicht wahr? Ich habe es sofort aus Ihrer Gestik erraten! Schade, dass ich Ihre Sprache nicht kenne, ich mag die Franzosen so sehr!»
Pilet erfährt, dass seine einnehmende Nachbarin aus Pommern kommt, in die Musik «vernarrt» ist, am Konservatorium Gesangsstunden nimmt und ihr Leben dem Theater geweiht hat, genau genommen der Oper. Sie ist erst seit einigen Wochen in Leipzig, fühlt sich einsam und ist hocherfreut über die unerwartete Begegnung. Möchte der Franzose nicht eines Abends zu einer Tasse russischen Tees zu ihr kommen? Als Pilet einwendet, sein Deutsch sei mangelhaft und er mache schrecklich viele Fehler, beruhigt sie ihn. Man sei ja dann bloss zu zweit, sie wäre die Einzige, um ihn auszulachen. Man würde es um so lustiger haben.
Pilet fürchtet – dies zumindest schreibt er dies seiner Tillon –, dass seine Galanterie, zu der er sich verpflichtet fühlte, ihn in eine unangenehme Lage gebracht habe. Er entschuldigt sich bei seiner «kleinen Sängerin» für den Rest des Wagnerzyklus und vertröstet sie auf später. Er werde ihr schreiben, wann er sie «mit seinen Gallizismen und seinen nicht übereinstimmenden Adjektiven werde amüsieren können». Im Übrigen, beruhigt er Tillon, sei er «fest entschlossen», der jungen Dame aus Berlin ein Abschiedsbriefchen zu schicken. Immer von sich als «er» redend schreibt er der Freundin in Savary:
Doch dann, ma foi, fragt er sich – er, der keine Wellen, keine Fischer, der weder Masseur noch Seemann hat, sondern höchstens eine Freundin, die sich einen Spass macht, ihm eine schelmische Zunge rauszustrecken –, fragt er sich, ob er nicht all dieses mit einigen Tassen dampfenden und duftenden Tassen Tee wettmachen könnte? In seinem Zweifeln gelangt er an Sie, um bei Ihnen Rat zu holen, aber lassen Sie ihn nicht schmachten, ich bitte Sie!
In seinem nächsten Brief an Tillon kommt er auf den «pommerischen Tee» zurück:
Nur zum Spass, Freundin, habe ich Sie um Ihren Rat gefragt. Schon seit Langem hatte ich meinen Entschluss gefasst, den Entschluss nicht hinzugehen. Nicht etwa, dass ich Angst hätte, ich könnte etwas Böses tun, nein, nochmals nein; auch nicht aus Angst, dieser fille du Nord Grund zum Leiden zu geben – ist Ihr Freund, Tillon, wirklich so faszinierend? Sie [die Sängerin aus Pommern] ist ja keineswegs von der Sorte, die sich Illusionen macht. Nein, was ich befürchtete, war, dass sie, die keinen Freund fürs Leben will – ihre Neigungen und ihr Beruf hindern sie daran –, dass sie nichts lieber möchte, als nebenbei zahlreiche Freunde zu haben. Und gerne hätte sie in dieser Auswahl auch gerne Französisch genascht. Wenn Sie wüssten, wie locker hier die Sitten sind – es ist zum Erschaudern – und dabei bin ich sonst nicht prüde. Aber genug von diesem Thema, Sie haben begriffen, dass ich nie die Absicht hatte anzunehmen und dass ich sie nie gehabt haben konnte.
Der Herr, wie mich dünkt, protestiert zu viel.