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12. «Ich will keine Politik machen»

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Am Samstag, 11. Juni, geht Pilet ans «Ende der Welt», will sagen den Exerzierplatz in Lindenthal, ausserhalb von Leipzig. Er verlässt um 9 Uhr das Haus, um dort für die auf Mittag angesetzte grosse «Parade» einen Platz auf der Tribüne zu ergattern, was ihm nach «viel Wegen, Umwegen, Warten, Hindernissen» gelingt. Von dort kann er das ganze Defilee der Leipziger Garnison überschauen. Mehr noch:

Verneigen Sie sich, Freundin, respektieren Sie mich, verehren Sie mich, ich habe den König gesehen! Ja, ich habe ihn gesehen, von ganz nahe, aus kaum zwei oder drei Metern. Der arme Kerl – geh schon! – hat mir leidgetan und mein republikanisches Herz litt beinahe an der Gleichgültigkeit eines ganzen Volkes gegenüber seinem Souverän. Ein wenig Beifall hier und dort, auf den er sich bemühte zu lächeln, aber es war so mager, so mager, dass es peinlich war, ich beteure es Ihnen. Oh, gewiss jeder weiss, dass er kein Adler ist, entfernt davon, weiss, dass es ihm an Finesse und Geschmack mangelt, dass er gerne «fressen» sagt statt «essen», gut trinkt und noch besser jagt und die Musik wenig liebt (wenn er beispielsweise nach Leipzig ins Gewandhaus kommt, bereitet man ihm ein sehr spezielles Programm vor – alles, was es in der Musik vom Leichtesten gibt und kurz, kurz, damit er nicht Zeit hat einzuschlafen). Abgesehen davon ist er ein braver Mann, pflichtbewusst, populär und vor allem unglücklich in seiner Ehe. Man sagt, er sei nie über das Davonlaufen seiner Frau hinweggekommen. Schliesslich beklatscht man nicht den Mann, sondern den König, die Funktion, die schöne und kostbare Reliquie einer grossen Vergangenheit, den Abkömmling der überragenden und grossartigen Fürsten, die aus dem wilden Sachsen langsam ein blühendes, reiches, gelehrtes und für seine Künste berühmtes Königreich gemacht haben! Und es scheint mir, dass all das schon ein paar Hurras verdient!

Das von Napoleon zum Königreich gemachte Herzogtum Sachsen wird nur bis 1918 bestehen. Der von Pilet beschriebene Friedrich August III. soll bei seiner Abdankung denkwürdig gesagt haben: «Nu da machd doch eiern Drägg alleene.»

Pilet beschreibt weiter die elegante, distinguierte und lächelnde Prinzessin, Schwägerin des Königs, die seine Gemahlin Luise ersetzt. Die lebenslustige Königin, siebenfache Mutter, ist mit dem Hauslehrer in die Schweiz abgehauen.

Pilet macht sich Gedanken über seine eigene Reaktion auf die royale Parade. Was sagt die Freundin dazu, dass er als «Sohn, Enkel und Urenkel von Republikanern», als «Schweizer der Freiheit», die Monarchie in Schutz nimmt?

Was soll’s, ich bin deshalb kein schlechterer Bürger und um nichts in der Welt möchte ich bei uns einen König. Aber ich gehe nicht so weit, zu behaupten, dass man überall die Könige abschaffen soll, weit gefehlt. Armer Papa, was würdest du sagen, wenn du mich hörtest? Du wärest bestürzt, da bin ich sicher! Du würdest erklären, dass es nicht der Mühe wert sei, an die Universität zu gehen, um derart verblödet daraus herauszukommen. Zum Schluss würdest du mich ins Bett schicken, um über die traurigen Folgen der in der Verfassung niedergeschriebenen Gedanken- und Redefreiheit nachzudenken.

Armer Papa, auch sonst. Aus der Ferne verfolgt Marcel, der in Leipzig sein Leibblatt, die Gazette de Lausanne, zugeschickt kriegt, die politische Karriere des Vaters. Er tut dies nicht zuletzt deshalb, weil der Papa, wenn die Dinge nicht nach Wunsch laufen, seine schlechte Laune an Mama auslässt. Im Grossrat und in der Partei ist die Zeit hart für ihn.

Sein Ansehen und seine politische Zukunft, in die er sein ganzes Herz und seine ganze Hoffnung gesetzt hat, ist schwer erschüttert, beinahe ruiniert worden: ein heftiger Streit mit einem der grossen Köpfe der Partei – in einer Angelegenheit, in der er übrigens völlig recht hat.

Nun aber erhält Marcel vom Vater brieflich gute Nachricht. Der Waadtländer Grand Conseil hat nämlich beschlossen, dass künftig die Ersatzrichter für das Kantonsgericht vom Parlament nominiert werden, und nicht, wie bisher, vom Gericht selbst. Was dieser Entscheid für das Land bedeute, werde sich Tillon fragen. Gar nichts, schreibt Marcel, wie überhaupt alles, was im Grossen Rat entschieden wird.

Wenn unsere hohen Abgeordneten sich einbilden, zu regieren und die Zukunft des Kantons zu formen, dann sind sie sehr naiv. Es gibt tiefere Wurzeln!

Für Edouard Pilet persönlich hingegen bedeutet der Entscheid viel. Marcel hat nämlich grosse Zweifel, «ob Vater in Lausanne bei den nächsten Wahlen wiedergewählt wird; zu Unrecht übrigens, er ist ein ausgezeichneter Abgeordneter, aber dies ist nicht die Frage». Wenn jetzt nach dem neuen Gesetz der Grosse Rat die Ersatzrichter wählt, dann hat Papa gute Chancen, nominiert zu werden. Auf dem Land lieben ihn die Leute, auch wenn er in Lausanne weniger populär ist. Wird er nominiert, dann kann er den Grossen Rat ohne Gesichtsverlust verlassen. Bei einer Vakanz im Kantonsgericht rücken fast ausnahmslos die Ersatzrichter nach. Papa wäre versorgt fürs Leben und hätte einen offiziellen Titel, «denn er hält viel darauf, in der Republik etwas zu sein».

Auch wenn er mit ihm das Heu nicht auf der gleichen Bühne hat, respektiert Marcel Pilet den Vater. Deshalb fällt es ihm schwer, ihn zu enttäuschen. Aber enttäuschen muss er ihn. Kann Tillon ihm helfen, die bittere Pille zu versüssen, die er ihm verabreichen muss? Sich selber kennt er gut genug, um zu wissen, dass seine Zunge seit allzu langer Zeit «scharfe Pfeile abschiesst», sein «Maul ohne Reue beisst», dass er diese Gewohnheit «weder abfedern noch verschleiern» kann.

Papa setzt auf mich grosse, sehr grosse Hoffnungen; nicht als Jurist, er erwartet natürlich, dass ich ein mehr als nur mittelmässiger Advokat werde, sondern vor allem als Politiker. Er sieht in mir einen Staatsmann, einen grossen Staatsmann und sogar einen grossen Mann tout court. Also ein wenig die wunderbare Verlängerung seiner eigenen Karriere oder vielmehr, um die Wahrheit zu sagen, die Revanche für das, was er nicht hat sein können! Bei meiner Geburt, scheint es, hat man ihm vorausgesagt, dass ich eines Tages Bundespräsident sein werde, und er glaubt das. Mon Dieu, warum nicht, es kann nicht besonders schwer sein – ich meine praktisch, aber wie schwer hingegen intellektuell und vor allem moralisch. Und es ist fest entschieden, reiflich überlegt: Ich will keine Politik machen. Seit langem bin ich dazu entschlossen. Da ich sogar fürchtete, dass ich mich eines Tages von einer dummen Sucht nach hohlem und populärem Ruhm verführen lassen könnte, habe ich mir vor nun vier Jahren die Mühe gemacht, mir den Weg zu den Ehren definitiv zu versperren. Ich trat bei Belles-Lettres ein und schlug Helvetia aus.

Es hätte mir nicht besser gelingen können. Entweder misstraut man mir als einem zu konservativen und zu aristokratischen Radikalen – dies die Meinung der gouvernementalen Bellettriens – oder man hasst mich offen wie die Helveter, wofür ich sichere Beweise habe. Nach all dem, brauche ich nur noch die Leiter hochzuziehen.

Leichter gesagt als getan. Der Vater hat die feste Absicht, Sohn Marcel, sobald dieser den Doktortitel in der Tasche hat, politisch zu lancieren.

Solange er dies noch kann, der arme Verlierer! Also werden Sie, Tillon, begreifen, dass ich ihm jetzt, ohne zu warten und ohne zu zögern, meinen festen Willen mitteilen muss, mich dem Staat zu verweigern.

Er schreibt dem Vater einen durchdachten, sorgfältig formulierten «antipolitischen Brief». Papas Reaktion? Keine eigentliche Antwort. Während Mama dem Sohn schreibt, dass sein Entscheid richtig sei und sie sich darüber freue, schickt Papa eine Ansichtskarte, auf die er kritzelt: «Adieu, kleiner Egoist. Die Zukunft wartet auf Dich.» Und: «Kleiner unausgereifter Radikaler, wenn Du bloss ans Land dächtest und nicht nur an Dich selbst.»

Wie gewohnt, behandelt er den erwachsenen Sohn als gamin, als unreifen Jungen:

Papa kann sich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass ich – im Körper und Geist wachsend – meine eigenen Gefühle und Ansichten habe, die von den seinen verschieden sind. Und anstatt böse zu werden, was ihm manchmal passiert, hat er gelacht! Ich bedaure dies beinahe, denn dies ist nur ein trügerischer Aufschub. Der Streit wird bei der nächsten Gelegenheit umso heftiger neu entbrennen – zweifellos bei meiner Rückkehr. Aber haben Sie keine Angst, ich werde mein Möglichstes tun, um meinen Entschluss durchzusetzen, ohne dabei grosse Zornausbrüche zu provozieren. Es wäre nicht das erste Mal, dass Papa nein sagt und dass ich dann schliesslich doch ein Ja erreiche – ob ein Ja wider willen oder ein Ja aus Ermüdung. Und dann werde ich meine Ruhe haben!

Politiker wider Willen

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