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9. Eine Demoiselle aus Orbe
ОглавлениеDie belle histoire d’amour, die Marcel Pilet fürs Leben mit Mathilde Golaz verbinden wird, beginnt prosaisch an einem düsteren Dezembersamstag 1909. Die im Zug mit Hallo und Gesang aus Lausanne aufgebrochenen Bellettriens kommen um 17 Uhr im Städtchen Orbe am Fuss des Juras an. Statt des erhofften Empfangs mit Musik und Blumen steht am Bahnhof bloss ein Ehrenmitglied ihres Vereins, «begleitet von einem Herrn in Schwarz und einer leichten, aber kalten Bise.» In Gruppen von zwei oder drei begeben sich die Studenten zu den «guten Familien» in Orbe, die sie zum Abendessen eingeladen haben. Die einen geniessen dort den guten Wein, andere die Gesellschaft von charmanten Begleiterinnen.
Verspätet tröpfeln die Schauspieler im Casino ein, kleiden sich rasch um, kleben Schnäuze und Bärte an. Derweil schauen sich im Saal um die hundert Personen gegenseitig an und warten darauf, dass der Vorhang sich hebt. Hundert sind wenig, aber wenigstens sind es des gens biens! Endlich erschallt, vom Dorforchester gespielt, der Belles-Lettres-Marsch und «zweifellos zum ersten Mal» singen die Bellettriens le Sapin vert, «begleitet und beinahe richtig».
Sekretär Gagnaux, der die Exkursion protokolliert, spart seine Kritik an den Schauspielern für ihren Hauptauftritt in Lausanne auf. Dort wird das Stück Gringoire das Publikum «vibrieren» lassen. Und dort wird Pilets lebhaftes und wahres Spiel manch hübsche Augen zu Tränen rühren. «Unser Präsident bestätigte seinen Ruf als glänzender Schauspieler und verschaffte sich frenetischen Beifall.»
Ob die hundert Zuschauer in Orbe auch frenetisch Beifall geklatscht haben und ob auch dort die Mädchenaugen feucht wurden, verschweigt der Chronist. Jedenfalls war das Publikum «entzückt». Nachher wird der Saal für den Ball hergerichtet.
Plötzlich scheint das Casino zusammenzukrachen. Die Scheiben zittern, die Türen wackeln in ihren Angeln. Keine Angst! Es ist bloss das Tanzorchester, das die schönsten Stücke seines Repertoires spielt. Jeder stürzt sich auf die Schönheit seiner Wahl. Der Ball beginnt. Die Bellettriens tanzen wenig und die dreissig Fräuleins von Orbe geniessen mehr, als ihnen lieb ist, das Glück, sitzen zu bleiben.
Die letzten Akkorde der Musik sind verklungen, langsam leert sich das Casino. Die Braven nehmen programmgemäss den Frühzug von 5 Uhr, andere schlafen im «Hôtel des deux Poissons», wieder andere unter der Casinobühne und wieder andere überhaupt nicht. Verfolgt von den wenig freundlichen Blicken der einheimischen Passanten, wandern sie übernächtigt und müde in den Morgenstunden durch die mittelalterlichen Strassen von Orbe, bis der Lausanne-Zug sie erlöst.
Ein paar jungen Fräuleins, Töchtern aus den guten Familien von Orbe, haben die frechen baladins, die Wanderschauspieler von der Uni Lausanne, imponiert. Darunter ist die aparte 22-jährige Tillette Golaz – die eigentlich Mathilde heisst, die aber niemand so nennt. Ihr vor neun Jahren verstorbener Vater war der mächtigste Politiker von Orbe: Sieben Jahre Militärdirektor, bevor er im Staatsrat einem Liberalen Platz machen musste und als Ständerat nach Bern abgeschoben wurde. Tillette lebt mit ihrer Mutter in einer eleganten Villa mit gepflegtem Garten, la maison carrée, von wo man auf den tief unten liegenden Fluss Orbe schaut.
Das Mädchen ging in Orbe in die Primarschule, die sie mit besten Zeugnissen immer als Klassenerste abschloss. In Lausanne besuchte Tillette das Gymnasium, wo sie «Kurse in der französischen Sprache, der deutschen Sprache, der englischen Sprache, Arithmetik, Geschichte, Geografie, Botanik und Physiologie belegte: Sie zeigte sich fleissig und ihr Betragen war in allen Belangen ausgezeichnet.»
Mit ihren Zeugnissen hat sie auch einen Zeitungsausschnitt aus dem Journal des Jeunes Filles aufbewahrt, eine Graphologierubrik:
Geordneter Geist, ordentlich, sparsam, kennt den Wert des Geldes. Misstrauisch, vorsichtig. Hat Stolz, eine sanfte Beharrlichkeit. Ist hingebungsvoll, hilfsbereit, andererseits ein wenig eigen. Hat Geschmack, Feingefühl, Schwung, ein bisschen Ehrgeiz, liebt die intellektuellen Dinge.
Die 16-jährige Tillette hatte der Zeitschrift unter einem Pseudonym geschrieben und um eine Beurteilung ihrer Schrift gebeten. Wenn man der Graphologie glauben will, war sie von «wohlwollender, sanfter, intelligenter, korrekter, liebevoller Natur», aber auch von «etwas wandelbarer Laune».
Die junge Dame ist gebildet, hat Sprachaufenthalte in England und Deutschland hinter sich, kennt auch bereits Paris und das Mittelmeer. In Orbe, wo sie sich um ihre Mutter kümmert, bei Wohltätigkeitsanlässen mitwirkt und vermutlich auf einen standesgemässen Ehemann wartet, langweilt sie sich.
In einem der damals üblichen Schulhefte mit schwarzem Deckel findet sich ein eigenartiges, von Tillette geführtes «Protokoll». Daraus ersieht man, dass in Orbe fünf
fröhliche junge Leute «von sprudelndem Geist» auf den Gedanken kamen, eine Vereinigung zu gründen mit dem «ganz einfachen Zweck», zusammen einige gute Stunden zu verbringen.
Das Fanion, Fähnchen, wie sich die jungen Leute nennen, ist eine Art Belles-Lettres, eine mit Frauen. Die Lausanner Sektion hat kurz zuvor die Aufnahme weiblicher Mitglieder abgelehnt. Die treibenden Kräfte sind die 21-jährige Tillette, und der 18-jährige Jusstudent Henry Vallotton. Wie eine «richtige» Studentenverbindung hat das Fanion Statuten, ein Wappen – in den Kantonsfarben Grün und Weiss –, eine Devise – amitié, gaîté, franchise. Weil Henry in Lausanne bei den Zofingern ist, übernehmen sie auch Bräuche dieser Vereinigung. Sie geben sich Couleurnamen und schaffen das Amt des Fuchsmajors, das Tillette übernimmt, während Henry «zum Unglück aller» als Sekretär verknurrt wird. Die unerforschlichen Wege des Schicksals wollen es, dass der Fuchsmajor und der Sekretär dieses eigenartigen Fähnchens, Tillette Golaz und Henry Vallotton, dereinst in Marcel Pilets Leben eine Hauptrolle spielen werden.
In den Fanion-Protokollen bemüht sich Henry, geistreich und literarisch zu sein, und macht dabei «Miss Tillette» diskret den Hof: «Ich hätte Ihnen tausend Dinge zu sagen – gute und schlechte –, aber dies ist überhaupt nicht der richtige Augenblick.» Und weiter schreibt der vorwitzige Henry oder «Harry», wie er sich trendig nennt:
Die Mondnächte verlocken Sie zu sehr. Um dies zu verbergen, machen Sie eine leichtfertige Miene, aber Ihre Kameraden haben Sie durchschaut, sie haben Ihre Absicht erraten – erröten Sie nicht, dies ist sehr gut und passt zu Ihrem Alter!
Weil sie immer tout émue, ganz gerührt, zu sein scheint, erhält sie den Couleurnamen Tante Emue, Tante Gerührt.
Obschon die Mitglieder nach welscher Sitte schmolitz – deutschschweizerisch Duzis –, gemacht haben, spricht Harry, vulgo Rossard – frei übersetzt Rotznase –, Tillette weiter mit vous an. Er ist sich des Altersunterschieds bewusst und sie ebenfalls. An der letzten «schläfrigen» Sitzung vor den Sommerferien liest Tillette ihren Aufsatz vor. Im Protokoll macht sie in gespielter Bescheidenheit. Sie erzittere vor ihrer «aus markanten Persönlichkeiten zusammengesetzten Jury», die ihre «schreckliche Pfuscherei» lesen werde. Sie neckt «Rossard», der Lieder mit dem ewig gleichen Refrain summt und damit die Geduld der Versammlung strapaziert. Vergeblich habe man ihn ersucht, «mit diesem Radau aufzuhören»; ihn um Gnade gebeten, ihn angefleht, doch «nichts konnte den jungen Halbwüchsigen beruhigen».
Dann wird die Protokollführerin sentimental. Wenn ihre «ungeschickte Feder» den zweiten Teil des Abends erzähle, verliere dieser «all seinen Charme und seine Poesie».
Es war einfach köstlich, meine Lippen sind unfähig, die Gefühle von Dankbarkeit auszudrücken, die im Grund unseres Herzens ruhen. Danke, Rossard, für deine Liebenswürdigkeit. Wir hoffen, dass wir noch oft die unendliche Freude haben werden, deine warme, vibrierende und sympathische Stimme zu hören. 14. Juli 1910. Vice-Secrétaire Tante Emue.
Hat sich Tillette in Henry – den schönen «Halbwüchsigen» – verguckt?
Vielleicht. Aber auch ein anderer junger Rechtsstudent hat es ihr angetan, der Präsident von Belles-Lettres und Hauptdarsteller von Gringoire, dem sie ein halbes Jahr vorher, an jenem kalten Winterabend, in Orbe begegnet ist und mit dem sie – vielleicht – getanzt hat. Im Februar erhält der Präsident von Belles-Lettres eine an die Adresse Brasserie de Lausanne geschickte, unsignierte Karte. Darauf ist zu lesen, dass das petit comité du fanion sich «vor dem neuen Präsidenten von Belles-Lettres tief verneigt» und ihm Glück wünscht.
Pilet hat die Identität der Absenderin erraten und flirtet zurück:
Da ich nur die Adresse des Sekretärs des petit comité kenne – ich verdächtige ihn übrigens auch, Präsident zu sein –, viele Chargen für ein so kleines Köpfchen, schicke ich ihm meinen besten Dank für die liebenswürdige Karte. Wirklich, Mademoiselle, Sie sind mehr Bellettrienne, als man dies überhaupt sein kann, und es ist mir angenehm, eine Verbindung zu präsidieren, der Sie so viel Interesse entgegenbringen.
Zum Schluss schreibt Pilet: «Weil wir in den nächsten Jahren in Orbe keine Abendveranstaltungen mehr organisieren werden, weiss ich nicht, was mich bewogen hat, Präsident zu bleiben. Vielleicht Faulheit. Merci noch einmal.» Keine Unterschrift.
Den Entwurf ihrer kecken Antwort – sie hat sich mit der Formulierung viel Mühe genommen – bewahrt die spätere Mme Pilet-Golaz auf.
Monsieur mon collègue …, weil Sie mich mit dem Titel Präsident ehren … seien Sie in Zukunft mit Ihren Liebenswürdigkeiten vorsichtiger! Scheint Ihnen mein so kleines, winziges Köpfchen so wenig fähig, schwere Lasten zu tragen? Sie müssen wissen, dass es sehr schlimm ist, auf diese Weise einen Anfänger, einen Schwachen, einen Unerfahrenen niederzumachen – und erst noch Sie, den ich für ein bisschen intelligent und gutartig hielt! – wie immer trügt der Schein! Sie verdienen Strafe … jedoch verzeihe ich Ihnen, hier der Beweis: die beiden Fotos, die Sie an die Wand Ihres Zimmers anstecken können, in Erwartung des Originals, vielleicht! Und ich grüsse Sie ganz herzlich, der Sekretär, nein, der verdächtigte Präsident!
«In Erwartung des Originals, vielleicht!» Hohe Kunst des schriftlichen Flirtens.