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Streit an der Schlei in Exhöft
ОглавлениеVon der Ortschaft Exhöft aus hatten sich die Schüler in Gruppen aufgeteilt. Während ein Teil zu Fuß den Weg durch das Naturerlebniszentrum Oehe-Schleimünde angetreten hatte, wählten ihre Mitschüler entweder das Fahrrad oder die Skater als Fortbewegungsmittel. Es sollte der Auftakt in das nächste Schuljahr werden.
»Die Klassenlehrerin ist zugleich für das Fach Biologie zuständig und wollte mit diesem Ausflug den Zusammenhalt in der Klasse stärken«, erklärte Polizeiobermeister Dirk Hansen.
Der Ansatz war vermutlich gut gedacht gewesen, doch das Ergebnis sah völlig anders aus. Zwei Schüler lagen mit Verletzungen im Krankenhaus, aufgebrachte Eltern verlangten nach Erklärungen und sogar erste Medienvertreter waren auf dem Besucherparkplatz in Exhöft aufgetaucht. Hansen hatte daher Unterstützung vom LKA aus Kiel angefordert, weshalb Frank Reuter jetzt neben seinem Kollegen auf dem Parkplatz stand.
»Das klingt so, als wenn es in der Klasse einige Probleme gibt«, erwiderte der Hauptkommissar.
Obermeister Hansen hatte bereits Silke Rambow vernommen und erste Eindrücke sammeln können. Die Lehrerin stand zwar unter Schock, aber sie wollte unbedingt bei der Aufklärung behilflich sein.
»Der Ausflug wurde durch den Rektor der Schule nur unter Auflagen genehmigt. Eine davon war, dass zwei weitere Aufsichtspersonen dabei sein sollten«, erklärte Reuters Kollege.
Dabei handelte es sich um einen jungen Referendar sowie eine Teilzeitkraft, die normalerweise in den Nachmittagsstunden an der Schule die Aufsicht über die Schüler während der Hausaufgaben übernahm.
»Beide schweigen sich über den Ablauf aus. Die Angaben decken sich zwar, aber ich kann daraus keine Rückschlüsse auf den Auslöser der Auseinandersetzungen ziehen«, beschwerte sich Dirk Hansen.
Bislang wusste er nur, dass die Gruppe der Schüler mit den Fahrrädern zuletzt den Parkplatz verlassen hatte. Nach gut einem Kilometer war sie auf die andere Gruppe getroffen, die auf Inlineskatern unterwegs war. Dann waren nach Aussage der Betreuer erste verbale Provokationen ausgetauscht worden, bevor es in körperlicher Gewalt ausartete. Sowohl der Referendar als auch die Teilzeitkraft schilderten die Abläufe exakt gleich, ohne auf Details eingehen zu können oder wollen. Frank Reuter verstand den Unmut seines Kollegen und nahm sich vor, die beiden Aufsichtspersonen nicht so leicht davonkommen zu lassen. Obermeister Hansen hatte sie getrennt, indem er den Referendar in einen Bully und Nadine Mahler in einen anderen Streifenwagen gesetzt hatte. Mittlerweile waren erste Ergebnisse der Kriminaltechniker auf das Handy von Hansen geschickt worden. Gemeinsam schauten die Ermittler auf die Bilder, die von beiden Opfern beim Eintreffen in der Klinik angefertigt worden waren. Die Kleidung war extrem blutverschmiert und ließ so kaum erkennen, welche Verletzungen vorlagen.
»Ich möchte zuerst mit der Klassenlehrerin sprechen«, teilte Reuter seinen Entschluss mit.
Fünf Minuten später setzte sich Silke Rambow auf den Beifahrersitz von Reuters Passat. Er musterte die Frau von Mitte 30, die ihre dunkelblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. Ihr Gesicht war trotz der hohen Temperaturen wachsbleich und die blauen Augen dunkel. Der Zwischenfall hatte die Pädagogin schwer getroffen.
»Können Sie mir schildern, welche Probleme es in der Klasse gibt?«, bat Reuter.
Rambow seufzte schwer und suchte nach den passenden Worten. Dann erzählte sie von verschiedenen Vorfällen, die zu immer heftigeren Auseinandersetzungen unter den Schülern geführt hatten. Ein Junge mit dunkler Hautfarbe sah sich rassistischen Angriffen ausgesetzt und hatte daraufhin einen Mitschüler mit einem Springmesser angegriffen. Dann tauchten im Netzwerk der Schule auf einmal Filme auf, die eine Schülerin beim Sex mit einem älteren Mann zeigten. Trotz intensiver Bemühungen gelang es nicht, den Verursacher der Schmutzkampagne ausfindig zu machen.
»Das sind Teenager, die mit sich selbst kaum klarkommen. In einigen Familien fehlt auch der nötige Rückhalt, damit die jungen Menschen diese schwierige Periode in ihrem Leben besser meistern. Dieser Film war eine üble Fälschung und hat Celia aus der Bahn geworfen«, erklärte Silke Rambow.
Es war ihr anzuhören, wie sehr ihr die Schüler am Herzen lagen und wie groß das Verständnis für die Nöte von ihnen war. Unmittelbar zum Ende des letzten Schuljahres hatte es ein Referendar nicht mehr ausgehalten und um seine Versetzung gebeten.
»Hauke Lassen ist zu sensibel, um auf Schüler in dem Alter angemessen reagieren zu können. Eine Weile hat er sich um Celia besonders gekümmert und es schien zu helfen«, berichtete Rambow.
Doch dann kursierten auf einmal Gerüchte an der Schule, dass zwischen dem Referendar und der minderjährigen Schülerin ein sexuelles Verhältnis existieren sollte. Hauke Lassen reagierte entsetzt und schwor jeden Eid, dass er sich Celia Sönnichsen niemals unsittlich genähert hatte. Keiner der Kollegen oder der Rektor hegten den geringsten Zweifel an seiner Aufrichtigkeit, aber die Schüler ließen Lassen seitdem auflaufen.
»Können Sie sich den heutigen Zwischenfall erklären? Sehen Sie einen Zusammenhang mit den früheren Vorfällen?«, fragte Reuter.
Die Pädagogin räumte ein, völlig überfragt zu sein. Sie war zu Fuß mit der ersten Gruppe ihrer Schüler weit vor den anderen aufgebrochen. Erst der Anruf des Referendars hatte sie auf die schwere Auseinandersetzung aufmerksam gemacht.
»Als ich endlich dort eintraf, war es bereits zu spät«, entschuldigte sich Silke Rambow.
Der Hauptkommissar dankte ihr und ging anschließend zu dem Bully, in dem Volker Dietzen saß. Er wirkte sehr verschlossen und sein Bericht über den Vorfall hörte sich viel zu neutral an. Reuter verstand sofort, warum Obermeister Hansen dem angehenden Pädagogen nicht traute.
»Leonie hat also den Streit vom Zaun gebrochen, richtig?«, fragte Reuter.
Dietzen nickte.
»Sie suchte sich ausgerechnet Celia Sönnichsen für den Angriff aus, was Sie nicht zum Einschreiten bewegte. Warum nicht? Sie kannten doch die Vorgeschichte«, bohrte Reuter weiter.
»Die kleine Prinzessin und ihr Prinz, aber nein. Das war ja in Wahrheit eher der alte König, den sie ranließ«, höhnte Leonie.
Alle Anwesenden wussten sofort, auf wen die Anspielung gemünzt war. Einige Schüler stimmten in die Schmähgesänge ein, während Celias Freunde zu ihr hielten. Aus leichten Stößen wurden auf einmal handfeste Prügel. Dietzen war davon überrascht worden, sodass er die handgreiflichen Auseinandersetzungen nicht rechtzeitig unterbinden konnte.
»Wie hat Frau Gosch reagiert?«
Als der Hauptkommissar sich nach dem Verhalten der Teilzeitkraft erkundigte, wurde Volker Dietzen endlich auskunftsfreudiger. »Pia hat früher die Gefahr erkannt. Sie war mitten im Getümmel, ohne viel ausrichten zu können. Ich sah nur etwas in der Sonne aufblitzen und dann lag Celia auch schon am Boden. Pia ging in die Hocke, um ihr zu helfen. Als ich bei den beiden ankam, schrie Leonie auf einmal auf und sackte in sich zusammen. Das war das völlige Chaos«, erklärte er.
Sosehr Reuter sich auch bemühte, die Schilderungen waren zu lückenhaft, um den Ablauf vernünftig zu rekonstruieren. Er stieg aus dem Bully und ging hinüber zum zweiten Streifenwagen. Dort setzte er sich auf den Beifahrersitz und drehte sich um, sodass er Pia Gosch ansehen konnte. Das schmale Gesicht der zierlichen Brünetten war zu einer Maske erstarrt. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß und umschlossen einander so fest, dass der Hauptkommissar ihre weißen Knöchel bemerkte.
»Hauptkommissar Reuter vom LKA. Erzählen Sie mir bitte möglichst genau, was auf dem Weg passiert ist«, forderte er sie auf.
Pia Gosch war schnell mit ihrer Schilderung durch, die sich nur unwesentlich von der des Referendars unterschied.
»Es spricht für Sie, dass Sie sich sofort um Celia gekümmert haben. Das arme Mädchen war ja völlig hilflos«, lobte Reuter sie.
In den braunen Augen schimmerte Widerspruch, doch Frau Gosch erwähnte ihn nicht.
»Konnten Sie erkennen, wie Leonie verletzt wurde?«, fragte Reuter weiter.
Beide Mädchen hatten Stichverletzungen, die nach Aussage des behandelnden Arztes von einem Messer mit schmaler Klinge verursacht worden waren.
»Nein, ich sah nur das viele Blut und dachte mir, dass bei drei Einstichen vermutlich ein Organ getroffen worden war«, antwortete Gosch.
»Fanden Sie das zögerliche Verhalten von Herrn Dietzen nicht schlimm?«, wollte Reuter wissen.
»Er wurde doch völlig überrumpelt. Außerdem hat ihn Leonies Vorwurf sicherlich schwer getroffen. Er und ein Verhältnis mit Celia. Was für ein Unfug!«, widersprach sie vehement.
Zehn Minuten später sprach der Hauptkommissar nochmals mit Silke Rambow. Er wollte den Namen des Schülers erfahren, dem sie vor einigen Wochen das Messer abgenommen hatte.
»Ayhan? Der war heute nicht dabei. Er hat sich einen Knöchelbruch beim Fußball zugezogen. Sein Messer hat Pia Gosch an sich genommen, und soweit ich weiß, dem Rektor übergeben«, antwortete die Lehrerin.
Frank Reuter dankte ihr und bat Obermeister Hansen zu sich, um mit ihm über seine Annahmen zu sprechen. Es war alles noch sehr vage, doch langsam kristallisierte sich ein Bild für den Hauptkommissar heraus. Er rief in der Klinik an und wollte von dem behandelnden Arzt wissen, ob er mehr über die Verletzung der beiden Mädchen sagen konnte. Frank Reuter gab die Auskünfte anschließend sofort an Obermeister Hansen weiter.
»An den Händen und Unterarmen von Leonie gibt es leichte Schnittwunden. Nicht sehr tief«, sagte er.
Obermeister Dirk Hansen krauste überrascht die Stirn. Reuter nickte nach wenigen Sekunden zustimmend, als es in den Augen seines Kollegen verstehend aufblitzte.
»Ganz richtig«, sagte er.
»Ja, das erklärt auch die Aussage von Pia Gosch und warum Herr Dietzen sich so zurückhält«, erwiderte Dirk Hansen.
Warum verdächtigen die Ermittler die Teilzeitkraft?