Читать книгу Harry Harrison - Weltenbummler und Witzbold - Hardy Kettlitz - Страница 6
Оглавление2. – Der Mann, der überall war
von John Clute
Auch eine absurde Welt verdient unsere Achtung: zum Tod von Harry Harrison, Autor von New York 1999 und zahlloser anderer Romane, die einfach nicht zu fassen waren.
Er war ein ganzer Kerl und ein Mann von großer Anmut. Er war zäh, aber sanft. Wann immer er einen Raum betrat, beherrschte er ihn mit seiner Anwesenheit, aber sobald er wieder gegangen war, wurde er unauffindbar, weil er Fremden oder auch Bekannten oder denjenigen unter uns, die ihn über die Jahrzehnte hinweg als Angehörigen unserer Gemeinde von Schreibenden flüchtig kennengelernt hatten, niemals verriet, wohin er verschwand, sondern nur, wo er wohnte. Man hatte immer den Verdacht, dass sich hinter seinem kauzigen Gebaren ein knallharter Erforscher phantastischer Tiefen verbarg (wie Baroness Orczy in »Das scharlachrote Siegel« sagt: »Wo man ihn auch sucht / dieser verdammte Pimpernel ist einfach nicht zu fassen.«); man dachte immer, dass man es in Wirklichkeit nur mit einer ausgeklügelten Tarnidentität zu tun hatte, dass Harry Harrison die joviale Maske eines heimlichen Helden war, dass er ein Mann unter Kindern war, der nur vorgab, einer von uns zu sein.
Er ist viele Jahre lang umhergereist. Die letzten Jahrzehnte hat er wohl in Irland verbracht – wozu ihn die dortigen Steuernachlässe für Kunstschaffende inspiriert hatten. Möglicherweise wohnte er in Dublin, vielleicht aber auch nicht. Er tauchte auf, wo immer es ihm gefiel. »Hallo John«, sagte er bei den nicht allzu häufigen Gelegenheiten zu mir, bei denen er mich überhaupt bemerkte, und legte den Kopf auf die Seite wie ein Zwerghuhn, obwohl er eigentlich kein besonders kleiner Mann war. Dabei betrachtete er mich meistens mit einem übertrieben eindringlichen Blick. Und dann zuckte er leicht mit den Schultern, als wäre er ein kleines bisschen eingeschnappt oder vielleicht auch enttäuscht. Wie die meisten von uns konnte ich es nicht mit dem Überschwang seines großartigen Freundes Brian Aldiss aufnehmen, der ihn stets mit einer gut aufgelegten Frotzelei begrüßte: Die beiden legten sich gegenseitig die Hand auf die Schulter und machten sich dann, jeder für den anderen den Falstaff spielend, auf die Suche nach etwas zu trinken.
Genau genommen traf ich Harry öfter in Brians Begleitung als allein an. Mit Elizabeth Hand habe ich die beiden 1999 in Dortmund auf dem Eurocon getroffen. Dortmund, das im Zweiten Weltkrieg bombardiert wurde, ist zu einem Antlitz der Zukunft geworden, an deren Schaffung wir mit den Werken, die wir geschrieben und besprochen haben, zumindest in Gedanken beteiligt waren, obwohl niemand von uns es gern zugeben wollte: nackte, billig-utopische moderne Straßen, erhellt von den Besitztümern jener, die uns besaßen, aber keinen Pfennig für einen guten Architekten übrig hatten – die ganze große Lüge der modernen Welt, dass sich alle alles leisten können, dass jeder es sich leisten kann, im riesigen Kaufhaus des Jetzt zu leben, und nicht nur ein Prozent von einem Prozent; wie jede moderne Stadt, von der man sich einen Begriff machen will, blutete Dortmund die Brieftaschen all jener aus, die es sich nicht leisten konnten, das, was sie sahen, auch zu kaufen. Harry interessierte sich offenbar einen Dreck dafür, wo wir waren (während Brian einen kalten, berechnenden Blick für die moderne Welt hatte). Zehn Jahre später trafen wir die beiden in Tampa an der Universität von South Florida. Brian spielte noch immer den Draufgänger, aber Harry sah inzwischen aus, als wüsste er, dass sein Todesurteil schon bald verkündet werden würde. Er war über achtzig. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Er starb am 15. August 2012 in Crowborough, Uckfield, East Sussex.
Soweit ich weiß, hat er es nicht ein einziges Mal bereut, Harry Harrison gewesen zu sein.
Er kam am 12. März 1925 in Stamford, Connecticut, als Henry Maxwell Dempsey zur Welt (allerdings änderte sein Vater seinen Namen kurz nach der Geburt des Sohnes in Harrison um). Seine Laufbahn als bezahlter Künstler begann er um 1946, wobei er in erster Linie als Comiczeichner und -texter für Magazine arbeitete und sogar eine Weile als künstlerischer Leiter der PICTURE WEEK. Zur selben Zeit dachte er darüber nach, selber zu schreiben – er war seit jungen Jahren Science-Fiction-begeistert und durch seine Mitgliedschaft im Hydra Club, einer New Yorker Gruppe professioneller SF-Schaffender, mit vielen Autoren befreundet. Damon Knight, der ebenfalls Mitglied im Hydra Club und darüber hinaus Teil der Redaktion des kurzlebigen SF-Magazins WORLDS BEYOND (1950/1951) war, gab bei Harrison einige Illustrationen in Auftrag; weit wichtiger war jedoch, dass er kurz darauf Harrisons erste Kurzgeschichte kaufte: »Rock Diver«, die im Februar 1951 erschien. Von da an schrieb Harrison regelmäßig Kurzgeschichten – die letzte erschien 2008. 1951 gab er auch selbst eine Ausgabe des Magazins ROCKET STORIES heraus, doch dieser Bereich des SF-Schaffens interessierte ihn nicht besonders, auch wenn er für jeweils kurze Zeit die Magazine IMPULSE, FANTASTIC und AMAZING STORIES redaktionell betreute. Darüber hinaus betreute er alle vier Bände von NOVA, eine Anthologiereihe mit Originalveröffentlichungen aus den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts.
Im Jahr 1957 verkaufte der bereits frei in der Welt umherschweifende Harrison von Mexiko aus erstmals eine Geschichte an John W. Campbell für ASTOUNDING, womit er es unter die Großen der Science Fiction schaffte. Dieser erste Beitrag für das Magazin handelte von dem interstellaren Kriminellen Slippery Jim DiGriz, der es unter dem Namen »Stahlratte« zum unorthodoxen Gesetzesvollstrecker gebracht hatte und der Antiheld und/oder Held einer Reihe rasanter Abenteuergeschichten werden sollte, in denen Harrison die Heinlein’sche Figur des kompetenten Helden, die Campbell so liebte, zugleich aufs Korn nahm und (alles andere als subtil) validierte. Der bekannteste Roman der Reihe, Stahlratte zeigt die Zähne von 1961, fasste die ersten DiGriz-Geschichten zusammen und es folgten eine Reihe Fortsetzungen, die aber leider weniger gut waren. Dieses nachlassende Interesse an erfolgreichen Reihen, die auf Insistieren seiner Verleger fortgesetzt wurden, war ganz und gar typisch für Harrison. Vordergründig tanzte er nicht aus der Reihe und spielte das Spiel höchst erfolgreich mit; aber seinem Instinkt entsprach es, sich zu widersetzen, für Unruhe zu sorgen, den Konsens zu unterwandern. Allerdings blieb er immer ein entschlossener Verteidiger Campbells, obwohl seine Haltung als Herausgeber und Kritiker Campbells zunehmend starren gesellschaftlichen und politischen Ansichten oft diametral entgegengesetzt zu sein schien. Er gab Campbells Collected Editorials from Analog (1966) heraus und wurde zusammen mit Campbell und Gordon R. Dickson bei einem abendlichen Brainstorming gefilmt, das mit Lifeboat (1975; dt. Kurs auf 20B-40) einen verblüffend schlechten Harrison-Dickson-Roman hervorbrachte. Nach Campbells Tod stellte Harrison eine Gedenkanthologie unter dem Titel Astounding: John W. Campbell Memorial Anthology (1973) heraus, die den Locus Award gewann.
Eine weitere Serie, die mit einer Mischung aus strenger Normerfüllung und Parodie aufwartete, waren die TODESWELTEN-Romane (angefangen mit Die Todeswelt von 1960), in denen Harrison höchst rasant die Kolonisierung eines Planeten beschreibt, auf dem es von feindseligen Außerirdischen nur so wimmelt. Er bewies sich damit als kraftvoller Autor intelligenter Abenteuergeschichten im Stile des Planetenromans, den er und andere Schriftsteller von Edgar Rice Burroughs übernommen hatten – sie gaben dem glanzvollen Eskapismus Muskeln, ein Rückgrat und eine Science-Fiction-Logik. Eine dritte Reihe, die Harrison bereits in jungen Jahren begonnen hatte – Der Planetenretter von 1962 und die Folgeromane –, ist eher düster: Es stellt sich heraus, dass die beschriebene dystopische Kultur unter der Herrschaft eines außerirdischen Parasiten steht. Eine vierte fiel dann deutlich heiterer aus: Die Serie BILL, DER GALAKTISCHE HELD, die mit Der unglaubliche Beginn (1965) anfängt, nimmt die Military Science Fiction, deren Beliebtheit einen Großteil der ernsthaften Genreleser seit jeher beunruhigt, gnadenlos auf den Arm. Die letzte wirklich interessante Reihe aus Harrisons Feder ist wohl auch seine Beste: Die konzeptionell ambitionierten EDEN-Romane Diesseits von Eden (1984), Winter in Eden (1986) und Rückkehr nach Eden (1988) entwerfen eine Alternativwelt, die auf der Annahme basiert, dass die Dinosaurier nicht ausgelöscht wurden und sich im Laufe der Zeit zu biotechnologisch begabten Echsenwesen weiterentwickelt haben. Ihre Begegnung mit einer wilden Menschheit und die unversöhnlichen Widersprüche zwischen den beiden intelligenten Spezies, die um Lebensraum kämpfen, sind eine faszinierende Variation prähistorischer Science Fiction. Die Romane sind straff und dicht erzählt und nehmen mit dem Heranrücken der Eiszeit, die neue Entbehrungen und Gefahren mit sich bringt, noch einmal deutlich an Dramatik zu.
Die meisten von Harrisons Einzelwerken sind ebenfalls interessant. Unter ihnen findet sich eine Reihe von Geschichten, die um das Roboterthema kreisen und in Die Roboter rebellieren (1962) versammelt sind; seine Auseinandersetzung mit dem Thema der Materieübertragung in Stationen im All (einer Sammlung miteinander verknüpfter Kurzgeschichten aus dem Jahre 1970); Der Daleth-Effekt (1970), ein Roman, in dem es um Antigravitation geht; Die Galaxis-Rangers (1973), eine Parodie auf E. E. Smith; Welt im Fels (1969), eine ungewöhnliche Generationenschiff-Geschichte, in der man für die Bewohner des Schiffs eine an die Azteken erinnernde Kultur und damit ein außerordentlich repressives Taschenuniversum geschaffen hat; Der große Tunnel (1972), ein Proto-Steampunk-Parallelweltroman, in dem die amerikanische Revolution gescheitert ist und das British Empire nach wie vor in voller Blüte steht; Stonehenge (1972) mit Leon E. Stover, in dem sich herausstellt, dass Stonehenge von einem Flüchtling aus Atlantis errichtet wurde; und Das Prometheus-Projekt (1976), ein äußerst ungewöhnlicher Katastrophenroman. Doch besser, wütender und schmerzhafter als die meisten dieser Bücher ist wohl sein bekanntester Einzelroman New York 1999 von 1966, ein ernsthaftes – geradezu leidenschaftlich ernsthaftes – und sorgfältig durchkonstruiertes Werk zum Thema Überbevölkerung, das im völlig überfüllten Damals-noch-Zukunfts-New-York des Jahres 1999 spielt. Auf diesem Roman basiert der Film Soylent Green (1973; dt. Jahr 2022 – Die überleben wollen), der, obwohl in ihm ein Großteil der Substanz des Buches verloren gegangen ist, den Nebula Award in der Kategorie Best Dramatic Presentation gewonnen hat.
Harrison lässt sich als Schriftsteller ebenso schwer fassen wie als Mensch. Es ist eigentlich kaum zu glauben, dass er einerseits knallharte Science-Fiction-Abenteuerromane verfasste und andererseits ihre Konventionen – und vor allem die in ihnen vertretenen politischen Haltungen – gnadenlos parodierte. Der Autor von New York 1999 ist eben auch der von Die Galaxis-Rangers, eine von zahlreichen Parodien, die damals etliche Leser lustiger fanden, als man es heute meinen würde. Während seiner langen Laufbahn war er gleichzeitig zutiefst amerikanisch und zutiefst expatriiert. Fünfzig Jahre lang blieb er aktiver Schriftsteller und ging es erst jenseits der achtzig etwas ruhiger an. Im Jahre 2004 nahm man ihn in die Science Fiction Hall of Fame auf. 2009 erhielt er den Grand Master Award der Science Fiction Writers of America.
Er starb einen sanften Tod, aber er legte dabei nicht die heitere Gelassenheit an den Tag, die man von alten Menschen gemeinhin erwartet. Diejenigen, die ihn in seinen letzten Wochen besuchten, sagen, dass seine typische Reaktion auf ihre Anwesenheit in einem brüchigen, glasigen, lüsternen Blick und einem Witz bestand. Bis zum Ende hat er seine Arbeit gemacht: Er ließ einer absurden Welt die ihr gebührende Achtung zukommen.
Entnommen aus Das Science Fiction Jahr 2013, Heyne Verlag, deutsch von Jakob Schmidt, mit freundlicher Genehmigung von John Clute