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Kapitel 3 • Der Thronfolger

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Die Denkbarkeit als Leitlinie hört sich einfach an und doch lässt sich ein Motiv für die Ermordung Mozarts außerordentlich schwer denken. Auf den ersten Blick ist es absolut nicht ersichtlich, welche Vorteile jemandem aus dem Tod eines Musikers erstehen könnten und ehrlich gesagt: auch nicht auf den zweiten Blick. Die Kenntnis der Hintergründe ist in dieser Hinsicht unerlässlich.

Anders steht es im Falle Leopolds. Für ein Attentat auf einen mit absoluter Macht ausgestatteten Monarchen fällt einem sofort eine ganze Reihe von Motiven ein. Wer an exponierter Stelle der Gesellschaft steht, lebt nun mal gefährlich. Das war damals so und ist heute so. Feinde gibt es für die Hochstehenden immer und jeder Herrscher muss ständig damit rechnen, dass einer dieser Feinde die Besinnung verliert und in einem unbewachten Augenblick zuschlägt. Außerdem droht stets das wohlbekannte Phänomen einer gewaltsamen Machtübernahme, sprich: eines Staatsstreichs.

Unsere erste Frage muss demnach lauten, ob der Thronfolger seine Hand im Spiel gehabt haben könnte. Bis jetzt hat man sie noch nicht gestellt, denn bereits die Frage verstößt gegen alle guten Sitten. Der Gedanke, dass ein habsburgischer Prinz den eigenen Vater umgebracht haben könnte um an die Macht zu gelangen, ist in hohem Maße tabuisiert. In der Tat gibt es auch wenig Anhaltspunkte für eine derartige Annahme. Damit soll nicht gesagt sein, dass Franz bedingungslos den höchsten Maßstäben der Ethik und Moral verpflichtet gewesen wäre. Vielmehr scheint er uns für eine gewaltsame Eroberung des Kaiserthrons nicht machthungrig genug gewesen zu sein. Aus den Beschreibungen seiner Person geht der mangelnde Ehrgeiz eindeutig hervor. Vor allem in den ersten Jahren seiner Regierung machte der junge Herrscher einen unsicheren Eindruck, als empfinde er es als Missgeschick, so früh schon an die Macht gelangt zu sein.

Ganz bezeichend für den fehlenden Ehrgeiz ist der Bericht vom Historiker Eduard Vehse im 9. Band seiner Geschichte des Östereichischen Hofs und Adels (1850er Jahre):

Bei dem plötzlichen Tode seines Vaters weigerte Franz sich aus Geschäftsscheu Anfangs entschieden, die Nachfolge anzutreten und erst am zweiten Tage gelang es seinem Beichtvater, dem nachmaligen Erzbischof von Wien, Grafen von Hohenwarth, seinen hartnäckigen Eigensinn mit der Vorstellung zu brechen: dass die Regierung ihm von Gott auferlegt sei und dass er in seinen Gewissen ruhig sein könne, wenn es in allen Dingen der Majorität in seinem Ministerrathe folge“.

Es spricht von selbst, dass dieser Graf Sigismund Anton von Hohenrat, der von 1792 bis 1803 auch Militärbischof von Österreich war, zu den Mitwissern am Attentat auf Leopold II. Gezählt werden muss.

Dazu sollte man bedenken, dass Franz als Heranwachsender kaum in die Lage versetzt worden war, seinen Charakter zu festigen. Weil schon bei seiner Geburt feststand, dass er einst den Kaiserthron erben würde, war seine Erziehung Chefsache. Geboren wurde er 1768 in Florenz als zweites Kind und ältester Sohn von Leopold und Maria Luisa. Das großherzogliche Paar gehörte zu den fürsorglichsten Eltern der Welt und nahm die Erziehung der Kinder überaus ernst. Großmutter Maria Theresia, Kaiserin, und Onkel Joseph, Kaiser, erhoben jedoch ebenfalls Ansprüche auf die Erziehung des „Kaiserlehrlings“. Die dynastiebewusste Maria Theresia und ihr Sohn Joseph, der nach dem Verlust seiner einzigen Tochter kinderlos geblieben war, stürzten sich mit unverhohlenem Eifer auf die Erziehung des nicht sonderlich alerten Kindes. Wandruszka, der Biograph des Vaters Leopold, spricht sogar von Erziehungsfanatismus.

Wenn die drei oder vier Erziehungsberechtigten wenigstens gleicher Meinung gewesen wären, wäre der Schaden sicher begrenzt geblieben. Die gesellschaftlichen Vorstellungen von Großmutter, Onkel und Eltern wichen aber stark von einander ab. Auch die psychologischen Methoden, mit denen auf die Kinderseele eingewirkt wurde, waren nicht einheitlich. Seltsamerweise scheinen sich bei Franz die Auffassungen jener Bezugsperson, die am weitesten von ihm entfernt war, am meisten durchgesetzt zu haben. Sein späterer Regierungsstil zeigt eine auffallende Verwandtschaft mit dem leutseligen und doch durch und durch autoritären Stil der Großmutter. Mehr noch: sein ganzes späteres Bestreben schien darin zu bestehen, die Uhr zurückzudrehen und die Epoche Maria Theresias wieder auferstehen zu lassen. Für die Reformen des Onkels hatte Franz nichts übrig, noch viel weniger für die gesellschaftlichen Visionen des eigenen Vaters.

Vielleicht wundert man sich darüber, dass Maria Theresia einen so großen Einfluss auf ihren Enkel ausüben konnte. Schließlich starb sie, als Franz erst zwölf Jahre alt war. Außerdem war der geographische Abstand zwischen Wien und Florenz in Anbetracht der damaligen Verkehrsmittel so gravierend, dass von einem kontinuierlichen Einfluss auf die Erziehung nicht die Rede sein konnte. Wer sich aber mit der Person der Kaiserin befasst, wird bald entdecken, dass sie hervorragend mit den Beschränkungen ihrer Zeit umgehen konnte und dass es keine geographischen Hindernisse für die Durchsetzung ihrer persönlichen Ziele gab. Sie war eine Großmeisterin im Delegieren. Ihr Einfluss reichte buchstäblich bis ins Kinderzimmer ihres Enkelkindes und zwar rund um die Uhr. Die beiden „Ajos“, die Kindererzieher des Thronfolgers, waren ihr treu ergeben und unternahmen nichts, was nicht im Sinne ihrer Majestät gewesen wäre. Vor allem in der Person von Franz Colloredo-Waldsee konnte sie sich einen über den eigenen Tod hinaus bleibenden Einfluss auf den Kronprinzen sichern. Dieser Ajo, ein etwas finsterer Jesuit, war Neffe ihres Vizereichs kanzlers Rudolf Joseph Fürst von Colloredo-Mansfeld, eines Feudalherrn wie aus dem Bilderbuch.

Wie sehr Franz an seinem Erzieher hing, geht schon daraus hervor, dass er ihn nach seinem Amtsantritt zum engsten Berater ernannte und als „geheimen Kabinettsminister“ an die Spitze der Kabinettskanzlei stellte. Diese Kanzlei wurde zum obersten Regierungs- und Beratungsorgan des unsicheren Herrschers aufgewertet. Bis zu seiner Entlassung im Jahre 1805 blieb Franz Colloredo die Schlüsselfigur im Zentrum der Macht. Charakteristisch für ihn war, dass er sich trotz seiner Stellung niemals in den Vordergrund drängte. Der Nachwelt blieb er völlig unbekannt, fast unsichtbar.

Es spricht für sich selbst, dass Graf Colloredo und Lagusius sich sehr gut gekannt haben müssen. Sie hatten sich Jahrzehnte lang im selben Haushalt aufgehalten, wo sie viel, sehr viel Zeit hatten, sich mit einander zu unterhalten. Theoretisch wäre es sogar denkbar, dass die beiden Männer auf eigene Faust einen Griff nach der Macht unternommen und das Attentat auf ihren obersten Herrn geplant hätten. Aber nein, eine solche Variante wollen wir gar nicht in Erwägung ziehen: ein Kinderzimmer, das zur Kommandozentrale einer europäischen Großmacht wird! Gleichwohl, was immer Colloredo und Lagusius auch für Pläne geschmiedet haben, man darf vermuten, dass sie fortwährend in engster Tuchfühlung mit dem Thronfolger gestanden haben.

Damit sind wir wieder bei Franz und bei dem Problem, dass man sich ihn nicht als machthungrigen Vatermörder vorstellen kann. Wenn der Kronprinz wenigstens ein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater gehabt hätte, wäre es leichter, ein Szenario auszudenken, in dem der Sohn gegen den übermächtigen Vater rebelliert und dabei dessen Leibarzt zur Mordwaffe instrumentalisiert hätte. Aber davon kann gar keine Rede sein. Die Beziehung zwischen Leopold und Franz war ausgesprochen herzlich. Der Kaiser hielt bis zu seinem Tod große Stücke auf seinen Ältesten und bezog ihn, wo er nur konnte, in die Regierungsgeschäfte mit ein. Wenn er auf Reisen ging, ernannte er Franz zu seinem Stellvertreter und hin und wieder beauftragte er ihn mit ausgesprochen heiklen Aufträgen, wie zum Beispiel mit der geheimen Aktion unter dem Decknamen „Babel“, von der später noch die Rede sein wird. Allerdings ist klar, dass er sich dabei arg in der politischen Einstellung des Thronfolgers verschätzte. Leopold mag vielleicht ein scharfsinniger Beobachter gewesen sein, den eigenen Sohn hat er schlecht gekannt.

Wie weit die Welten von Vater und Sohn auseinander klafften, zeigt sich auf eindrucksvolle Weise im Regierungsstil des neuen Herrschers, der eine radikale Abrechnung mit den Zielen des Vorgängers bedeutete. Von einem Tag auf den anderen gab es eine scharfe Kehrtwendung in der Politik Österreichs, einen Rechtsruck, wie er nicht nachhaltiger hätte ausfallen können. Nicht nur die Politik des Vaters, auch seine Privatsphäre wurde vom Sohn demontiert. Eigenhändig soll Franz die Briefe Leopolds verbrannt haben, wie es heißt in größter Eile. Die schöne Römerin Livia Raimondi, Geliebte des Vaters, wurde vom ihrem – außerehelichen – Sohn Luigi getrennt und zurück nach Florenz geschickt. Bis dahin hatte sie einträchtig mit der Kaiserin in der Hofburg gelebt, aber Maria Luisa starb wenige Monate nach ihrem Mann und konnte somit nicht länger ihre schützende Hand über die Nebenbuhlerin halten. Livia sah ihren Sohn nie wieder, denn, was vielleicht voraus zu sehen war, Luigi ist in Wien nicht sehr alt geworden.

Die Abwendung von den Zielen des Vaters und das Totschweigen von dessen Leben und Wirken werfen kein günstiges Licht auf die Integrität des neuen Kaisers. Jedenfalls sind derartige Eigenschaften nicht geeignet, unseren Verdacht gegen Franz völlig aus dem Weg zu räumen. Was für einen Charakter hatte dieser Mann? Steckte in ihm nicht doch ein heimlicher Vatermörder? Wie hielt er es mit Moral und Gesetz? Vom Vater Leopold hatte er gelernt, dass jedermann vor dem Gesetz gleich sein sollte, auch der Kaiser selbst, ja gerade er. Wie kein anderer solle der Monarch dem Gesetz verpflichtet sein, denn auf seinen Schultern ruhe die Verantwortung für die Rechtsstaatlichkeit des Reiches.

Die Großmutter jedoch hatte andere Ansichten. Nach der Auffassung Maria Theresias stand der Monarch über dem Gesetz und demnach auch über der Moral. Der Absolutismus verlieh dem Herrscher unbeschränkte Vollmacht über die Gesetze, mittels deren das Volk zur Ordnung angehalten werden sollte. Er personifizierte selbst das Recht und konnte deshalb nicht gegen das Recht verstoßen.

Allerdings kannte Maria Theresia auch Pflichten, die sie für sich gelten ließ. Ihre oberste Pflicht bestand darin, die Dynastie zu erhalten und zu diesem Zweck alle Gefühle, die normale Sterbliche haben dürfen, unerbittlich zu unterdrücken. Jedes Mitglied der Dynastie war streng verpflichtet, auf Privatglück zu verzichten, wenn es darum ging, die Herrschaft zu sichern oder das Staatsgebiet zu vergrößern. Für die Familienmitglieder gab es selbstverständlich keinen Anspruch auf Eheglück, aber das war noch das wenigste. Auch das individuelle Leben war im Ernstfall nicht von Bedeutung gegenüber den Interessen der Dynastie. Auch für Kaiser Franz war die Sicherung der Dynastie höchstes Ziel, das alle Mittel zu heiligen schien, sogar das Mittel des Opfers eines Familienmitglieds. Am deutlichsten trat diese Eigenschaft hervor, als Franz die eigene Tochter dem Erzfeind Napoleon zur Frau gab. Weniger deutlich ist seine Rolle beim Tod seines Vaters oder seines Enkels, des Königs von Rom. Fürs erste wollen wir wissen, ob er dem Leibarzt seines Vaters den Auftrag gegeben haben könnte, den eigenen Dienstherrn mit medizinischen Mitteln umzubringen. Denn unsere Arbeitshypothese ist ja, dass Lagusius Leopold absichtlich die falsche Behandlung verabreicht hat, als dieser keineswegs lebensgefährlich erkrankt war.

Wenn diese Hypothese stimmt, muss es einen Auftrag, sprich Befehl gegeben haben. Weil Lagusius jedoch ausschließlich seinem Kaiser zu gehorchen hatte, kann es sich nur um einen subversiven Befehl gehandelt haben. Derjenige, der diesen subversiven Befehl erteilt hat, muss wohl ein sehr mächtiger Mann gewesen sein, von denen es neben dem Kaiser sehr wenige im österreichischen Staate gab. In der Praxis hatte der Kronprinz bereits die auf dem Papier zweitmächtigste Person des Reiches, Staatskanzler Fürst Kaunitz-Rietberg, auf den dritten Platz verwiesen. Aber obwohl Franz viel Einfluss hatte, erscheint es doch nicht plausibel, dass er mächtig genug war, dem langjährigen Arzt des durch Gottes Gnaden regierenden Kaisers den Befehl zu erteilen, den eigenen Chef umzubringen. Niemals hätte der junge Mann sich mit einer solchen Initiative hervorwagen können, dafür war seine Position einerseits zu erhaben, andererseits zu abhängig von der älteren Generation.

Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass der Kronprinz von den Absichten des Arztes gar nichts gewusst hat. Der tatsächliche Anstifter des Kaisermordes muss zumindest gewusst haben, dass der Thronfolger nach dem gelungenen Attentat nichts unternehmen würde, die Drahtzieher gerichtlich zu verfolgen und für die Tat zu bestrafen. Auch muss er gewusst haben, dass der neue Kaiser nicht die Politik seines Vaters fortsetzen würde, sonst hätte das Attentat keinen Sinn gehabt.

Es ist auffällig, dass unmittelbar nach der Tat der Krieg mit dem revolutionären Frankreich, dem Leopold sich mit Zähigkeit widersetzt hatte, mit voller Wucht ausbrach. Zufall? Wie auch immer, für den Augenblick wollen wir lediglich festhalten, dass Franz nicht der Urheber eines Mordbefehls gegen den eigenen Vater gewesen sein kann. Im Gegenteil: wenn es, wie wir glauben, tatsächlich ein Attentat auf den Kaiser gegeben hat, werden unsere mutmaßlichen Mörder alles versucht haben, den Kronprinzen zwar für ihre Ziele zu gewinnen, ihn jedoch zugleich von aller direkten Verantwortung freizuhalten. Auf keinen Fall durfte das Gewissen des neuen Kaisers durch ein Verbrechen belastet werden. Für die Planung und Durchführung schmutziger Geschäfte standen andere Leute bereit. Der Thronfolger sollte lediglich im kritischen Augenblick wegschauen, mehr konnte man von ihm nicht verlangen.

Aber bevor die Suche nach eben diesen Tätern losgeht, sollten wir zuerst das Opfer besser kennen lernen. Wer war Leopold und warum musste er sterben?

Das Wunder Mozart

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