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Kapitel 4 • Pietro Leopoldo

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Als Leopold am 5. Mai 1747 geboren wurde, war die alteuropäische Feudalgesellschaft noch völlig intakt. Wie überall in Europa lagen auch in Österreich politische Macht und nahezu aller Besitz in Händen der erblichen Aristokratie, an derer Spitze seine Eltern, die habsburgische Monarchin Maria Theresia und ihr Mann, Franz Stephan, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, standen. Die Vormachtstellung des Adels war ungebrochen und keine Gewalt war in Sicht, die den Feudalherren auch nur eines ihrer zahlreichen Privilegien streitig machen wollte. Die damaligen Kriege, wie der gerade laufende Schlesische mit Preußen, waren ja im Grunde nichts anderes als Familienfehden innerhalb des europäischen Hochadels.

Es gab jedoch eine unsichtbare Macht, die für die herrschende Klasse zu einer ebenso konkreten Gefahr zu werden drohte wie die greifbare Waffengewalt. Zu Zeiten der Geburt Leopolds begann die Aufklärung zu wirken, die in den nächsten Jahrzehnten zu einer bedeutenden Geistesströmung anwuchs. Der Philosoph Immanuel Kant nannte dieses unsichtbare Phänomen in einem im Dezember 1783 erschienenen Aufsatz den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, aber mit dieser Umschreibung wird nur ein Teil der Strömung definiert. Die Aufklärung war weit mehr als eine Emanzipation der Vernunftbegabten; sie führte zu Veränderungen von Gefühlen, Stimmungen und Mentalitäten, die bis heute Spuren hinterlassen haben. Eine ständige Begleiterscheinung der Aufklärung war der idealistische Geist der Epoche, der vom beispiellosen Höhenflug der abendländischen Kultur profitierte und in den Jahrtausendmaximen der nordamerikanischen Verfassung und der Französischen Revolution ihre politischen Höhepunkte erreichen sollte. Aber auch der unglaubliche musikalische Reichtum wäre ohne diese Idealität niemals zustande gekommen. Im Grunde sind die großen Werke der Wiener Klassik nichts anderes als der Entwurf einer besseren Welt außerhalb und innerhalb der sichtbaren Welt und somit das Konzept eines Ideals. Diese musikalische Idealwelt war im Gegensatz zu dem, was sie heute geworden ist, keineswegs unpolitisch. Die gesellschaftliche Wirkung der Musik auf die damaligen Geister kann kaum überschätzt werden, zumal ihre Funken mühelos alle zwischenmenschlichen Barrieren übersprangen. Harte Feudalherren konnten ebenso in den Bann der Musik geraten wie ihre geringsten Untertanen. Der um sich greifende Enthusiasmus für die Musik entwickelte sich im Goldenen Jahrzehnt der Wiener Klassik zu einem ernstzunehmenden politischen Faktor.

Leopold, siebentes Kind und dritter Sohn Maria Theresias, gehörte allerdings nicht zu denjenigen, die der Musik restlos verfallen waren. Obwohl er gründlich im Cembalospiel und in der Harmonielehre unterrichtet wurde, gibt es in seiner Biographie nirgendwo Anzeichen von auffallender musikalischer Begabung. Das soll nicht heißen, dass er der Musik ablehnend gegenüber stand oder seinem Schicksalsgenossen Mozart feindlich gesonnen war. Anlässlich der letzten großen Zeremonie seines Lebens, seiner Krönung zum böhmischen König im September 1791, war Mozarts Musik Hauptbestandteil der Festivitäten, sowohl in der Kirche als auch auf der Theaterbühne.

Trotz dieser unleugbaren Wertschätzung für die Person Mozarts war es gewiss nicht nur die Musik, die Leopold mit seinem großen Zeitgenossen verband. Was Kaiser und Komponist vor allem mit einander teilten, war ihre Fähigkeit, Ideale in die Praxis umzusetzen. Denn auch Leopold war ein Idealist. Unermüdlich und mit größter Effektivität arbeitete er an der Verwirklichung gesellschaftlicher Ideale, die eine Ergänzung der Klangideale des Salzburger Meisters bildeten. Wären die beiden Männer nur zwei Jahre später gestorben, unsere Welt wäre bei weitem nicht so, wie sie heute ist.

Leopolds Idealismus ist von der Nachwelt kaum gewürdigt worden. Das liegt nicht daran, dass er nicht erkannt worden wäre. Leopolds Lebenswerk, vor allem sein Wirkungskreis in der Toskana, ist den Historikern hinreichend bekannt. Bis zum Erscheinen von Wandruskas Leopoldbiographie 1963-65 hielt die Geschichtsschreibung sich bezüglich dieses Themas jedoch auffallend zurück. Fast könnte man denken, Idealismus sei in ihren Augen entweder etwas verächtliches oder die normalste Sache der Welt, insbesondere an den Fürstenhöfen des achtzehnten Jahrhunderts. Ein Blick in die Geschichte lehrt uns aber das Gegenteil. Über die Monarchen der Vergangenheit lässt sich vieles behaupten, nur nicht dass sie von übermäßigem Eifer für Ideale befallen gewesen wären.

Auch Maria Theresia und ihr Mann Franz Stephan waren Pragmatiker und keine Idealisten. Die permanent schwangere Kaiserin war mit den Regierungsgeschäften, insbesondere mit der Kriegführung gegen Preußen, vollauf beschäftigt. Franz Stephan war ein Finanzgenie ersten Ranges und kannte in dieser Hinsicht keine Skrupel. So war er zwar Regent der Toskana, hat jedoch sein Herrschaftsgebiet nie besucht. Für ihn war die einstmals blühende Provinz lediglich ein Gebiet, aus dem man Geld pressen konnte. Umso erstaunlicher ist es, dass nicht weniger als drei der Söhne dieses unidealistischen Paares vom Geist der Aufklärung infiziert wurden. Für die Sprösslinge der Adelsfamilien war eine gründliche intellektuelle Schulung alles andere als selbstverständlich. Oft genug wurden Prinzen und Prinzessinnen als Analphabeten erzogen, wie zum Beispiel am bourbonischen Hof in Madrid. Maria Theresia und Franz Stephan legten jedoch großen Wert auf eine gediegene Ausbildung ihrer Kinder und holten sich ausgezeichnete Erzieher und Lehrer ins Haus. Vor allem für die drei ältesten Söhne, Joseph, Karl und Leopold, wurde ein hartes und vielseitiges Lehrprogramm entworfen, denn diese galten als zukünftige Herrscher. Joseph sollte über die Donaumonarchie, Karl über die Toskana und Leopold über die Lombardei herrschen.

Nicht die Eltern selbst waren die Initiatoren dieses Lehrprogramms, sondern ihre Ratgeber und engsten Mitarbeiter. An deren Spitze stand Maria Theresias Lieblingsberater Wenzel Anton Kaunitz-Rietberg. Dieser junge und hoch gebildete Graf hatte während seiner Studienreisen in den Niederlanden den Vorteil geistiger Aufgeschlossenheit und gesellschaftlicher Progressivität kennen gelernt. In der Universitätsstadt Leiden hatte er Freundschaft mit dem Medizinstudenten Gerhard van Swieten geschlossen, einem Schüler des großen Gelehrten Hermann Boerhaave. Kaunitz konnte diesen katholischen Baron, der sich im protestantischen Umfeld nicht wohl fühlte, für den Hofdienst in Wien gewinnen. Van Swieten wurde zum Leibarzt Maria Theresias berufen. Bis zu seinem Tod 1772 diente er der Kaiserin und war mit ihr und ihrer Familie freundschaftlich verbunden.

Weil Kaunitz und van Swieten zum engsten Beraterkreis der Monarchin gehörten, übten sie einen großen Einfluss auf die Staatsgeschäfte aus. Kaunitz gilt als früher Vertreter der Aufklärung, als derjenige, der den Geist der Erneuerung nach Wien brachte. Van Swieten wurde mit der Reorganisation des Gesundheitswesens und der Universitäten beauftragt. Er leitete mit seinem Schülerkreis die ersten Erneuerungen der Krankenhäuser ein, die Wien später zu einem Weltzentrum der Medizin machten.

So innovativ und dynamisch die beiden Herren auch waren, ihre Fortschrittlichkeit hielt sich in klar definierten Grenzen. Niemals hätten sie die bestehende Gesellschaftsstruktur in Frage gestellt, dazu gehörten sie selbst zu sehr zum System. Kaunitz war ein Aristokrat wie aus dem Bilderbuch, und auch van Swieten war kein Gesellschaftserneuerer, der die Vormachtstellung des Adels einschränken wollte. Das Lieblingsthema des Barons war die Religion. Er war erklärter Anhänger des so genannten Jansenismus, einer Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche, die auf der Lehre von Augustinus basiert. Als van Swieten 1745 nach Wien berufen wurde, stand Maria Theresia gerade unter starkem Einfluss der Jesuiten. Jansenisten verhalten sich jedoch zu Jesuiten wie Wasser zum Feuer. Van Swieten fing sofort an, die Jesuiten zu bekämpfen und sie aus der Nähe der Kaiserin zu vertreiben. Es gelang ihm tatsächlich, ihren Einfluss auf die Monarchin zu brechen, aber gänzlich löschen konnte er Maria Theresias Jesuitenliebe nicht.

Kaunitz und van Swieten prägten die Atmosphäre am Wiener Hof, wo die österreichischen Prinzen, Erzherzöge genannt, aufwuchsen. Die Spuren dieses Einflusses sind zahlreich. Nicht von ungefähr wurde Leopold zum bekennenden Jansenisten und Jesuitengegner. Trotzdem vermochte er sich nicht der Anordnung seiner Mutter zu widersetzen, seinen eigenen Sohn Franz von Jesuiten erziehen zu lassen.

Die folgenschwerste Einflussnahme auf die Erziehung der drei ältesten Erzherzöge Joseph, Karl und Leopold war die Auswahl ihrer Lehrer. Für den gesamten Adelsstand bedeutete sie nichts weniger als das Hereinholen eines Trojanischen Pferdes. Unversehens geriet Kaunitz in die Lage des sprichwörtlichen Zauberlehrlings und weckte Kräfte, die er nicht mehr zu zügeln imstande war. Über den Einfluss der Lehrer auf Karl können wir nichts sagen, da dieser mit sechzehn Jahren an den Pocken starb. Dafür aber haben sowohl Joseph als auch Leopold die Lehre ihrer Erzieher doppelt und dreifach vertreten. Beide haben sich zu radikalen Reformern entwickelt, allerdings unter verschiedenen Vorzeichen. Josephs Reformen waren spektakulär, aber keine wirkliche Bedrohung für das Gesellschaftssystem. Zwar hat er während seiner zehnjährigen Alleinherrschaft viele Adelsprivilegien abgeschafft und Hunderte von Klöstern schließen lassen, aber im Grunde war er ein Despot und somit Teil des damaligen Systems. Zudem liebte er das Militär und wurde, bevor er zur Alleinherrschaft gelangte, als Reformer fünfzehn Jahre lang von der Mutter ausgebremst.

Im Gegensatz zu Josephs Reformen richteten die Maßnahmen des jüngeren Bruders sich gegen das System selbst. Der von Jacques Sauboin und dem Belgier Jean Brasseur ausgebildete Leopold setzte auf Überzeugungskraft statt Autokratie und auf Beharrlichkeit statt Überrumpelung. Er pflegte seine Reformen gründlich vorzubereiten und ließ ihnen Erprobungsphasen vorangehen. Nicht selten nahm er sie vorübergehend zurück oder entschärfte sie, wenn ihre Akzeptanz hinter den Erwartungen zurückblieb.

Bekanntlich ist Behutsamkeit eine Eigenschaft, die leicht missverstanden wird. Leopolds Gewohnheit, einen Schritt rückwärts und zwei Schritte vorwärts zu gehen, hat ihm bis heute den Ruf eingebracht, schwammig unentschlossen, ja sogar reaktionär gewesen zu sein. In Wirklichkeit jedoch waren seine Ziele glasklar und für jeden leicht verständlich. Er hat niemandem vorenthalten, dass er in seinem Herrschaftsgebiet nur einen Unterschied gelten lassen wollte, nämlich den zwischen Mann und Frau. Sein erklärtes Ziel war die Abschaffung aller gesellschaftlichen Stände und die Herstellung völliger Rechts- und Chancengleichheit für alle. Der Weg zu diesem Ziel war in Stufen eingeteilt. Die letzte und höchste Stufe war die Abschaffung der Monarchie oder deren Einbindung in die Verfassung. Er war tatsächlich der erste konstitutionell gesonnene Monarch der abendländischen Geschichte, mehr noch: er war der einzige Demokrat, der je einen Kaiserthron bestieg.

Zu seinem Bruder Joseph hatte Leopold zeitlebens eine zwiespältige Beziehung. Die beiden Brüder standen in einer engen Verbindung, die nach außen hin freundschaftlich aussah, hinter der Fassade aber manchen Riss aufwies. Leopold hatte dem ranghöheren Joseph zu gehorchen, was er auch immer tat, allerdings oft mit Widerwillen. Auch Joseph war nicht frei von Rankünen gegenüber dem Bruder, den er wie keinen zweiten Menschen auf der Welt respektierte, aber zugleich um den Erfolg und das Familienglück beneidete.

Ein ganz und gar eigentümlicher Aspekt in Leopolds Biographie besteht darin, dass seine gesellschaftlichen Auffassungen keine lange Entwicklung brauchten, sondern unmittelbar nach dem Erreichen der Volljährigkeit zur Geltung kamen. In Gegensatz zu Joseph bekam Leopold relativ früh die Gelegenheit, seine Ideen in die Praxis umzusetzen. Nach dem Tod des Vaters im Jahre 1765 war ihm dessen toskanisches Herrschaftsgebiet zugefallen. Ursprünglich war Leopolds älterer Bruder Karl als Großherzog der Toskana und er selbst als Gouverneur der Lombardei vorgesehen gewesen, aber nach dem Tode Karls war Leopold an dessen Stelle und der viel jüngere Ferdinand an Leopolds Stelle gerückt.

So trat Leopold bereits als 18-Jähriger die Regentschaft in der Toskana an. Im Gegensatz zu seinem Vater wollte er die traditionsreiche Provinz nicht von Wien aus regieren, sondern verlegte seine Residenz in die toskanische Hauptstadt. Bis zu seiner Thronbesteigung 25 Jahre später hat er Florenz nur für Dienstreisen und Familienbesuche verlassen. Auch legte er großen Wert auf das Erlernen der Landessprache, die er nach kurzer Zeit perfekt beherrschte.

Noch vor Antritt seiner Regierung trat Leopold in den Ehestand. Seine Braut war die spanische Prinzessin Maria Luisa von Bourbon. Die Verhandlungen mit dem spanischen König über die Vermählung der Infantin wurden vom österreichischen Gesandten in Madrid, Franz Xaver Wolf Graf Orsini-Rosenberg, geführt. Diesem fiel auch die Ehre zu, Leopolds Braut von Madrid zur Hochzeit nach Innsbruck zu geleiten. Der zu diesem Zeitpunkt 42- ährige Diplomat, der dem Kärntner Zweig einer bekannten Adelsfamilie entstammte, verdient hinsichtlich der Biographie Mozarts unser höchstes Interesse, wie übrigens auch Kaunitz und van Swietens Sohn Gottfried.

Ein halbes Jahr nach Leopolds Einzug in den Palazzo Pitti wurde Franz- Xaver Orsini-Rosenberg von Maria Theresia zum ersten Minister der Toskana und engen Berater des jungen Paares eingesetzt. Diese Anstellung war einerseits als Hilfestellung für den unerfahrenen Herrscher gedacht, in dessen Alleinregierung die Mutter wenig Vertrauen setzte. Andererseits gab sie der Monarchin eine Möglichkeit zur Kontrolle ihres Sohnes. Orsini-Rosenberg genoss das volle Vertrauen Maria Theresias und war gehalten, geheime Berichteüber den neuen Großherzog zu verfassen.

Leopold fasste seinerseits Vertrauen zu seinem Berater, der über eine regelrechte Begabung verfügt zu haben scheint, das Vertrauen anderer zu gewinnen. Leopold weihte seinen ersten Minister in seine geheimsten Pläne ein und bereitete gemeinsam mit ihm die ersten Reformen vor. Nach vier Jahren konnte Orsini-Rosenberg der Kaiserin melden, dass ihr Sohn keine Bevormundung mehr nötig habe und riet ihr, ihn allein regieren zu lassen. Im Jahre 1770 zog der Graf von Florenz nach Mailand, wo Leopolds jüngerer Bruder Ferdinand mit den Regierungsgeschäften vertraut gemacht werden sollte.

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