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Kapitel 6 • Joseph
ОглавлениеDer Hauptgrund für das enttäuschende Resultat der Regierung Josephs muss in dessen widersprüchlichem Charakter gesucht werden. Als echtes Kind der Aufklärung war Joseph jeder Erneuerung aufgeschlossen und auch geneigt, jedes Vorurteil in seine Schranken zu verweisen. Was dies betrifft, hätte er für Leopold der ideale Partner in dessen gesellschaftlichem Bestreben werden können. Durch eine Zusammenarbeit der beiden Brüder wäre in Zentral-Europa ein Reich entstanden, das, was seinen fortschrittlichen Geist betrifft, dem revolutionären Frankreich in keiner Weise nachgestanden hätte. Es scheint jedoch, dass Joseph zu Zusammenarbeit nicht fähig war, niemals auf andere hören konnte und alles allein machen wollte. Beim Austeilen seiner Befehle und Anordnungen ging er oft rabiat und verletzend vor und nahm keine Rücksicht auf irgendwelche Gefühle, außer auf die seiner Marschälle. Auch die Gefühle seines Bruders Leopold und die Mozarts hat er schwer und nachhaltig verletzt, obwohl er beide bewundert, ja vielleicht sogar geliebt hat.
Leicht könnte man meinen, dass die Rücksichtslosigkeit Josephs auf Sturheit oder Unaufmerksamkeit zurückzuführen sei. Der Kaiser verfügte jedoch über einen scharfen Verstand und eine gnadenlose Beobachtungsgabe, sodass die Vermutung gerechtfertigt scheint, es sei ihm ein Bedürfnis gewesen, den Mitmenschen weh zu tun, auch und gerade dann, wenn er sie bewunderte. Es wäre zu einfach, ein solches Bedürfnis schlicht mit einer Neigung zu Sadismus oder einem latenten Minderwertigkeitskomplex zu erklären. Die wirklichen Gründe für Josephs Verletzungstrieb lagen tiefer. Die Sucht, andere und somit sich selbst zu verletzen, eine eigentümliche Variante von Selbsthass und Selbstzerstörungswut, war die eigentliche Ursache sowohl für den eigenen Untergang als auch für den politischen Trümmerhaufen, den Joseph bei seinem Tod hinterließ. Die zwanghafte Neigung, jedes menschliche Wesen verletzen zu wollen mit Ausnahme von hohen Militärs und ihren Ehefrauen, lässt sich auf eine eigene Verletzung zurückführen, auf eine schwere Wunde, die niemand heilen konnte.
Dazu muss man wissen, dass Joseph über eine Eigenschaft verfügte, mit der alle Sprösslinge der habsburgischen Dynastie reichlich gesegnet waren (abgesehen denn vom armen Maximilian nach seinem Sturz vom Pferd). Josephs Kindheit am kaiserlichen Hof war allerdings nicht danach beschaffen, seine extreme Sinnlichkeit und sein starkes Bedürfnis nach menschlicher Wärme und körperlicher Nähe ausreichend zu befriedigen. Die Erzherzöge und Erzherzoginnen wurden sofort nach ihrer Geburt dem Personal übergeben, das strenge Instruktionen hatte, keine enge Beziehung des hochgeborenen Zöglings zu sich aufkommen zu lassen.
Über die Zerstörungen, die ein solches Klima im Gemüt der Erzherzöge anrichtete, können wir nur mutmaßen. Nicht jedes Kind reagiert auf gleiche Art, aber es scheint wohl so zu sein, dass Joseph eine hochempfindliche Natur hatte, der die körperfremde und auch sonst harte Erziehung schlecht bekam. Dennoch schien sich alles zum Guten zu wenden, als er ins heiratsfähige Alter kam. Seine Braut war Isabella von Parma, eine Enkelin Ludwigs XV. Durch diese Heirat wollte Maria Theresia die jahrhundertlange Feindschaft zwischen den Habsburgern und Bourbonen in eine dauerhafte Allianz verwandeln. Eine Liebesheirat war demnach nicht geplant. Durch eine Fügung des Schicksals verliebte der 18-jährige Joseph sich jedoch bis über die Ohren in die eigene Frau, die er vor der Hochzeit im Oktober 1760 nie gesehen hatte. Isabella war ja auch ein ganz besonderes Geschöpf. Aus allen Zeugnissen geht hervor, dass sie schön war und ein freundliches, bescheidenes und äußerst zart besaitetes Naturell besaß. In den Augen Josephs war sie rundweg vollkommen.
Isabella hatte allerdings einen Makel, von dem Joseph nichts wusste. Eigentlich darf man es keinen Makel nennen, aber aus der Sicht eines liebenden Ehemannes und Thronfolgers, der aus Staatsräson Nachkommenschaft zu produzieren hatte, war die lesbische Veranlagung der designierten Kaiserin sehr wohl ein persönliches Leid und ein politisches Risiko. Isabella erzählte ihrem Mann nichts von ihrer gleichgeschlechtlichen Leidenschaft und bemühte sich sehr, eine tadellose Ehefrau zu sein, auch im Ehebett.
Genauso wenig verriet sie Joseph, dass sie sich in seine Schwester Marie Christine verliebt hatte. Diese charismatische junge Frau, Maria Theresias Lieblingstochter, stand vom Alter her in der Mitte der habsburgischen Geschwisterschar und auch sonst gerne im Mittelpunkt. Marie Christine genoss die Zuneigung ihrer Schwägerin in vollen Zügen und erwiderte Isabellas Gefühle mit entsprechender Leidenschaft und Intensität. Die beiden Prinzessinnen schrieben sich tagtäglich Liebesbriefe, von denen ein Teil erhalten geblieben ist. Aus diesen Briefen geht hervor, dass die zarte Frau schwer unter dem exzessiven Sexualtrieb ihres Mannes litt, der bei der Wahrnehmung seiner Ehepflichten keine Pausentage einzulegen pflegte.
Der Konflikt zwischen der Loyalität zu ihrem Ehemann und der heftigen Leidenschaft für ihre Schwägerin zerrieb Isabella innerlich. Sie sah keinen Ausweg aus ihrem Dilemma und sehnte sich immer stärker nach dem Tod, sogar noch nach der Geburt eines Töchterchens, das auf den Namen Maria Theresia getauft wurde. Zum Schluss flehte sie Gott an, sie bald in den Himmel aufzunehmen, „da alles, was sie auf Erden sieht, wenn sie die Augen aufschlägt, eine Beleidigung für den Schöpfer ist“.
Angesichts dieser Todessehnsucht erstaunt es nicht, dass sie beim Ausbruch der großen Pockenepidemie von 1763 der Krankheit keine Widerstandskräfte entgegen zu setzen hatte und ihr als eine der Ersten zum Opfer fiel. Der plötzliche Tod der geliebten Frau traf Joseph völlig unvorbereitet und riss ihn in eine Apathie, die man heute als akuten Schockzustand beschreiben würde. Der Kronprinz war wie gelähmt und verfiel bei seiner Trauer in eine anhaltende Lethargie, die der Familie große Sorgen bereitete. Da man das Krankheitsbild eines Schocks nicht kannte und demnach keine psychologische oder medizinische Betreuung für solche Fälle anbieten konnte, suchten die Eltern und Geschwister nach anderen Mitteln um den angeschlagenen Joseph wieder auf die Beine zu bringen.
Vier Monate nach Isabellas Tod, noch in voller Trauer über den Verlust der geliebten Frau, fuhr Joseph mit seinem Vater nach Frankfurt, um sich dort zum Römischen Kaiser wählen zu lassen. Unmittelbar nach dieser Zeremonie, bei der der junge Goethe Zeuge war, schrieb er seiner Mutter: „Mit meiner Trauer bin ich jedermann zur Last, ich muss daher alles in mich hinabwürgen und mich den ganzen Tag hindurch verstellen“.
In dieser Situation kam Marie Christine, wie wir aus den Memoiren der hofnahen Karoline Pichler entnehmen, auf die unselige Idee, ihren Bruder über die sexuelle Veranlagung seiner gestorbenen Frau aufzuklären und ihm als Beweis die an sie geschriebenen Liebesbriefe Isabellas vorzulegen (ihre eigenen an Isabella waren ohnehin schon von Joseph konfisziert worden). Vielleicht wollte sie Joseph wieder auf die Erde zurückbringen und insbesondere den Glanz seiner verstorbenen Abgöttin mindern, aber es ist ebenso gut möglich, dass sie sich an ihrem ehemaligen Nebenbuhler rächen wollte. Sehr zimperlich sind die habsburgischen Geschwister nicht mit einander umgegangen.
Die Folgen ihrer Aufklärungstat waren verheerend. Äußerlich gesehen schien Marie Christine ihr Ziel erreicht zu haben. Tatsächlich kehrte Josephs Vitalität zurück. Neues Leben fuhr ihm in die Glieder, aber was für eins! Sein Inneres glich fortan einem Trümmerhaufen, seine ethisch-moralischen Vorstellungen waren zerbrochen und von der Liebesfähigkeit, mit der er einst so reichlich gesegnet war, blieb nichts als eine Quelle verdorbenen Wassers. Eine so große Liebe wie Josephs Liebe für Isabella hört nicht plötzlich auf. Sie bleibt erhalten, wenn auch im Verborgenen und in abgewandelter Form.
Joseph wehrte sich gegen seine Schmerzen, indem er sie an andere weiterzuleiten versuchte. Vor allem Frauen mussten es entgelten, denn sie hatten ihm schließlich die immer währende Wunde zugefügt. Seine Zerstörungswut richtete sich aber indirekt auch gegen das eigene Geschlecht, nicht zuletzt gegen solche frauenfreundlichen Männer wie Bruder Leopold oder einen gewissen Musiker namens Mozart. Im Grunde waren alle Menschen seine Feinde, wie aus den Aufzeichnungen seines Bruders Leopold eindeutig hervorgeht. Nur für seinen jüngsten Bruder Max empfand er eine fast zärtliche Zuneigung, vielleicht weil dieser sich aufgrund seiner Verletzung jenseits aller Geschlechterkämpfe befand.
Josephs Rachefeldzug gegen die Frauen und ihre Freunde trug die Merkmale einer antiken Tragödie. Mit innerer Folgerichtigkeit wurde der Kaiser und mit ihm sein ganzes Reich langsam, aber unaufhörlich an den Rand des Abgrunds getrieben. Auf tragische Weise verband sich private Misere mit dem Wohl des Staates, transformierte sich das Chaos im Gemüt zum Chaos der öffentlichen Angelegenheiten. Am Ende dieses Prozesses, als Joseph starb, war die ganze Bevölkerung der Donaumonarchie gegen ihn aufgebracht. In Ungarn und den österreichischen Niederlanden war offener Aufruhr ausgebrochen und auch in Böhmen kochte Unmut. Die Substanz des Reiches war in höchster Gefahr. Hinzu kamen noch die äußeren Feinde. Der Angriff Preußens auf Österreich stand unmittelbar bevor und galt bereits als unabwendbar. Preußen hatte sich zum drohenden Krieg mit Polen verbunden; die Polen ihrerseits unterstützten den Aufstand Ungarns gegen Wien. Der Türkenkrieg war noch nicht beendet und auch mit Bayern gab es gefährliche Spannungen.
In Frankreich griff die Revolution immer weiter um sich und drohte auf andere Länder, sogar auf Italien, überzuspringen. Schon standen gebietshungrige Staaten wie Spanien und Parma in den Startlöchern, um im zu erwartenden Krieg Preußens gegen Österreich große Teile des Vielvölkerstaates und dessen Verbündeter zu schlucken. Spanien wollte sich das Königreich Neapel-Sizilien einverleiben, Parma die Toskana. Die Lage war so dramatisch, dass selbst Josephs treuester Diener, Reichskanzler Kaunitz, das Sterben seines Herrn mit der Bemerkung kommentierte: „Es war das beste, was er tun konnte“.
Ein höchst eigentümlicher Zug an Josephs Amoklauf war, dass er sich im Verborgenen abspielte. Der Kaiser gab sich nach außen hin als Gegenteil eines verbitterten Misanthropen. Zwar galt er als knauserig, aber er war zugleich witzig und zuvorkommend; er konnte unerhört charmant sein. Die ersten fünf Jahre seiner Alleinherrschaft sind durch Aufgeschlossenheit, Liberalität und eine nie vorher erlebte Toleranz gekennzeichnet. Für den epochalen Höhenflug der abendländischen Musik, die gerade zu diesem Zeitpunkt einen Kulminationspunkt erreicht hatte, waren diese Eigenschaften von grundlegender Bedeutung.
Joseph war es, der die unverwechselbare Atmosphäre des Goldenen Jahrzehnts geschaffen hatte, diese Wiener Mischung von Vornehmheit und Volkstümlichkeit, höchster Verfeinerung und triebhafter Natur, Maskerade und Spontaneität. Wo immer er erschien, und oft kam er verkleidet, riss er alle Fäden an sich und hinterließ einen Sog erlebter Energie. Es war wahrhaftig ein Röntgenblick vonnöten, um die extrem sinnliche, ja, im wahrsten Sinne des Wortes übersinnliche Anarchie hinter dem irreführenden Auftreten dieses Mannes zu erkennen. Später werden wir aber sehen, dass es diese Augen tatsächlich gab und dass der Reformkaiser von keinem besser durchschaut worden ist als von Mozart.
Kurze Zeit, nachdem Joseph zum Römischen Kaiser gekrönt worden war, zwang ihn seine Mutter, noch einmal in den Ehestand zu treten. Maria Theresia, die eine dauerhafte Allianz mit dem reichen Bayern anstrebte, verkuppelte ihren trauernden Sohn mit einer Prinzessin aus dem Hause Wittelsbach, Josefa von Bayern. Bereits im Januar 1765 fand die Hochzeit statt, aber diesmal hatte die Kaiserin sich in ihrer sonst so erfolgreichen Heiratspolitik verrechnet. Ihre neue Schwiegertochter wurde von Joseph so feindselig behandelt, dass die Beziehungen zwischen Österreich und Bayern darunter zu leiden hatten.
Um sich an der Mutter, aber auf verschlungenem Wege sicherlich auch an der Schwester Marie Christine zu rächen, mied Joseph Josefa, wo er nur konnte, schimpfte über ihr Aussehen und ließ sogar Vorkehrungen treffen, damit ihm in seinen privaten Räumen ihr Anblick erspart blieb. Für die gutmütige junge Frau bedeutete diese Art von Zurückweisung eine Hölle. Bereits zwei Jahre später, am 28. Mai 1767, starb sie, offiziell an den Blattern, inoffiziell vor lauter Kummer.
In den nun folgenden dreizehn Jahren bis zum Tod der Mutter 1780 lebte Joseph in einem Frauenhaushalt. Der Vater war bereits 1765 gestorben und Maria Theresia, die ihren Sohn zum Mitregenten ernannt hatte, aber alle Macht im Staate für sich beanspruchte, umgab sich gerne mit ihren Töchtern. In dieser Periode entwickelte sich Joseph, wohl aus Frust, zu einem der schlimmsten Fraueneroberer.
Wohl verstanden: alle hohen Herren waren in der Regel unermüdliche Schürzenjäger. Auch Josephs Vater Franz Stephan jagte nicht nur Hirsche und Hasen, Staatskanzler Kaunitz liierte sich gerne mit schönen Sängerinnen, Reichsvizekanzler Colloredo-Waldsee galt ebenso als hemmungsloser Schürzenjäger wie Josephs Schwager Ferdinand in Neapel, ganz zu schweigen von historischen Exempeln wie August dem Starken oder Frankreichs Sonnenkönig Ludwig XIV. In Josephs Kreisen war die Promiskuität so gut wie legalisiert, sogar aus der Sicht der Kirche. Schließlich gehörte das „Recht auf die erste Nacht“ zum Unterdrückungsmechanismus der herrschenden Klasse, indem es sich gleichermaßen gegen die weiblichen wie gegen die männlichen Untertanen richtete. Zudem gab es unter den Zeitgenossen Josephs epochale Frauenhelden wie Casanova oder Beaumarchais.
Bei Joseph treffen wir jedoch auf einen Aspekt, der bei allen anderen Vertretern seiner Spezies fehlt: die Abrechnung. Andere Schürzenjäger suchten das Liebesabenteuer, weil sie die Frauen liebten, Joseph brüstete sich dagegen damit, als Frauenhasser zu gelten. Ganz offensichtlich suchte er die körperliche Vereinigung mit dem anderen Geschlecht nicht, weil er sich in Frauen verliebte, sondern um sie zu erniedrigen, zu bestrafen oder zu besiegen. Dabei ging er äußerst gründlich vor: seine eigene Schwester Maria Karoline berichtet, dass es in Wien keine einzige Frau gab, mit der der Kaiser nicht geschlafen hätte. Für unsere Geschichte ist diese Aussage von Relevanz, denn es würde bedeuten, dass auch die Töchter eines gewissen Fridolin Weber, Aloysia und Konstanze, zur Beute Josephs gerechnet werden müssen.
Zwar ist die Äußerung von Maria Karoline von einigen Historikern belächelt worden, aber dafür gibt es wahrhaftig wenige Gründe. Gerade Maria Karoline gehörte nicht zu denjenigen, die leichtfertig Gerüchte in die Welt zu setzen pflegten. Zudem wird ihre Aussage durch unveröffentlichte Passagen aus Leopolds geheimen Aufzeichnungen bestätigt. Joseph prahlte gerne beim Bruder mit seinen sexuellen Eskapaden, sowohl schriftlich als auch mündlich. Diesen widerten allerdings derartige Geschichten an, wie aus zwei tagebuchähnlichen Schriften hervorgeht, die in italienischer Sprache verfasst und mit einer selbst entworfenen Geheimschrift geschrieben sind. Adam Wandruszka hat diese Schriften, „Stato della famiglia“ und „Cose particulare“, entziffern können und Teile daraus in seine Leopold-Biographie aufgenommen. Aus Rücksicht auf die historischen Verdienste Josephs verzichtete er dabei freilich auf anstößige Abschnitte rund um die Person des Kaisers.
Wandruszka hat kurz vor seinem Tod den Inhalt dieser Passagen dem Autor dieses Buches telefonisch angedeutet. In diesem nicht publizierten Teil ist die Rede davon, dass Joseph sich zu jedem Frühstück „frisches Frauenfleisch“ servieren ließ. Nicht weniger als vier Diener sollen darauf spezialisiert gewesen sein, dem Monarchen dieses Ritual zu ermöglichen, unter ihnen Johann Kilian Strack, der zu Mozarts Verlobungszeit häufig in dessen Haushalt anzutreffen war. Die Anstrengungen am frühen Morgen hinderten den hochgeborenen Schwerenöter im Übrigen nicht, sich am späten Abend anspruchsvolleren Zielen wie Prinzessinnen und Komtessen zu widmen.
Es leuchtet ein, dass nicht sexuelle Begierde die Triebfeder Josephs war. Seine Schürzenjagd war vielmehr ein Krieg gegen das Tabu, eine Herausforderung des Teufels, eine Suche nach Sühne und Wahrheit, mehr noch: eine Expedition ins Jenseitige. Erkennbar ist eine dämonische Besessenheit, der Wunsch, herauszufinden, was an der Geschichte mit Gott und der Moral stimmt. Er wollte wie Don Giovanni die Grenze zwischen Gut und Böse erkunden.
Diese Dämonie gilt nicht nur für den erotischen Bereich, auch Josephs Regierungsstil wurde von der gleichen Besessenheit geprägt. Die erste Maßnahme nach dem Tod der Mutter war die Entfernung der drei ungeliebten Schwestern aus der Hofburg. Maria Anna wurde als Äbtissin nach Prag geschickt, Maria Elisabeth als Äbtissin nach Innsbruck und Maria Christine als Statthalterin der österreichischen Niederlande nach Belgien. Danach richtete Joseph sich unter fast asketischem Verzicht auf Prunk und Luxus in seinem Arbeitszimmer ein und begann eine unabsehbare Kette von Reformen. In den zehn Jahren seiner Alleinregierung erließ Joseph 11.000 Gesetze und 6.000 Dekrete. Ein großer Teil dieser Maßnahmen hatte einen provozierenden Charakter wie die Schließung von 700 der 2100 Klöster.
Zu den populärsten Maßnahmen Josephs gehörten das Toleranzedikt 1782, die Pressefreiheit und die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern, wobei pikanterweise auch das „jus primae noctis“, das Herrenrecht auf die erste Nacht mit Bräuten frisch vermählter Untertanen, betroffen war. Bei näherem Hinsehen sticht allerdings unverkennbar reformerische Halbherzigkeit ins Auge. So mussten die Juden, um „toleriert” zu werden, eine hohe Schutzgebühr bezahlen. Die Leibeigenschaft wurde nur auf den Staatsgütern aufgehoben, in Ländern wie Böhmen und Regionen wie Siebenbürgen blieb sie weiterhin bestehen. Zudem wurde die gutsherrliche Verfassung überhaupt nicht angetastet. Der rumänische Bauernaufstand wurde mit Billigung Josephs auf brutale Art niedergeschlagen.
Gegenüber der Schließung der Klöster stand die Errichtung von Hunderten neuer Pfarreien. Hier war es dem Kaiser um eine Verlagerung der Macht über kirchliche Angelegenheiten zu tun.
Auch die Aufhebung der Zensur war alles andere als eine idealistische Maßnahme. Die Pressefreiheit wurde von Joseph als Mittel benutzt, die Kirche hemmungslos zu kritisieren, denn die Zensur wurde lediglich der Kirche entzogen und kam unter staatliche Regie. Unter strenge Zensur fielen vor allem die Gedenkschriften des Papstes zum Thema Kirchenreform in Österreich. Zuständig für die Zensur wurde übrigens Baron Gottfried van Swieten, der Sohn Gerhards und spätere Mäzen Mozarts.
Zu den unpopulärsten Maßnahmen Josephs gehörte das Begräbnispatent vom 23. August 1784. Der kaiserliche Befehl, die Toten der 3. Klasse nicht in Särgen zu bestatten, sondern sie in leinenen Säcken in die Grube zu legen und mit ungelöschtem Kalk zu überwerfen, löste in der Bevölkerung derartig heftigen Widerstand aus, dass er bereits nach einem halben Jahr wieder zurückgenommen werden musste. Nichtsdestoweniger galt Joseph nach wie vor beim einfachen Volk als Störer der Totenruhe schlechthin. Kein zeitgenössischer Besucher der Aufführungen von Mozarts Oper Don Giovanni wird sich bei der berühmten Friedhofsszene der Assoziation mit dem Begräbnispatent entzogen haben können; dafür war das Bühnengeschehen einfach zu aktuell.
Es leuchtet ein, dass die Wiener Reformen Josephs nicht mit den toskanischen seines Bruders verglichen werden können. Weil bei Josephs Reformen die idealistische Basis fehlte, war Leopolds Gesellschaftserneuerung konsequenter und radikaler. Trotzdem bildeten die unterschiedlichen Auffassungen keinen wirklichen Zankapfel zwischen den Brüdern. Solange es sich um innere Staatsangelegenheiten handelte und in beiden Territorien fleißig Krankenhäuser gebaut wurden, konnte es dem einen recht sein, was beim anderen reformiert wurde und was nicht. In der Außenpolitik und den familiären Angelegenheiten lagen die Dinge völlig anders. In diesen Bereichen gab es jede Menge Zündstoff, wie zum Beispiel Josephs Absichtserklärung, die relative Unabhängigkeit der Toskana („Sekundogenitur“) nach der Regierungszeit Leopolds aufzuheben und das Land dem Reich einzuverleiben. Sehr konfliktträchtig waren auch die Unterschiede in der Außenpolitik, vor allem gegenüber Russland und der Türkei. Joseph strebte, auf Kosten der Türkei, eine enge Allianz mit Katharina der Großen an. In geheimen Besprechungen wurde beschlossen, das geschwächte Osmanische Reich von beiden Seiten anzugreifen, so weit wie möglich zu erobern und die eroberten Gebiete unter einander aufzuteilen. Leopold wurde von Joseph aufgefordert, sich mit seinem Land am geplanten Eroberungszug zu beteiligen. Als überzeugter Pazifist und Verächter der aus seiner Sicht rückständigen feudalen Verhältnisse in Russland widersetzte sich dieser jedoch den imperialistischen Plänen Josephs. Er argumentierte, dass
eine schwache, ständig von der Gefahr der Auflösung bedrohte Türkei für Österreich ein weit angenehmerer, weil ungefährlicherer Nachbar wäre als das ehrgeizige, expansionslüsterne Russland.
Leopold konnte seinen Bruder nicht davon abhalten, die Türkei anzugreifen und Joseph konnte nicht verhindern, dass Leopold in seinem Land die Armee ganz abschaffte. Dennoch ist der Konflikt zwischen den Brüdern für uns interessant, denn genau zu dem Zeitpunkt, an dem er unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgefochten wurde, fand die Uraufführung von Mozarts türkenfreundlichem Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ statt, zudem noch in Josephs eigenem Theater. Dazu gilt es zu bedenken, dass der Intendant der kaiserlichen Theater, Leopolds ehemaliger erster Minister Franz Xaver Orsini-Rosenberg, dem Komponisten das Buch zur Oper angetragen hatte und dass der Besuch des russischen Thronanwärters Paul Anlass zum Kompositionsauftrag gab. Paul wollte zur Besiegelung der gemeinsamen Angriffsabsichten nach Wien kommen. Hinter der zeitlosen Schönheit der Bühnenwerke Mozarts steckte nicht selten eine ganz und gar zeitgebundene Aktualität, die manchmal hochpolitische Aspekte enthielt. So sind in der „Entführung“ unverhohlene Seitenhiebe auf die Regierungspolitik Josephs versteckt. Die Schlussansprache des Großmoguls Bassa Selim kann man getrost als moralische Ohrfeige für Kaiser Joseph auffassen. Jedenfalls wird in diesem Lichte verständlich, warum das kaiserliche Lob für die Oper ein wenig sauer klang und weshalb die Premiere verschoben wurde.
Ein sympathisch anmutender Zug im Charakter Josephs bestand darin, dass er, obwohl er keinen Widerspruch duldete, trotzdem gut Kritik einstecken konnte. Die vielen Pamphlete, in denen seine Politik kritisiert und seine Person verspottet wurde, scheinen ihn eher amüsiert als geärgert zu haben. Was man auch über ihn sagen kann, nachtragend war er nicht. Außerdem ist zu vermuten, dass sein musikalischer Geschmack viel besser war als die Geschichtsschreibung uns suggerieren will.
Ein seltsamer Zug im Charakter des Kaisers war seine Vorliebe für das Militär. Offensichtlich hatte der Monarch das Bedürfnis, dem ruhmreichen preußischen Gegner Friedrich dem Großen, den er sehr bewunderte, den Rang abzulaufen und auf dem Schlachtfeld Trophäen zu sammeln. Es kann aber ebenso gut sein, dass er auch auf diesem Gebiet den Tod herausfordern wollte und auch dort die Konfrontation mit dem Jenseits suchte. Aber ob nun so oder anders, jedenfalls steht fest, dass er für das Kriegshandwerk denkbar untauglich war. Wo Joseph als höchster Kriegsherr auf dem Kriegsschauplatz erschien, folgte das Chaos auf dem Fuß. Entweder fand die Schlacht gar nicht statt, wie beim bayerischen Feldzug 1778, oder sie wurde aus Schrecken vor den veranschlagten Opferzahlen zögerlich und dilettantisch durchgeführt, so zum Beispiel im Türkenkrieg zehn Jahre später. Letztgenannter Krieg wurde Joseph zum persönlichen Verhängnis, indem er sich auf dem Schlachtfeld mit einer tödlichen Krankheit infizierte.
Trotz unterschiedlicher Auffassungen schien das äußere Verhältnis zwischen den beiden Brüdern bis kurz vor Josephs Tod gut und herzlich. Nur den geheimen Aufzeichnungen Leopolds ist zu entnehmen, wie sehr Leopold die gewaltsamen Züge Josephs und dessen rastlose, unkoordinierte Arbeitsweise hasste. Joseph dagegen hat sich immer voller Stolz und Bewunderung über den Bruder ausgelassen, aber konnte, wie schon erwähnt, einen gewissen Neid, vor allem auf dessen prosperierendes Familienleben, nicht verhehlen.
Gegen diesen Hintergrund ist zu verstehen, dass Joseph die Order erließ, alle Kinder Leopolds, also nicht nur den Thronanwärter Franz, ab dem 16. Lebensjahr zur Ausbildung nach Wien zu schicken. Durch diesen Befehl traf er Leopold, der seine Kinder über alles liebte, mitten in die Seele. Mit traumwandlerischer Sicherheit hatte Joseph den Nerv gefunden, mit dem er seinen Bruder wirklich verletzen konnte, zumal aus der betreffenden Anordnung eine für Leopold kaum erträgliche Geringschätzung gegenüber der Toskana sprach.
In seinem letzten Lebensjahr wurde Joseph die Rechnung für diese Handlungsweise präsentiert, indem Leopold sich gegen die Politik seines Bruders kehrte. Nachdem Joseph Ende 1788 desillusioniert und krank vom Türkenfeldzug zurückgekehrt war, entglitt ihm in wachsendem Maße die Kontrolle über die Monarchie. Die Berichte über den alarmierenden Gesundheitszustand des Bruders veranlassten Leopold, die Arbeit am toskanischen Verfassungsprojekt wieder aufzunehmen, in der Erwartung, diese Pläne bald auf das ganze Reich anzuwenden. Auch versuchte der Großherzog, den belgischen Ständen in verdeckten Botschaften klarzumachen, dass er die zentralistische Politik des Kaisers nicht billige und dass er, wenn er an die Macht käme, ihre alte Würde wiederherstellen würde. Dieser Versuch kam jedoch zu spät. Am 12. Dezember 1789 brach ein Volksaufstand in Belgien aus, der zur überstürzten Flucht der kaiserlichen Behörden aus Brüssel führte. Sogar Joseph hielt nun die österreichischen Niederlande für immer verloren, zumal die Aufständischen von Preußen, England und Holland unterstützt wurden.
Auf dringendes Anraten Leopolds gab Joseph den ebenfalls aufbegehrenden Ungarn das Versprechen, ihnen ihre ständische Verfassung wiederzugeben und die Stephanskrone zurückzusenden. Dieses Nachgeben rettete in letzter Minute die Monarchie vor einem Auseinanderbrechen in der Mitte. Nichtsdestoweniger blieb die Lage dramatisch. Die ungarischen Stände waren keineswegs besänftigt. Sie wurden unterstützt von Preußen, das sich wieder einmal auf einen Krieg mit Österreich vorbereitete. Der Ausbruch dieses Krieges wurde für den Frühling 1790 erwartet und schien so gut wie sicher. Auf dem Balkan herrschte noch immer Kriegszustand, weil noch kein Friedensschluss mit der Türkei geschlossen war.
Kurz vor seinem Tod lud Joseph seinen Bruder per Brief ein, nach Wien zu kommen und im Reich die Mitregentschaft zu übernehmen, was tiefe Bestürzung bei Leopold auslöste. Seiner Schwester in Brüssel schrieb er, dass er zwar nach Wien gehen würde, sich aber nicht als Mitregent in die Staatsgeschäfte Josephs hineinziehen lassen wolle,
denn wenn ich zeige, dass ich vor den Augen der Öffentlichkeit und der fremden Höfe daran teilnehme, so würde ich den Anschein erwecken, als huldigte ich den gleichen Prinzipien und Systemen wie Seine Majestät und billigte alles, was gemacht worden ist; und ich verscherzte für immer meinen guten Ruf und das Vertrauen der Höfe und der Öffentlichkeit und würde den Staatsgeschäften einen großen Schaden zufügen, ohne den geringsten Nutzen.
Zwei Tage, nachdem Leopold diesen Brief an Christine verfasst hatte, am 20. Februar 1790, starb der Kaiser. Die Nachricht seines Todes traf am 25. Februar in Florenz ein. Vier Tage später brach Leopold auf zur
schwersten, geschichtlich bedeutsamsten Aufgabe seines Lebens,… zur Errettung und Sicherung der österreichischen Monarchie, die sein soeben verstorbener Bruder durch eine von den besten Absichten getragene aber unglückliche Politik an den Rand der Katastrophe und Auflösung gebracht hatte.
(Wandruszka)