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Kapitel 5 • Leopolds Alleinregierung der Toskana

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Beim Regierungsantritt Leopolds steckte die Toskana, das Land, das einst Dante, Petrarca, Michelangelo, Leonardo und Galilei hervorgebracht hatte, in einer lang anhaltenden Phase des Niedergangs. Seit anderthalb Jahrhunderten hatte es stark an kultureller Bedeutung eingebüßt. Es kam noch hinzu, dass schlechte Regierungen und Leopolds Vater Franz Stephan das reiche Land heruntergewirtschaftet beziehungsweise ausgeplündert hatten. Ein Jahr zuvor, im Sommer 1764, hatte es sogar unter einer der schwersten Hungersnöte seiner Geschichte gelitten. Diese Not wurde dadurch verschlimmert, dass die Bauern, um nicht zu verhungern, ihr eigenes Getreide zu Wucherpreisen von den adeligen Großgrundbesitzern zurückkaufen mussten. Die Folgen dieser Katastrophe waren noch lange nicht überwunden.

Leopold verzichtete bei den Feierlichkeiten zu seiner Regierungsübernahme weitgehend auf Prunk und Pomp und setzte sogleich die Bekämpfung der noch nicht überwundenen Hungersnot auf die Tagesordnung. Zur Linderung der Not ließ er alle Getreidespeicher durchsuchen. Dabei wurden in den Vorratskammern der zumeist adeligen Reichen riesige Getreidemengen entdeckt, die das gesamte Land mit Brot versorgen konnten. Er befahl den Kornhändlern, das Getreide sofort zu verkaufen, und gab später den Getreidehandel frei. Zugleich brachte er große Summen auf, um im Ausland zusätzliches Getreide zu kaufen. Die Proteste der Gutsbesitzer und Kirchenfürsten ließen ihn dabei kalt. Die Folge dieser Maßnahmen war, dass es in der Toskana in Leopolds 25-jähriger Regierungszeit trotz mancher schlechten Ernte keine Hungersnot mehr gegeben hat.

Schon stand die erste Konfrontation mit Joseph bevor. Nach dem Tod des Vaters war Joseph zum Römisch-Deutschen Kaiser ausgerufen worden, da dieser Thron den Statuten nach nur Männern zustand und während der Regierung Maria Theresias nicht unbesetzt bleiben sollte. Die erste Tat des neuen Kaisers war die Rückführung des Privatvermögens des verstorbenen Kaisers an die Staatskasse. Franz Stephan hatte, wie bereits erwähnt, ein riesiges Vermögen erworben, das zu einem erheblichen Teil aus gewaschenem Geld und Waffengeschäften mit Freund und Feind stammte. Zwei Millionen Gulden dieses Kapitals waren in der Toskana angelegt und gehörten somit dem jeweiligen Regenten, nach Kaiser Franz Stephan also Sohn Leopold.

Joseph war allerdings der Auffassung, dass ihm als Alleinerben des Vaters auch das toskanische Kapital zustehe und forderte Leopold auf, das Geld unverzüglich nach Wien zu überweisen. Leopold, der die Summe zur Bekämpfung der Hungersnot brauchte, widersetzte sich zwar nicht, ließ sich aber Zeit. Die Verzögerung wurde von Joseph mit Missfallen als Zeichen von Unbotmäßigkeit registriert und verstimmte ihn ebenso wie Maria Theresia. Diese ließ allen Beteiligten, auch Leopolds Ministern Botta und Thurn, eine schriftliche Rüge zukommen, woraufhin Letztgenannter der Überlieferung nach vor Kummer und Schrecken gestorben sein soll.

Der finanzielle Aderlass hinderte Leopold nicht daran, die Probleme seines Landes ernsthaft anzugehen. Bereits im Oktober und November 1766 wurden erste Vorbereitungen zu Reformen getroffen, welche die uneinheitliche Verwaltung des Großherzogtums reorganisieren und zentralisieren sollten. Beim Aufbau der Gemeindebehörden und der Zentralstelle schuf Leopold, quasi als Nebenprodukt, ein absolut gerechtes Steuersystem und ein Gerichtswesen, das allen Staatsbürgern gleiche Rechte gab. Damit avancierte die Toskana zum Land ohne Klassenjustiz. Leopolds nächstes Großprojekt war die radikale Abschaffung von Handelsprivilegien zugunsten des Freihandels. Dazu forderte er am 26. November 1766 ein wirtschaftliches Gutachten an. Er rief eine Kommission ins Leben, die den Auftrag hatte, einen Rapport über den Umfang des Exports und Imports und über den Zustand der Landwirtschaft, des Bodenertrages und des Viehbestandes zu erstellen. Die Hindernisse für die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion sollten erfasst und Vorschläge gemacht werden, diese zu beseitigen. Auch sollten der Zustand des Gewerbes und der Fabriken, die Anzahl der Beschäftigten, die Höhe des Kapitals und des Gewinns sowie die Absatzmärkte genau beschrieben werden.

Der Neunzehnjährige erwies sich als blendender und unermüdlicher Organisator, der vor keinen Schwierigkeiten zurückschreckte. Bei der Vorbereitung seiner Reformen bezog er sogar die Gegner seiner Pläne mit ein und versuchte, breite Akzeptanz herzustellen. So fanden bei ihm auch die Gegenargumente Gehör. In zahlreichen Schriften von Neri, Cennini und anderen Beratern wurde das Für und Wider des Freihandels ausführlich besprochen.

Danach wurden die Erneuerungen stufenweise erprobt, bis sie endgültig in Kraft traten. Am 18. September 1767 trat als erste Stufe zum allgemeinen Freihandel Leopolds epochales Getreidegesetz in Kraft. Es besagte, dass sämtliche Steuern auf Brot und Mehl aufgehoben wurden und dass Herstellung und Verkauf nicht eingeschränkt werden durften. Gleichzeitig wurden die Monopole abgeschafft. Binnenzölle und Ausfuhrzoll auf Brot und Getreide wurden ebenfalls aufgehoben. Als nächster Schritt wurde eine Behörde etabliert, die den Auftrag hatte, über die Einhaltung des neuen Gesetzes zu wachen. Diese Handlungsweise steht in schroffem Gegensatz zum Regierungsstil Josephs, der sich überhaupt nicht um die Durchführung seiner vielen Gesetze und Dekrete kümmerte.

Im Jahre 1771 wurde Leopolds Getreidegesetz erweitert, indem auch der Einfuhrzoll auf ausländisches Getreide wegfiel. Schließlich wurde im Sommer 1775 der Getreidehandel uneingeschränkt freigegeben. Die ebenfalls sorgfältig vorbereitete Aufhebung der Generalpacht 1768 und das Amortisationsgesetz von 1769 gaben der neuen Wirtschaftspolitik ein solides Fundament.

Im Jahre 1770 setzte Leopold seine Reformen mit der Reorganisation der Verwaltungsstruktur, der Justiz und des Polizei-, Schul- und Armenwesens fort. Er vereinfachte die Bürokratie, gab den Gemeindebehörden größere Selbständigkeit, trennte die Gewalten der Justiz und Polizei, reorganisierte die Bildungspolitik und arbeitete auf eine staatliche Unterstützung für unverschuldet arm Gewordene hin. Große Anstrengungen ließ er der Verbesserung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung angedeihen, indem er öffentliche Spitäler modernisieren und neue Krankenhäuser bauen ließ. Am 23. Januar 1774 wurde ein Gesetz erlassen, dass Geisteskrankheit als Krankheit zu behandeln sei, eine Sensation in der damaligen Welt.

Allmählich humanisierte er das Strafrecht, wobei er bei seinen Polizeichefs starke Widerstände zu überwinden hatte. Zunächst wurden die Zustände in den Gefängnissen verbessert, danach ging es in langsamen Schritten weiter, bis endlich 1786 die Folter und die Todesstrafe per Gesetz abgeschafft wurden. Leopolds Strafgesetzbuch von 1786 sucht – was Modernität und Humanität betrifft – bis heute seinesgleichen. Es hat regelrechten Modellcharakter. Der Erfolg gab ihm Recht. Im Jahr 1787 zählte man lediglich 64 Gefangene in den toskanischen Gefängnissen bei einer Bevölkerungszahl von einer Million. Im Königreich Neapel wurden bis zu 60 mal und allein in Rom 15 mal soviel Morde verübt wie in der ganzen Toskana.

Ein weiterer bedeutsamer Schritt war die Abschaffung der Armee. Leopolds Argument lautete, dass ein kleines Land wie die Toskana keine Soldaten brauche. Stattdessen rief er eine Bürgermiliz ins Leben.

Die Kirche blieb von Leopolds Reformen ebenfalls nicht verschont. Das toskanische Inquisitionsgericht wurde 1782 aufgehoben und auch sonst verlor der Klerus an Einfluss, wenn auch nicht so drastisch wie in Wien während der Alleinregierung Josephs. Die Nähe Roms zwang Leopold zur Behutsamkeit.

Eine einschneidende politische Maßnahme war die allmähliche Abschaffung der Adelsprivilegien. Leopold ließ keinen Zweifel darüber bestehen, dass er nichts von gesellschaftlicher Ungleichheit hielt. Zielstrebig und konsequent verfolgte er seine Pläne zur Nivellierung der Gesellschaft und zeigte dabei eine „Festigkeit jener Art, die große Staatsmänner besitzen“ (Robert J. Kerner). Als Schlusspunkt und Gipfel seiner Bestrebungen – und hierin besteht das tatsächlich Sensationelle an Leopolds Regierung – war eine Selbstentmachtung vorgesehen. Für das absolute Königtum war im System Leopolds, ganz im Gegensatz zu Joseph und dessen Ideenwelt, kein Platz. So war es nur folgerichtig, dass Leopold beharrlich an einem Verfassungsprojekt arbeitete, das die ganze Gesellschaft revolutioniert hätte. In diesem geheimen Plan war dem Herrscher eine ähnliche Funktion zugedacht wie in unseren modernen konstitutionellen Monarchien.

Unmittelbar nach einem Besuch in Wien beauftragte er 1778 einen vertrauten Ratgeber, den Senator Gianni, mit der Ausarbeitung einer Konstitution für die Toskana. Nach unzähligen Sitzungen, verworfenen Entwürfen und Zwischenstufen kam am 8. September 1782 die dritte, endgültige Fassung dieses Verfassungsgesetzes zustande. In dem Gesetzentwurf, der von Vordenkern der Französischen Revolution wie Turgot und von den ersten amerikanischen Einzelstaatsverfassungen beeinflusst wurde, zeigt sich Leopold als radikaler Vorkämpfer der Gleichheitsidee.

Der Herrscher muss, als erster Diener seines Staates, auf die Verfassung schwören. Seine Herrschaftsrechte werden weitgehend eingeschränkt. Ohne Zustimmung des Parlaments darf er weder Krieg führen noch Bündnisse schließen. Die Finanzen des Staates müssen von den Finanzen des Herrschers getrennt werden. Ohne Mitwirkung der Volksvertretung darf der Fürst nur den Oberbefehl über das Militär ausüben, die Offiziere, Richter, Minister, die Beamten des Staatsapparats und die Erzbischöfe ernennen, Gnadengesuche beantworten sowie Adelsdiplome und Ehrentitel verleihen. Die Adelsprivilegien werden aufgehoben. Alle Bürger des Staates haben die gleichen Rechte mit Ausnahme des Wahlrechts, das allen Einwohnern über 25 Jahren zusteht, welche den Besitz eines Stückes Land, eines Hauses oder Ladens nachweisen können.

Charakteristisch für den Inhalt des Projektes ist jener Idealismus, der mit der amerikanischen Bürgerrechtserklärung und den ursprünglichen Idealen der Französischen Revolution enge Verwandtschaft aufweist. Diese Verwandtschaft beruht nicht auf Zufall. Leopold unterhielt enge Kontakte zu Amerikas „Gründervätern“ Benjamin Franklin und Thomas Jefferson, die nachweislich von seiner Reformtätigkeit inspiriert wurden. Auch mit dem toskanischen Nord-Amerikaner Filippo Mazzei stand er in regem Austausch, sodass man zu Recht sagen kann, Leopold selbst gehöre zu den geistigen Vätern der amerikanischen Verfassung von 1776.

Leopolds Erfolge blieben nicht unbeachtet. Bereits nach zwei Jahrzehnten hatte Leopold das heruntergewirtschaftete und rückständige Großherzogtum in ein „Musterländle“ umgewandelt, in ein florierendes Land mit zufriedenen Bürgern, in dem der um sich greifende Revolutionsgeist keinen Nährboden, aber eine unablässige Inspirationsquelle fand.

Indessen leuchtet es ein, dass nicht jeder Zeitgenosse mit gleicher Begeisterung in Richtung Toskana blickte. Wer glaubt, dass die privilegierten Stände der Toskana den Verlust ihrer Privilegien als reinen Genuss empfunden hätten oder dass Leopolds Pazifismus von Marschällen wie Laudon, Lacy und Colloredo mit Wohlwollen aufgenommen worden wäre, lebt tatsächlich in einer anderen Welt, nicht in der unsrigen, die sich in den letzten Jahrhunderten gar nicht so sehr verändert hat, wie die meisten denken.

Selbstverständlich hatte Leopold viele Feinde oder nennen wir sie lieber Widersacher. Kennzeichnend für diese Widersacher ist, dass man sie fast ausschließlich in den höchsten Kreisen der Gesellschaft suchen muss, kennzeichnend ist auch ihre Heimlichkeit. Denn keiner von ihnen besaß die gesellschaftliche Position, Leopold zu rügen oder auch nur zur Rede zu stellen. Wohl verfügten manche Feudalfürsten und Kriegsherren über Macht und fast unbeschränkten Reichtum, aber in der Rangordnung des Staates waren sie allesamt dem Erz- und Großherzog untergeordnet. Notgedrungen mussten Leopolds Widersacher gute Mienen zum bösen Spiel machen, so wenig diese Art des Handelns ihnen auch gelegen haben mag.

Der einzige Trost für die bedrohten Privilegierten lag darin, dass die Toskana nur einen kleinen Teil des abendländischen Raums darstellte. Wer von den einheimischen Adligen reich und pfiffig war, rettete seine Privilegien und Besitztümer, indem er seinen Hauptwohnsitz ins nahe gelegene Königreich Neapel-Sizilien verlegte. Während Leopolds Regierung fand eine wahre Emigrationswelle der Reichsten des Landes in Richtung Süden statt, wo der Bourbone Ferdinand und Leopolds Schwester Karoline das Königsszepter hielten. Dieses Paar, mit dem Leopold sich übrigens bestens verstand, galt als linientreu in den Augen des feudalistischen Teils der Aristokratie. Für die Feudalherren bedeuteten Leopolds Reformen einen lokalen Brand, der durch die angrenzenden Staaten vielleicht eingedämmt werden konnte. Florenz war eben nicht Wien. Nur dann würde für sie ein wirkliches Problem entstehen, wenn der Brandstifter auch auf den Kaiserthron kommen würde.

Aus der Sicht Leopolds wurde die bescheidene Größe seines Landes dagegen zu einem Problem, das seine Reformen in zunehmendem Maße zu bremsen drohte. In der ersten Hälfte seiner Regierungszeit war es eher ein Vorteil, dass das Land, das er zu regieren hatte, nicht im Zentrum der damaligen Welt lag. Abseits vom Weltgeschehen konnte er in aller Ruhe experimentieren und seine gesellschaftlichen Visionen auf die Probe stellen. Aber gerade der unübersehbare Erfolg seiner Experimente führte zu einer gefährlichen Isolierung. So machten die Kapitalflucht aus seinem Lande und der reaktionäre Druck des nahe gelegenen Rom ihm schwer zu schaffen. Leopold spürte deutlich, dass er auf einsamem Posten stand. Die ersten Jahrzehnte seiner toskanischen Regierungszeit waren gekennzeichnet durch glänzenden Erfolg, sowohl in visionärer als in verwaltungstechnischer Hinsicht. An stillen Sympathisanten mit seiner Politik fehlte es ihm nicht; was er aber brauchte, damit der Erfolg nicht versiege, waren Verbündete, und zwar immer dringlicher.

Leopolds Dilemma war klar. Weil Machtverzicht nun einmal dem menschlichen Naturell zu widersprechen scheint, war keiner der Mächtigen in den europäischen Hauptstädten dazu bereit, sich am Ritual der Selbstentmachtung zu beteiligen. Nicht einmal Leopolds natürlichste Verbündete, die eigenen Geschwister, waren in der Lage, dem Bruder auf dem Weg zur Demokratie zu folgen. Nur Maximilian Franz, der Jüngste der Familie, teilte die Ansichten seines Lieblingsbruders, besaß aber nicht die Kraft, oder wie man heute in Deutschland gerne sagt, die Power, um eine Revolution von oben tatkräftig zu unterstützen. Bei einem Reitunfall während des bayerischen Feldzugs von 1778 hatte er eine geheimnisumwitterte Verletzung am Oberschenkel erlitten, die ihm schwer zu schaffen machte. Wie es heißt, mussten an seinen Beinen Geschwülste wegoperiert werden. Als Reaktion darauf trat er in den Kirchendienst ein und eine dauerhafte Indolenz und monströse Korpulenz waren die Folge. Kein geringerer als Wolfgang Amadeus Mozart hat uns eine unüberhörbare Erhöhung der Stimme anschaulich gemacht:

Als er noch nicht Pfaff war, war er viel wißiger und geistiger, und hat weniger, aber vernünftiger gesprochen. Sie sollten ihn ißt sehen! Die Dummheit guckt ihm aus den Augen heraus, er redet und spricht in alle Ewigkeit fort und Alles im Falset, er hat einen geschwollenen Hals – in einem Wort, als wenn der ganze Herr umgekehrt wäre! ….

(17. November 1781)

Trotz der bedauernswerten Beeinträchtigung seiner Manneskräfte war Maximilian für Leopold eine wichtige Figur auf dem Schachbrett der politischen und gesellschaftlichen Zukunftsgestaltung. Von 1784 an regierte Maria Theresias Jüngster als Kurfürst und Erzbischof von Köln von Bonn aus ein Land, das wegen seiner Nähe zu Frankreich, Belgien und den Niederlanden eine exponierte Stellung einnahm. Vor allem nach der Französischen Revolution 1789 rückte das Kurfürstentum an die vorderste Front, zumal auch Belgien gegen die habsburgische Herrschaft zu rebellieren begann.

Doch was heißt hier Front? Sowohl in Belgien als in Frankreich herrschten Schwestern und Schwäger von Leopold. Die österreichischen Niederlande wurden von Marie Christine und ihrem Mann Albert von Sachsen regiert, Frankreich von Ludwig XVI. und Leopolds kleiner Schwester Maria Antonia. Zu ihr, zu Marie Antoinette, hatte Leopold keinen nennenswerten Draht, Marie Christine stand dagegen in regem Austausch mit ihrem Bruder in der Toskana. Obwohl Christine zu Leopolds engsten Vertrauten gehörte und sogar in seine politischen Ideale eingeweiht war, dachte sie nicht daran, selbst auch nur ein Quäntchen Macht an die belgischen Stände oder gar das Volk abzugeben. Infolgedessen stand sie, wie Marie Antoinette, aus der Perspektive Leopolds in politischer Hinsicht auf der Gegenseite. Die damaligen Frontlinien machten nicht an Landesgrenzen halt, sondern liefen kreuz und quer durch die Gesellschaft, manchmal mitten durch Familien hindurch.

Für Leopold bedeutete die Familie Last und Erfüllung in einem. Er entstammte einer sechzehnköpfigen Kinderschar, von der zehn die Eltern überlebten. Seinerseits zeugte er mit Maria Luisa sechzehn Kinder, von denen nur zwei vor den Eltern starben. In den letzten Jahren seiner Toskaner Regierung saßen nicht weniger als sieben Geschwister auf führenden Posten des abendländischen Staatenbouquets. Neben Maximilian in Bonn, Marie Antoinette in Paris und Marie Christine in Brüssel gab es in Italien Karoline als Königin von Neapel-Sizilien, Ferdinand als Gouverneur der Lombardei und Maria Theresias Sorgenkind Maria Amalia als Herzogin von Parma. Für Leopold bedeutete dies in jedem einzelnen Fall die schwierige Aufgabe, die Mitte zwischen Erfordernissen der Tages- und der Zukunftspolitik, zwischen Rücksicht auf die Familie und Durchsetzung der eigenen Interessen, zwischen Familienbanden und den üblichen Geschwisterrivalitäten zu halten.

Neben diesen sechs regierenden Geschwistern und Kaiser Joseph gab es noch zwei weitere Schwestern: Maria Anna, das älteste Kind Maria Theresias, Schutzpatronin des bedeutenden Freimaurers Ignaz von Born und Äbtissin in Prag, und schließlich die durch die Pocken entsetzlich entstellte Maria Elisabeth, Äbtissin in Innsbruck.

Es war selbstverständlich, dass Joseph nach dem Tod Maria Theresias 1780 für Leopold zur wichtigsten Bezugsperson avancierte, wenn man einmal von der eigenen Ehefrau absieht. Gegenüber dem Oberhaupt der habsburgischen Dynastie und Alleinherrscher der Donaumonarchie samt ausgedehnten Kronländern hatte Leopold absolute Gehorsamspflicht. Aber nicht nur für Leopold, auch für Mozart - und somit indirekt auch für uns - nahm Joseph eine Spitzenposition ein. Das nach dem Tod Maria Theresias einsetzende Dezennium, dessen Ende durch Josephs Tod markiert wird, fällt weitgehend zusammen mit dem so genannten Goldenen Jahrzehnt der Wiener Klassik, das 1781 begann und mit Mozarts Tod 1791 zu Ende ging. Sowohl für die Mission des einen als auch für die Karriere des anderen bedeutete das Wirken des Reformkaisers Joseph eine große, entscheidende Chance. Durch ein tragisches Zusammentreffen unglücklicher Faktoren wurde diese Chance vertan und zwar so gründlich, dass man es kaum zu glauben vermag.

Das Wunder Mozart

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