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7. Tag

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Meine Mutter ist gekommen. Wieder ist sie im unpassendsten Moment gekommen. Seitdem ich denken kann, kommt sie in den unpassendsten Momenten. Entweder weiß sie das nicht, begreift es nicht oder sie ist schlicht und einfach komplett unsensibel. Ja, das ist sie und das war sie immer. Vollkommen unsensibel. Alles konnte und wollte sie immer nur aus ihrer Position betrachten. Das hat meinen Vater auch fertiggemacht. Lange bevor es mich und meine Schwester fertiggemacht hat, hat es meinen Vater fertiggemacht. Zermürbt hat es ihn. Und umgebracht. Ich war und bin der Meinung, dass meine Mutter meinen Vater ins Grab gebracht hat. Zumindest teilweise. Gesagt habe ich ihr das nie. Aber jetzt würde ich es gern. Henrike hat mir diese Auffassung immer schwer übel genommen. Sie sagt, ich müsste auch mal Mamas Position sehen. 'Mamas Position'! Darum ging es doch immer. Immer und immerzu. Sie sei doch außerdem unsere Mutter, so Henrike. Ich erinnere mich, wie ich Henrike angeschrien habe, was das denn für ein schwachsinniges Argument sei, 'Sie ist doch unsere Mutter!' Als sei das ein Blankoscheck zum generellen Terrorisieren der Familie, eine Lizenz zur allgemeinen Menschenvernichtung!

Jetzt sitzt sie da, meine Mutter, und weint und schluchzt, weil ihr Enkelkind tot ist. Sie weint, das ist ihr gutes Recht. Aber bitte schön nicht jetzt und nicht hier. Immer wieder bricht es aus ihr heraus, 'meine Enkelin' und 'meine Maria, armes Kind' Aber sie ist nicht nur ihr Enkelkind gewesen, sondern meine Tochter. Ich habe sie ausgetragen und geboren. Ich habe die Schmerzen erlitten, nicht sie. Ich habe bei Marias Geburt furchtbare Schmerzen erlitten und ich erleide seit ihrem Tod furchtbare Schmerzen.

Ich habe Maria ausgetragen und geboren, gegen alle Widerstände, vor allem aber gegen den meiner Mutter. Meine Mutter hat mich gehasst, als ich ihr eröffnete, ich sei schwanger. Ihre erste Frage lautete, ob ich schon einen Termin hätte, um es wegzumachen. Denn bei ihr, in ihrer Generation, sei so etwas alles ganz anders gewesen. Medizinisch und vor allem wegen der Leute. Das Gerede und so. Gar nicht auszudenken. Und wenn man den Bauch erst sieht, ist sowieso alles vorbei. Na ja, so war das eben, damals. Aber heute, heute hätten die Frauen doch alle Möglichkeiten. Da müsste das Kind nicht kommen. Ich wollte nicht schwanger werden. Aber als ich schwanger war, wollte ich auch das Kind. Und ich habe zum frühest möglichen Zeitpunkt mit den Ultraschalluntersuchungen begonnen. Als der Arzt sagte, ich bekäme ein Mädchen, habe ich vor Glück geweint. Ich wollte ein Mädchen, um für das Mädchen eine andere Mutter zu sein als die, die ich hatte. Ich habe meiner Mutter jeden Tag davon erzählt. Ja, ich war gehässig und gemein und wollte sie frustrieren. Ich sagte, ich hätte eine Chance, die sie niemals mehr bekommen würde.

Dann wurde Maria geboren. Noch fast drei Wochen lag ich im Krankenhaus, davon zwei Wochen auf der Intensivstation. Davon drei Tage im Koma. Im künstlichen, wie die Ärzte betonten. Es hatte Komplikationen gegeben. Natürlich. Das Kind hatte sich nicht so gedreht wie es sollte und außerdem, drohte es an der Nabelschnur zu ersticken. Die Operation mußte innerhalb von Sekunden beginnen. Und sie begann, bevor das Narkotikum vollständig wirkte. Die Schmerzen habe ich kaum ertragen und dennoch wurde ich nicht bewußtlos. Ich glaubte, sie wollten mir das Kind nehmen. Es rausreißen. Und dazu mussten sie mich ruhigstellen. Aber ich wollte nicht, dass das Kind stirbt. Noch nicht einmal meinetwegen oder wegen Maria selbst. Ich wollte, dass das Kind für meine Mutter lebt. Ich wollte, dass es als lebendiges, als schreiendes, scheißendes und sabberndes Zeichen meines Hasses auf sie lebt!

Als ich aus dem Koma erwachte, brachte man mir meine Tochter. Sie war ganz lieb und grunzte zufrieden vor sich hin. Dabei wischte sie sich unkontrolliert mit den kleinen Händchen an den Augen herum. Leider war ich noch zu schwach, es selbst halten zu können. Meine Mutter war im Zimmer. Und doch musste die Schwester das Kind nehmen. Meine Mutter wollte ihr eigenes Enkelkind nicht auf den Arm nehmen. Niemals zuvor in meinem Leben und seitdem auch nicht mehr, habe ich einen solchen Ekel empfunden. Noch niemals vorher empfand ich einen Menschen derart abstoßend wie meine Mutter in diesem Moment. Unser Verhältnis war nie gut, vielleicht sogar zu der Zeit schon irreparabel geschädigt. Aber seit jenem Moment am Krankenbett ist meine Mutter für mich gestorben. Dass sie jetzt hier in meiner Küche sitzt, an meinem Küchentisch weint, meine zerrissenen Nerven weiter zersetzt, ist eine Geste meines Mannes und meiner Schwester. Niemals hätte ich es zugelassen, dass sie mein Haus betritt.

Mein Mann hat es sicher gut gemeint. Er meint es immer gut, weiß aber nicht, was er wirklich in mir bewegt. Was meine Mutter angeht, so kann er es so gut meinen wie er will, immer wird er einen Fehler machen. Ich habe ihm das nie gesagt, auch heute nicht. Warum auch? Warum die Dinge unnötig komplizieren? Wir hatten bis jetzt ein gutes Leben. Unter anderem deshalb, weil ich ihn stets in dem Glauben gelassen habe, er mache alles richtig und ich sei rundherum zufrieden. Er sah und sieht sich als Integrator, als Mensch, der Menschen zusammenbringt. Er ist der Typ von Idealist, der nicht versteht und nie verstehen wird, dass man manche Menschen niemals zusammenbringen kann oder sollte. Ja, dass es schädlich oder sogar tödlich sein kann, wenn man solch hehre Ziele verfolgt. Er hätte mich nicht verstanden. Und er will mich nicht verstehen, weil er glaubt, dass er so simple Gedankengänge viel globaler sieht und deshalb über ihnen steht. Das liegt glaube ich an seiner akademischen Ausbildung. Als wir uns kennenlernten, habe ich zu ihm aufgeschaut, weil er doch so gebildet war und ich nur eine kleine Immobilienkauffrau. Jedesmal, wenn wir irgendwo eingeladen waren, wurde mein Defizit mit einem Lächeln quittiert. Ich habe damals schon empfunden, dass dieses Lächeln ein Lächeln des Mitleids war, dass man meinen Mann aber dennoch verstand, spätestens nachdem man mich gemustert hatte. Ich habe ihm deswegen nie Szenen gemacht. Aber ich bin auch nicht stehengeblieben. Ich habe mich fortgebildet. Ich wurde Mutter und habe mich trotzdem weiterentwickelt. Viele hatten das nicht für möglich gehalten, am wenigsten meine eigene Mutter. Aber dann bestand ich die Prüfung zur Fachwirtin. Ich wurde befördert, erhielt erheblich mehr Geld. Und als ich dann die Sparte der Gewerbeimmobilien verantwortlich übernahm, habe ich sogar mehr verdient als mein Mann. Nicht, dass ich darauf besonders stolz gewesen wäre oder war oder mir darauf irgendetwas eingebildet hätte. Aber ich habe aufgehört, zu meinem Mann aufzuschauen. Und plötzlich sahen mir auf den Empfängen dieselben Leute, die mir vorher auf meine Beine, meine Hüfte oder meine Titten geglotzt hatten, also dieselben Leute, die zu dicht an mir vorbeigingen, wenn sie sich ein neues Getränk holen wollten, dieselben Leute sahen mir jetzt in die Augen. Und ich stellte fest, dass sie noch viel kleiner waren als sie vorher gewirkt hatten. Mein Mann meinte es immer gut, wenn er mich mitnahm. Er glaubte, es würde mir gut tun, wenn ich 'mal raus' käme. Heute glaube ich, dass eher ich ihm einen Gefallen getan habe.

Das alles kommt mir so weit entfernt vor. Alles, was vor Marias Tod vorgekommen oder nicht vorgekommen ist, was schön oder unschön, erfreulich oder peinlich, glücklich oder schmerzhaft war, ist jetzt so weit entrückt, dass ich mich daran gar nicht mehr erinnern kann. Das heißt, erinnern kann ich mich schon, sogar sehr detailliert; vielleicht erinnere ich mich sogar exakter daran, kann ganze Dialoge so vortragen wie sie sich vor zehn oder zwölf Jahren exakt zugetragen haben. Aber ich kann diese Momente nicht mehr fühlen. Mir fehlt jede emotionale Bindung an das Geschehen. Ich sehe Menschen lachen, weinen, schreien oder still sitzend vor sich hinstarren, aber ich kann deren jeweiligen Gemütszustand nicht mehr nachempfinden. Alles hat auf einmal nur noch eine einzige Bedeutung, also keine.

Ich betrachte meine Hände und streichle die linke mit der rechten. Es erschreckt mich festzustellen, dass ich mich seit Marias Verschwinden und Tod zum ersten mal berühre. Bewußt jedenfalls. Aber irgendwie besteht eine Distanz zwischen mir und mir selbst, das heißt zwischen mir, meinem Ich und auch irgendwie meinem Körper. Ich fasse mich an, fühle die Berührung auch, aber ich empfinde nichts dabei. Keine Gemütsregung. Ich schlage mit der einen Hand auf die andere, erst langsam, dann schneller und heftiger. Ich möchte wissen, wo der Schmerz beginnt. Und als ich mich schlage, wahrhaftig schlage, stellt sich auch so etwas ein wie Schmerz oder das, was ich früher als Schmerz bezeichnet hätte. Und doch kommt der Schmerz oder das, was ich gerade mit mir tue, nicht bei mir an.

Ich versuche dasselbe mit einem Messer. Das geriffelte Küchenmesser, mit dem ich früher mit Maria Tomaten schnitt, um einen leckeren Tomaten-Mozzarella-Teller anzurichten. Ich ziehe es über meinen Handrücken. Haut zerschneidet sich leichter als man gemeinhin denkt. Das Blut läuft schnell über den Handrücken und obwohl man es durch das Drehen der Hand abfangen könnte, bildet es an der Handkante große Tropfen, die der beigefarbene Teppich gierig aufsaugt. Ich versuche, durch gezieltes Tropfen ein Muster in den Teppich zu malen, eines hereinzubrennen, das mich ewig an diesen Moment erinnern soll. Ein Herz. Ein Herz für meine Tochter. Ein unzertrennliches Zeichen unserer Liebe und Verbundenheit. Es gelingt mir gut. Man kann das Gebilde durchaus als Herz erkennen, auch ohne sich besondere Mühe zu geben. Für einen Moment habe ich richtig Gefallen an meinem Spiel. Doch fließt das Blut bereits spärlicher und um das Spiel am Leben zu erhalten, muss ich nachschneiden. Und dann fließt es wieder. Es pocht und brennt und pocht und gluckst und fließt. Auch pulsieren die Ströme leicht. Das pure Leben. Dieses ganz leichte, fast unmerkliche Pulsieren. Als ich vor knapp zwölf Jahren zum ersten Mal die Ultraschallaufnahmen auf dem Bildschirm sah, konnte ich es zuerst gar nicht erkennen. Das sanfte regelmäßige Schlagen des Herzens meiner ungeborenen Tochter. Der Arzt musste mich darauf hinweisen. Er zog einen Stift aus der Kitteltasche und klopfte damit gegen den Monitor. 'Da schlägt es! Sehen Sie nicht, wie es schlägt?'

Ich sehe auf den Boden. Mein Herz ist ein wenig unkenntlicher geworden, weil ich mich durch mich selbst habe ablenken lassen. Einige Tropfen sind in das Herz gelangt, andere darüber, darunter oder auch daneben. Das Herz ähnelt jetzt eher einem modernen Gemälde, abstrakter Kunst. Meine Mutter tritt auf mich zu. Sie greift nach meiner Hand und schreit mich an, was ich denn mache und dass ich anders mit der Situation umgehen müsse. Außerdem brauche mich Georg doch jetzt mehr denn je. Ja, ja, meine liebe Mutter. Immer schön Herrin der Lage sein. Nur nichts anmerken und schon gar nichts anbrennen lassen. Georg braucht mich also. Alle brauchen mich. Warum nur? Warum brauchen mich alle anderen so urplötzlich? Braucht überhaupt irgendjemand irgendwen? Wer setzt solchen Blödsinn überhaupt in die Welt? Und warum sind Menschen so einfältig, solche Phrasen als universelles Heilmittel zu sehen; so einfältig wie meine Mutter. Ich kann in diesem Augenblick eine Hitliste der Lebensweisheiten aufstellen, die ich als einfache Plattitüde gehüllt, innerhalb der nächsten Tage und Wochen von ihr serviert bekommen werde. Ganz oben steht 'Zeit heilt alle Wunden', dicht gefolgt von 'Was glaubst Du, was nach dem Krieg los war?' Bestimmt wirft sie mir auch ein entspanntes 'das Leben geht weiter' zu. Natürlich geht das Leben weiter. Fragt sich nur, wie.

Dieses Leben ist für mich bereits beendet, ohne dass ich etwas dazu getan hätte. Wenn meine Mutter also sagt, das Leben ginge weiter, so sprechen wir von zwei völlig verschiedenen Dingen. Vielleicht wird für mich ein neues Leben beginnen. Wann und wie das aussehen wird, kann niemand sagen, am allerwenigsten jedoch meine Mutter. Denn sie wird daran nicht teilhaben. In gewisser Hinsicht ist sie schuldig. Wo exakt ihre Schuld liegt und in welchen Dingen oder Situationen sie sich an mir und Henrike, an meinem Vater und was weiß ich noch wem, vergangen hat, kann ich nicht genau sagen. Oder doch, ich könnte tausend grauenhafte Dinge erzählen. Und dass sie schuldig ist, steht für mich fest. Sie ist schuldig, dass ich geboren wurde. Und dass dadurch indirekt Maria geboren wurde. Und dass sie jetzt tot ist. Warum die ganze Mühe? Warum denn nur der ganze Aufwand, die unerträglichen Schmerzen, das Formen, also das, was wir Erziehung nennen, wenn am Ende das Kind getötet wird? Da ist er wieder, dieser Blick meiner Mutter, wenn sie Zustimmung erwartet. Wenn sie erwartet, man möge sich ihrer Lebensweisheit unterordnen, ihrer Lebenserfahrung huldigen. Diese Hybris! Dieser Anspruch! Dieser gespielte Anspruch höheren Denkens und Fühlens einer einfachen Frau. Ich muss lachen. Immer fühlte sich meine Mutter einer anderen Kaste zugehörig, als der, der sie eigentlich entstammt und der sie nie entfliehen konnte und nie entronnen ist. Erst wähnte sie sich in anderen Sphären, dann ihren Ehemann, meinen Vater, dann Henrike und dann schließlich mich. Niemand hat sich dagegen gewehrt. Außer mir. Sie ist so provinziell. Alles an ihr ist klein, muffig, eingebildet, begrenzt und stark limitiert. Sie ist schlicht und einfach provinziell. Dabei aber eine grande dame. Sie erinnert mich an Henrike. Henrike kommt sowieso nach ihr, viel mehr als ich und ich war dafür noch niemals dankbarer als in diesem Augenblick.

Dieser Gedanke setzt sich in mir fest. Und ich muss weinen. Henrike kommt nach meiner Mutter, geformt nach ihrem Ebenbild und zu dem einzigen Zweck geboren, andere zu terrorisieren und ihnen Leid zuzufügen. Sie darf leben. Sie beide dürfen leben. Und Maria, die so gar nichts von diesem Menschenschlag hatte, musste sterben. Das ist ungerecht. Es ist ein Segen für die Familie und die ganze Menschheit, dass Henrike keine Kinder hat und hoffentlich wird sie niemals welche bekommen. Wenn ich mir vorstelle, sie hätte eine Tochter, die auch nur im Ansatz so wäre wie die Mutter und die Großmutter. Nein. Das ist wirklich unerträglich. Meine Mutter wendet sich wieder an mich. Sie faselt irgendetwas von Fotos von Maria, die ich noch nicht hätte und unbedingt einkleben soll. Ich will keine Fotos einkleben. Jetzt nicht, heute nicht. Morgen auch nicht. Und überhaupt nie möchte ich Fotos einkleben. Meine Mutter verursacht mir Brechreiz. Die ganze letzte halbe Stunde war mir latent schlecht. Aber jetzt, wenn ich mir dieses kleine Häufchen Elend betrachte, wird mir wahrhaftig übel. Ich kann sie nicht mehr sehen. Es gibt einen Moment in eines jeden Leben, da weiß man genau, definitiv und irreversibel, dass man mit einem Menschen fertig ist. Restlos und ein für allemal. Diesen Moment habe ich jetzt. Vielleicht habe ich meine Mutter nie geliebt, bis jetzt jedenfalls habe ich sie nur gehasst. Aber in einem einzigen Augenblick verfliegt die Liebe, nach einem weiteren der Hass und außer einem kleinen Bedauern, das hier und da hin und wieder kurz aufflackert, ist nichts mehr da. Man wünscht sich nichts mehr, man vermisst nichts mehr und man erwartet nichts mehr. An die Stelle all dieser bedauerlichen Inhalte, die wir Familie nennen, tritt eine erfüllende Leere, ein mit Gewissheit ausgefülltes Vakuum, dass wir nur vollständig allein glücklich sein können. Oder unglücklich.

Sie muss jetzt aus meinen Augen, und besser noch, aus meinem Leben verschwinden. Für immer. Ich kann die unglaubliche Befreiung bereits erahnen. Vielleicht nimmt sie auch die weltenschwere Last von meiner Brust, die nicht von mir gewichen ist. Ich muss sie verletzen, sie dazu zwingen, selbst zu gehen. Das Haus für immer zu verlassen. Mein Haus. Ich greife das Thema der Fotos wieder auf. Ich frage sie nach Kinderfotos. Nicht nach irgendwelchen. Nein, nein, so einfach kommt sie mir nicht davon. Ich frage sie nach Fotos von meinem Vater und mir. Ich weiß, das ist ihr wunder Punkt. Und bereits windet sie sich unsicher und nach einer Lüge suchend. Sie will wieder lügen, so wie sie es immer getan hat. Sie weiß, dass mein Vater sie gehaßt hat, aber die Kinder liebte, über alles. Sie hat deshalb alle Andenken dieser Liebe verbrannt. Sie konnte es nicht ertragen, dass er seine Kinder liebte, sie aber verabscheute. Ich fordere die Fotos. Sie sagt, es gebe keine, hätte nie welche gegeben. Und dass mein Vater es nicht mochte, fotografiert zu werden. Ah, wie sie lügt! Ohne rot zu werden und auch sonst ohne die geringste Scham. Ich sage ihr offen ins Gesicht, dass sie lügt und dass Liebe mit Fotogenität nichts zu tun hätte. Ich sage ihr, dass Vater an jedem einzelnen dieser Fotos große Freude gehabt hatte und weiterhin hätte, sogar an denen mit Henrike. Dass er erschüttert war, als sie sagte, die Fotos seien bedauerlicherweise bei dem Küchenbrand vor zehn Jahren vernichtet worden. Ich habe ihm einmal gesagt, ganz kurz vor seinem unnatürlichen Tod, dass ich glaube, Mutter hätte die Bilder mit voller Absicht verbrannt, ja wahrscheinlich sogar vorsätzlich die Küche angesteckt. Als bewahre man Fotos in der Küche auf, womöglich noch im Eisschrank, was? Er lachte. Er wußte. Hat aber nie seine Abscheu ihr gegenüber auf uns übertragen. Das machte und macht aus ihm einen wahrhaft großen Menschen.

Ich bin direkt vor sie getreten und habe mich kniend auf ihre Gesichtshöhe begeben. So ist es besser. Auge in Auge. Solch ein definitiver Schlußstrich muss Auge in Auge vollzogen werden. Keine Million Worte können das sagen, was die Augen transportieren. Ich sage ihr also ruhig und beherrscht, dass sie die Fotos verbrannt hat. Dass sie alles vernichtet hat, was zwischen uns und Vater war. Dass sie alles vernichtet hat, was zwischen ihr und uns war. Sie weint. Das ist ihre einzige Reaktion. Warum müssen alle um mich rum nur weinen? Sie ist aufgestanden. Endlich. Sie ruft in den Raum: "das Kind ist von Sinnen!" "Das Kind ist nicht von Sinnen" flüstere ich vor mich hin, "das Kind ist tot".

Als die Haustür zufällt schwört sie, das Haus nie wieder zu betreten. Sicher denkt sie, man habe ihr ein schreckliches Unrecht zugefügt. Aber sie wird es sich anders überlegen. Leider. Sie wird erst einmal Georg beeinflussen und der wird mich wieder weichkochen wollen. Wäre ja nicht das erste Mal. Dann wird sie es über Henrike versuchen. Da bin ich aber zuversichtlicher. Sie ist labil und von meinem Vortrag im Abort des Senders muss sie sich erst mal erholen. Wenn die beiden sich zusammenrotten, kann's richtig gefährlich werden. Aber was soll's, damit werde ich spielend fertig. Ich fühle mich gut. Irgendwie freier. Und die Aussicht meine Mutter tagelang, wenn nicht sogar wochenlang nicht zu sehen, erfüllt mich beinahe mit kindlicher Weihnachtsvorfreude.

Eine von den Vermissten

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