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3. Tag

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Auf den kalten und harten Fliesen meiner Küche wache ich auf. Meine linke Körperseite ist vollkommen kalt. Etwas steif versuche ich mich langsam und vorsichtig zu bewegen. Die Decke sieht mich an. Komisch, noch nie habe ich auf dem Küchenboden gelegen und an die Decke gestarrt. Ich lausche den Geräuschen des Hauses: der Kühlschrank ist gerade angesprungen und pfeift ganz leise vor sich hin. Mein Mann ist anscheinend schon gegangen. Ich kann jedenfalls nichts hören. Nichts Vertrautes und auch sonst nichts. Ist mir gerade recht. Ich möchte sowieso allein sein. Ganz allein. Als ich aufstehe, ist es plötzlich soweit. Es geschieht das, was ich einige Male gelesen habe, aber immer für recht unplausibel hielt, weil ich nicht so recht daran glauben mochte: Eine unerträglich drückende Last legt sich über meine Brust. Nicht kilo- oder zentnerschwer. Weltenschwer, schwerer und gewaltiger als ein Universum, als alle Universen zusammen. Aber es zerschmettert mich nicht. Auch erdrückt es mich nur bis zu einem gewissen Grad. Es kreist und engt mich ein, es schnürt mich ab, macht mich kleiner und kleiner und doch tötet es mich nicht. Warum tötet es mich nicht? Warum, um Gottes Willen, tötet es mich denn nicht? Doch ich weiß, was es ist. Und mir ist natürlich klar, dass es mich nicht töten wird. Jedenfalls nicht organisch. Die Bedrückung, die ich nie wieder loswerde, ist eine Verdichtung. Sie wird so sehr verdichtet, dass am Ende nur die reinste Gewissheit steht, nichts als Gewissheit: Meine Tochter ist tot.

Ich kann mich nur noch ansatzweise daran erinnern, was in diesem Moment passierte. Ich muß so etwas wie einen Verzweiflungszusammenbruch gehabt haben. Als ich wieder zu mir komme, ist die Küche total verwüstet, der Lampenschirm zerschmettert. Meine Hand hat stark geblutet, blutet immer noch, und als ich genauer hinsehe, bemerke ich die Glasscherben im Fleisch. Ich habe aber keine Schmerzen und ziehe die Scherben raus. Der Tisch ist an die Wand gedrückt, das Holz einer Ecke abgeplatzt. Küchenutensilien, Brot, Papiertücher und Milch, die sich über den Fliesen ergossen hat, liegen auf dem Boden. Ich bekomme keine Luft, atme hektisch und kann doch diese drückende Last nicht abschütteln. Mit den Händen versuche ich sie wegzuschieben. Aber vergebens, alles vergebens.

Im Bad sehe ich mein Gesicht, das völlig zerkratzt ist. Auch fehlen mir anscheinend Haare. Haare! Unter meinen Fingernägeln finde ich einige Fetzen Haut und Blut, aber keine Haare. Nicht ein einziges. Erneut sehe ich in den Spiegel. Und in meine Augen. Ich erkenne nicht mich. Auch keine andere Frau. Ich erkenne nur die Gewissheit, dass Maria nicht mehr lebt. Ich sehe das Gesicht meines Mannes im Spiegel, seine Frustration und seine Geilheit, seinen Schwanz endlich in mich reinzustecken. Ihn endlich und zwanghaft in mich reinzustecken! Ich lächle. Tatsächlich fliegt kaum wahrnehmbar ein Lächeln über mein Gesicht. Zum ersten Mal seit drei Tagen lächle ich! Als sei ich noch nicht genug besudelt!!! Als würden mir seine zwei Gramm Liebesmitleid fehlen!

Ich habe zwei, drei oder fünf Stunden von der Wohnzimmercoach in den Garten gestarrt. Noch nie ist mir die Ruhe aufgefallen. Die Vögel hüpfen beschwingt über den Rasen und hin und wieder jagt eine Schwalbe eine andere. Das Türschloß geht. Mein Mann kommt ins Wohnzimmer und eröffnet mir, dass wir morgen einen Termin hätten. Die Polizei und 'diverse' Radio- und Fernsehstationen würden einen Appell an die Entführer ausstrahlen. Unseren Appell. Hat er mit mir darüber gesprochen? Ich erinnere mich nicht. Kann aber sein. Glaube ich jedoch nicht. Er geht wahrscheinlich davon aus, dass ich damit natürlich einverstanden bin oder mehr noch: Mir nichts sehnlicher wünsche. Aber ich will keinen Appell richten. An niemanden und zu keiner Zeit. Ich möchte nicht in Kameras sehen und zu einer Horde Mikrofone sprechen. Wozu auch? Meine Tochter ist tot. Der Mörder würde mein Bitten und Flehen hören und sehen. Was würde er fühlen? Er wäre gelangweilt. 'Schnee von gestern' würde er denken und den Stand-by-Schalter des Fernsehers drücken, lust- und emotionslos, so wie man die Tageszeitung von gestern nonchalant in den Müll gleiten lässt. Während wir um eine Vergangenheit betteln würden, die es nicht mehr gibt, würde er sich einer anderen Zukunft zuwenden. Während wir um ihr Leben winseln würden, würde er sich vielleicht mit einer Serviette die Pizzareste aus dem Gesicht wischen. Ich sage meinem Mann, dass ich ihn nicht begleiten werde. Er könne ruhig gehen und ich würde ihn mir im Fernsehen anschauen. Er sieht mich an, wie er mich noch nie angesehen hat. Aber ich kann damit nichts anfangen. Ich weiß nicht, was er mir damit sagen will. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was er mir mit irgendeiner seiner Gesten sagen will oder nicht. Ist er böse? Fassungslos? Enttäuscht? Ist er wütend? Was will er? Er kommt auf mich zu, packt und schüttelt mich. Er brüllt mich an, ich solle doch endlich wieder zur Vernunft kommen. Was meint er nur damit, ich solle zur Vernunft kommen? Ich war die ganze Zeit vernünftig. Und was heißt hier 'wieder'? Mir wird klar, dass er das 'wieder' auf die kleine Episode im Bad bezieht. Er meint, ich sei schuld, dass er mich nicht ficken konnte. Ich schüttle den Kopf. Aber er gibt nicht auf, lässt nicht locker. Wieder reißt er mich von der Coach hoch. Ich glaube er wird mich schlagen. Noch nie hat er mich geschlagen. Ich ihn auch nicht. Aber das ist okay. Ich erwarte seine Schläge. Wenn ihn das beruhigt, schön. Ich habe keine Angst vor seinen Schlägen. Auch nicht vor den Schmerzen. Ich kann sie nicht mehr fühlen, diese Schmerzen. Oder jene. Mir wird klar, dass ich ihm etwas anbieten muss, irgendetwas. Als Kompensation sozusagen für meine Ablehnung, dieser Pressekonferenz beizuwohnen. Ich sage, wenn er wolle, könne er mich jetzt ficken. Sofort und gleich hier auf dem Sofa. Ich lehne mich zurück, spreize meine Beine und lockere meinen Bademantel. Er weitet die Augen, sagt nichts mehr, dreht sich um und verlässt den Raum.

Eine von den Vermissten

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