Читать книгу Eine von den Vermissten - Harry Peh - Страница 3
Es verschwindet
ОглавлениеAls ich die beiden jungen Polizisten in der Eingangshalle der Wache nach der Zuständigkeit für vermisste Personen fragte, war mein Leben im Begriff zu enden während ihres vermutlich gerade erst richtig begann.
Sie brachten mich in einen ungefähr sechzehn Quadratmeter großen Raum. Für meinen Geschmack war er etwas zu dunkel, mit viel zu alten Möbeln eingerichtet, und roch außerdem muffig. Vielleicht wurde er ja auch nicht so häufig benutzt oder diente eigentlich als Abstellraum, den die Polizei bei Bedarf dann und wann als Gesprächszimmer reaktivierte. Wie dem auch sei, ich fühlte mich von Anfang an unwohl, verdrängte diese Nebensächlichkeit aber gleich, weil es um etwas viel Wichtigeres ging: Meine Tochter Maria.
Meine Tochter war seit etwa drei Stunden überfällig und ich machte mir große Sorgen. Nachdem ich mich versichert hatte, dass Maria weder bei meinem Mann oder meiner Schwester, meiner Mutter, in der Schule, oder bei einer ihrer Freundinnen war, beruhigte ich mich zunächst mit einer extra halben Stunde des Wartens, dann mit noch einer. Ich starrte pausenlos aus dem Küchenfenster den Weg hinauf bis die leichte Wegbiegung hinter dem Hügel verschwindet. An diesem Punkt, dachte ich, müsste sie eigentlich jeden Moment auftauchen. Wenn ich zurück auf die Terrasse ging, oder auf die Toilette, oder zum Kühlschrank, bei jedem Geräusch unterbrach ich das, was ich gerade tat oder tun wollte und eilte zum Fenster. Doch mein Kind kam nicht.
Ein fettleibiger, etwas ungepflegter Beamter deutete mir ohne Umschweife mich zu setzen. Es käme ja leider immer häufiger vor, dass hysterische Mütter sofort zur Polizei rannten, wenn ihre Gören sich mal verlaufen hätten, grunzte er in seine schwülstige Halspartie. Und außerdem hätten er und die Kollegen ja auch noch etwas anderes zu tun als Vermisstenanzeigen aufzunehmen, die sich hinterher sowieso in Luft auflösten. Mein Puls erhöhte sich merklich, doch entgegnete ich nichts. Durch meinen Beruf bin ich es gewohnt, mit Ignoranten umzugehen und sie trotz ihrer Borniertheit dort hin zu bringen, wo ich sie hinhaben wollte, machte einen Teil meines beruflichen Erfolges aus. Ich schlug ein Bein über das andere und lehnte mich so entspannt es ging an die harte Lehne des Holzstuhles. Er starrte einen Moment auf mein Knie und leckte sich über seine Lippen. Zwei weitere Beamte betraten den Raum, kramten irgendwelche Formulare aus einem Holzschrank hervor, der mich irgendwie an meine Schulzeit erinnerte. Auch sie schienen mich zu mustern. Als sie sich umdrehten, blieben sie noch einen Moment in der Tür stehen und tuschelten sich etwas zu, das ich nicht verstand. Mit dem Rücken zu ihnen gedreht, spürte ich aber, dass sie sich darüber unterhielten, wie es wohl mit mir im Bett sei.
Der Beamte spannte drei identische Formularsätze, die er akribisch mit Blaupapier getrennt hatte, in eine alte, mechanische Schreibmaschine. Er stellte sich dabei sehr ungeschickt an, musste sein Unterfangen zweimal wiederholen und kam mir vor wie ein Kind, das versucht, eine Lokomotive auf eine Schiene zu setzen. Ich musste mein Lachen unterdrücken. Um mich abzulenken und zu sammeln, schloss ich einen Moment die Augen. Dann betrachtete ich das Zimmer. Die schäbigen Wände säumten verschiedene Motive von polizeilichen Aufklärungs- und Hinweispostern, die allesamt etwas abgewetzt, mit verblichenen Farben fast alles ihrer ohnehin nie dagewesenen Glaubwürdigkeit verloren hatten. Links von mir stand an der Wand ein mittelgroßer Holztisch, mit zerkratzter und abgenutzter Platte, den man zur Vermeidung des Kippelns unter zwei Beinen mit irgendwelchen zusammengefalteten Formularen abgestützt hatte. Zur Beleuchtung des Raumes hing eine nackte Glühbirne tief von der Decke. Die Armaturen und das Abflussrohr des Waschbeckens waren so weiß von Kalkrückständen und außerdem mit dunklen Rändern überzogen, dass ich daran zweifelte, ob überhaupt noch Wasser fließen würde.
Von ihm aus könne man jetzt beginnen. Der Beamte fragte zunächst wie es denn hieß, das Mädel. Dann Alter, Adresse und Größe. Und ob es ein Handy hätte. Sei doch heute Gang und gebe, dass die Alten Hunderte von Euro monatlich fürs Telefonieren der Gören ausgaben. Nur wenn man sie mal erreichen wollte, gingen sie nicht ran. Ja, ja, die Jugend von heute… Ich bestätigte, dass ich meiner Tochter bereits mehrfach auf die Mailbox gesprochen hatte. Ein sichtlich freundlicher, fast herzlicher Ausdruck legte sich jetzt auf sein Gesicht. Er meinte, ich hätte seine allgemeinen Ansichten bestätigt und wie zur Selbstbeweihräucherung streichelte er mit der rechten Hand seinen Bauch, so als habe ihm etwas gut geschmeckt. Er wollte wissen, ob ich denn schon alle Möglichkeiten seines eventuellen Verbleibens 'gecheckt' hätte, 'Omma, Oppa und die ganze Famille'. Ich sagte, dass niemand in der Familie von ihr etwas gehört hatte, dass ich bereits in der Schule mit den Lehrern gesprochen und außerdem die Eltern ihrer Freundinnen angerufen hatte. Sie hätte mir das sowieso gesagt, fügte ich nach einer Pause hinzu. Na, dass ich mir da mal nicht so sicher sein sollte. Heutzutage wüssten doch die meisten Eltern gar nicht, was die Gören so alles anstellten. Jedes Kind machte dieses und jenes, nur das eigene nie! Er kenne das. Was ich wohl meinte, wie viele Eltern aus allen Wolken fielen, wenn man ihre Gören beim Klauen, beim Schwänzen oder beim Haschen erwischt? Ich würde es ja gar nicht glauben! Doch in Mutmaßungen solle man sich hier nicht ergehen. Ob ich denn auch an die Möglichkeit eines Freundes gedacht hätte? Heutzutage - und hier unterbrach er, um das genaue Alter von Maria noch einmal nachzurechnen - fingen sie ja früh an, die Gören. Ich sagte ihm, dass meine Tochter gerade elf geworden ist und sich für Jungen noch nicht interessierte, dass sie den Nachmittag lieber mit den Pferden verbrachte. 'Pferde!' wiederholte er und lächelte ein wenig. Diesen Fall könne man geradezu als klassisch bezeichnen. Ja, ja, erzählen, sie sind bei den Pferden und in Wirklichkeit drücken sie sich mit einem Bengel auf 'ner Matratze rum. Er kenne das zur Genüge. Ob es denn mit mir schon über die Pille gesprochen hätte. Ich war für einen Moment sprachlos. Jetzt müsste ich wohl doch eine andere Form anmahnen. Der Beamte fuhr in seinen Betrachtungen fort. Vielleicht sei sie ja auch mit der Erziehung nicht einverstanden und wollte abhauen. Er fragte, ob mein Verhältnis zu dem Mädchen normal sei. Außerdem wollte er wissen, wie es in der Schule mitkomme. Ich sagte, dass es keine Probleme gibt, weder zu Hause, noch in der Schule. Da könne ich mal sehen, wie schnell man sich täuschen kann. Die meisten Leute berichteten von einer häuslichen Idylle, während sie vor ihm saßen. Aber ich bräuchte mir bestimmt keine Sorgen machen. Er wies darauf hin, dass ich ihn doch bitte kurz anrufen solle, damit er den Vorgang wegschmeißen könne, denn sicherlich wartete es bereits zu Hause auf mich.
Doch wartete zu Hause niemand auf mich, am allerwenigsten mein Kind. Den Rest des Tages wartete ich am Fenster der Küche auf Maria oder telefonierte alle zehn Minuten mit den Menschen, die ich bereits fünfzig Mal angerufen hatte. Die ganze Nacht saß ich in der Küche und betete, meine Tochter möge doch kommen. Doch sie kam nicht. Kein Zeichen, kein Anruf, keine Spur. Als der neue Tag anbrach, hockte ich noch immer vor dem Fenster. Alles war so wie immer. Die Nachbarn gingen wie gewöhnlich vorüber und grüßten. Aus der Ferne konnte man wie immer das Geräusch der großen Stadt vernehmen. Die Bäume und Blumen wiegten sich in den Wind wie immer. Nur Maria fehlte.