Читать книгу Eine von den Vermissten - Harry Peh - Страница 4
1. Tag
ОглавлениеMein Kind ist entführt worden. Auch wenn sich noch niemand bei uns gemeldet hat und irgendwelche Forderungen stellte, weiß ich, dass jemand mein Kind entführt hat. Soviel ist immerhin gewiss. Die Menschen sagen immer, das Schlimmste sei die Ungewissheit. Für mich gilt das nicht. Für mich war diese Gewissheit das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Zu wissen, definitiv zu wissen, dass irgendjemand da draußen, meine Tochter, mein Mädchen, mein Baby entführt hat, treibt einen in den Wahnsinn. Warum passiert das nur mir? Oder ich müsste besser sagen: Uns. Denn mein Mann ist genauso verzweifelt wie ich, obwohl sich diese Verzweiflung bei ihm anders darstellt. Ich glaube, das liegt an der völlig unterschiedlichen emotionalen und intellektuellen Wahrnehmung von Männern und Frauen. Er versucht mich zu trösten, mir Mut zuzusprechen, mich aufzubauen. Natürlich kann er das nicht. Ich kann es ja selbst nicht. Dabei gelingt es ihm zumindest nach außen, sein normal geregeltes Leben weiterzuführen. Das unterscheidet uns. Ich kann das nicht. Und ich will es auch nicht. Ich will nur, dass meine Tochter zurückkommt.
Ich frage mich erneut: Warum passiert das gerade uns? Ich habe niemandem etwas getan, jedenfalls nicht bewusst oder bösartig. Meines Erachtens gilt das auch für meinen Mann. Und für Maria sowieso. Was sollte meine Tochter überhaupt irgendjemandem antun können? Jetzt - vielleicht sogar exakt in diesem Moment - tut irgendjemand meiner Tochter etwas an. Vielleicht friert sie, hat Hunger oder Durst oder alles zusammen. Wahrscheinlich alles zusammen. Und sie muss Angst haben, furchtbare Angst. Ich fühle, dass sie Angst hat. Hoffentlich wird ihr nichts angetan. Der Gedanke, jemand würde meiner Tochter wehtun, tut mir weh. Er tut mir so weh, dass er mich tötet. Er ist überall, im Kopf, im Herzen, in den Augen, der Nase, den Ohren, meinen Fingerspitzen, überall an der Haut. Er sitzt in den Gelenken, auf den Knochen, in jeder Ritze und in jeder Körperöffnung. Und man kann ihn nicht beseitigen. Ich habe das auch nicht geglaubt und nicht gehofft. Aber ich habe gedacht, bei dem lausigen Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagen würde, also bei dem Wind und endlosem Regen, dass man ein wenig klarer und schmerzbefreiter die Dinge betrachten könnte. Doch das stimmt nicht. Der Schmerz ist immer dabei und selbst der Wind wiegt ihn in den Haaren, wenn man durchnässt in das Haus zurückkehrt.
Warum passiert das gerade uns? Je länger sich diese Frage in meinem Hirn festnagelt, desto mehr hasse ich mich und die Beschäftigung mit ihr und schließlich hasse ich die Frage selbst, die Frage an sich. Sie ist absurd, und zwar in doppeltem Sinne. Erstens, weil uns ja eigentlich gar nichts passiert. Es passiert Maria, meiner Tochter, meinem Kind. Sie ist irgendwo da draußen, allein und niemand ist bei ihr. Warum bin ich nicht bei ihr? Warum habe ich genau in diesem Moment versagt, versagt als sie jemand gewaltsam verschleppte? In wie vielen Momenten vorher habe ich in meinem Leben versagt, wo man sie gewaltsam hätte verschleppen können? Was hatte ich nur Wichtigeres zu tun als sie vor diesem oder diesen Irren zu schützen? Ich denke zu viel an mich.
Der zweite Grund, weshalb die Frage absurd ist, ist folgender: Wem außer uns soll denn so etwas passieren? Als würde ich irgendjemandem derartige Schmerzen wünschen! Das ist nicht der Fall. Und doch hofft man wie immer in einer solchen Situation, es möge nicht einen selbst, sondern den anderen treffen, obwohl man das nicht wirklich möchte. Wie oft denke ich, wenn ich von all den alltäglichen Katastrophen in den Zeitungen lese, wie oft denke ich bei all den Flugzeugkatastrophen, Überfällen, Gasexplosionen, Häuserbränden, Selbstmordattentaten, tödlichen Autounfällen und ähnlichem: Wie gut, dass Du und Deine Familie nicht betroffen sind oder dass ich froh bin, nicht zum Zeitpunkt der Tat vor Ort gewesen zu sein. Für den Moment beruhigt mich das. Es beruhigt mich, wenn die Toten oder die abtransportierten Leichenteile nicht das Antlitz meiner Lieben tragen. Es beruhigt mich, wenn das mit 200 Km/h unter den Laster geraste Auto nicht das meines Mannes ist. Wenn ich im Fernsehen das Auffinden eines vergewaltigten und erdrosselten Kindes verfolge, bin ich erschüttert und froh, dass es nicht mein eigenes ist. Ich habe mich noch nie gefragt, ob dieser Gedanke normal ist.
Die richtige Frage müsste also lauten: Warum passiert so etwas meinem Kind? Warum hat man nicht mich entführt? Wahrscheinlich ist das schwieriger. Ja, es ist schwieriger, eine erwachsene Frau zu entführen, weil sie sich wahrscheinlich wehren würde. Sie könnte treten, schlagen, kratzen und schreien. Vor allem schreien. Maria kann das auch. Aber nicht so laut und nachhaltig wie ich. Sie ist alles in allem wehrlos. Irgendwo habe ich einmal gelesen, es treibt geistesgestörte Triebtäter in eine Art prä-koitalen Zustand, wenn sein Opfer wehrlos ist. Dieses Gefühl der sicheren Überlegenheit der eigenen Macht paare sich mit einer Form der sexuellen Erregung. Man habe festgestellt - so hieß es in dem Artikel weiter - dass sich diese Art der Erregung nicht einstellt, wenn sich das Opfer wehrt oder vom potentiellen Täter als nicht oder nicht genügend wehrlos eingeschätzt wird. Wieder glaube ich, versagt zu haben. Ich hätte ihr von den ersten Kindestagen an beibringen müssen, zurückzuschlagen. Und zwar präventiv.
Ich erschrecke, als ich bemerke, dass meine Gedanken um einen Triebtäter kreisen. Nüchtern betrachtet, habe ich dafür keinen Anhaltspunkt. Vielleicht handelt es sich gar nicht um einen Triebtäter. Vielleicht sind es ja Entführer und wollen Geld. Wir sind nicht reich. Aber mein Mann und ich sind - jeder für sich - in unseren Berufen sehr erfolgreich und was andere Menschen als Reichtum betrachten würden, zähle ich dem gehobenen Mittelstand zu. Wir wohnen in einem schönen Haus, in einer guten Gegend. Wir fahren mehrere Autos. Wir besitzen außerdem ein Ferienhaus in der Toskana und mir gehört eine kleine Wohnung in Marbella. Ist als Altersvorsorge gedacht. Uns und unserer Tochter mangelt es an nichts. Wir machen einmal im Jahr gemeinsam Urlaub, soweit die Zeit es erlaubt. Alles in allem sind wir eine normale Familie wie jede andere auch. Sicherlich könnte man von uns eine bescheidene Menge Geld erpressen. Aber längst nicht so viel, um für den Rest seines Lebens ausgesorgt zu haben. Und für diesen Zweck begeht man doch Entführungen, nicht wahr? Man holt sich irgendwo einige Millionen und verschwindet dann im Ausland. Ich glaube nicht an eine Lösegelderpressung. Mein Gefühl sagt mir, dass ein gestörter Mensch meine Tochter in seiner Gewalt hat. Ich glaube, dass er ihr schrecklich wehtut. Und das tötet mich.
Ich stehe vor dem Badezimmerspiegel und weine. Ich glaube, er wird mein Kind vergewaltigen oder tut es gerade oder hat es schon getan. Mein kleines Mädchen! Sie ist doch noch ein Kind und noch nicht im Ansatz als Frau ausgebildet. Ihre Brust formt sich erst und auch sonst ist sie von der Figur und Körpergröße her noch ein Kind. Ich versuche mir exakt den Moment in Erinnerung zu rufen, wann ich Maria das letzte Mal nackt gesehen habe. Es gelingt mir nicht. Irgendwann in der letzten Woche. Aber wann genau? An welchem Tag? Um welche Uhrzeit? Mir wird schlecht. Ich muss mich übergeben und würge fünfzehn oder zwanzig Mal, vielleicht an die dreißig Mal bis nur noch eine kleines grün-weißes Schaumhäufchen der Galle im Waschbecken als kleines Rinnsal im Ausguss verschwindet.
Ich muss mich anbieten. Als Austauschgeisel sozusagen. Ich lasse über die Polizei und das Radio und das Fernsehen und über Zeitungen verbreiten, dass ich mich gegen mein Kind eintausche. Wenn der Täter ein sexuelles Interesse an meinem Kind hat, ist er eigentlich mit mir besser bedient. Ich bin 1,78 Meter groß, habe eine sehr gute Figur (das sagt jedenfalls jeder unserer Freunde und alle in der Firma) und sehe auch sonst gut aus. Meine Beine sind lang und attraktiv geformt. Das ist es doch, worauf Männer achten, oder? Einige meiner solventen Kunden haben mir traumhafte Angebote in Aussicht gestellt, ginge ich privat einmal mit ihnen aus. Und manche von ihnen sind sogar zudringlich geworden. Ich habe sie abgewehrt. Sanft aber bestimmt. Sie taten dann so, als sei alles nur ein Scherz gewesen. Ein Scherz in Champagnerlaune. Sie sind eben Gentlemen. Sie alle sagten, ich strahle das gewisse 'Etwas' aus. Schöne Oberweite, lange Beine und so weiter, und so weiter. Aber ich bin nicht auf Sex mit meinen Kunden aus und war es nie. Ich weiß gar nicht warum nicht. Alle in der Firma haben Verhältnisse hier und da, klagen mir in den kurzen Pausen ihren Kummer und ihr Leid, ständig mit Versprechungen hingehalten oder mit der Ehefrau verglichen zu werden. Mir ist das zu kompliziert. Wahrscheinlich bin ich nicht eitel oder selbstverliebt genug, um mich derart zu erniedrigen. Mit der Liebe zu meinem Mann hat das wenig zu tun. Auch wir haben bessere Zeiten erlebt, in jeder Hinsicht. Wir schlafen ein, zweimal pro Monat miteinander und obwohl mir das nicht ausreicht, habe ich mich damit arrangiert. Er ist ein anständiger Kerl, charakterlich okay und kümmert sich um die Familie. Mehr kann man heute nicht erwarten. Wenn der Triebtäter also Sex will, könnte er mich gegen mein Kind eintauschen. Wenn ich dafür von dem Triebtäter meine Tochter wiederbekomme, dann bitte sehr. Soll er mich doch benutzen, missbrauchen und vergewaltigen. Meinen persönlichen Schmerz kann ich ertragen, den meiner Tochter nicht. Mein Leben wäre zerstört, das meiner Tochter nicht. Sie ist doch noch ein Kind. Ich bin vierzig Jahre alt.