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Lügen

Mit den ausgedachten Geschichten kommt nun eine ganz besondere Eigenheit der Sprache ins Spiel: Sie ist nicht an die Wahrheit “gefesselt“. Die sprachlichen Aussagen können frei erfunden sein (wovon mancher Philosoph weidlich Gebrauch gemacht hat und noch macht). Das bedeutet zweierlei: Man kann über Dinge sprechen, von denen man keine Ahnung hat, ja, die es gar nicht gibt (notfalls muss man ein neues Wort kreieren), und man kann absichtlich die Unwahrheit sagen. Die letztere Tätigkeit bezeichnet man bekanntlich als lügen, auf Neudeutsch “Fake News verbreiten“, und welche katastrophalen Folgen das für Politik und Gesellschaft hat, erleben wir täglich. Aber wir dürfen auch die “feingesponnenen“ Lügen (von denen der Volksmund optimistischerweise glaubt, dass “sie doch ans Licht der Sonnen kommen“) nicht vergessen.

Die Lüge verdient es somit, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Die einfachste Lüge ist die “mit den kurzen Beinen“. Das heißt, sie ist schlicht zu plump, um längere Zeit aufrechterhalten werden zu können. Aber oft fehlt einem einfach die Zeit, sich eine geschicktere Lüge (oder einfach eine gute Ausrede) auszudenken. Es ist wohl kein Zufall, dass schon unsere tierischen Verwandten von der Lüge Gebrauch machen. Erinnern wir uns daran, dass Irreführung und Täuschung zu den Erfolgsstrategien der Evolution gehören! So berichteten die beiden Forscher Dorothy Cheney und Robert Seyfarth, was sie in Kenia an grünen Meerkatzen beobachtet hatten:

Eines Tages tauchte in einer Baumgruppe unweit der von ihnen beobachteten Gruppe von Affen ein fremdes Männchen auf. Solche Einzelgänger sind stets darauf bedacht, sich einer Gruppe anzuschließen und bei dieser Gelegenheit auch gleich die Macht an sich zu reißen. Das dominante Männchen der Gruppe ist daher über den Anblick eines solchen Außenseiters alles andere als erfreut. Als dieser von seinem Baum herunterkletterte und sich anschickte, das offene Land in Richtung auf die Baumgruppe zu überqueren, in der sich die Affen aufhielten, griff der Chef zu einer List. Er stieß nämlich den allen bekannten vertrauten Laut aus, der Leopardenalarm signalisiert. Der Eindringling schoss wie erwartet zurück auf den sicheren Baum. Das Spiel wiederholte sich ein zweites Mal. Doch dann beging der Chef einen entscheidenden Fehler. Er stieß den Warnruf aus, während er selber über die freie Fläche spazierte. Damit hatte er jedoch den Bogen überspannt. So dumm kann man doch wohl nicht sein zu glauben, dass sich jemand derartig leichtsinnig der Gefahr aussetzt, von einem Leoparden gefressen zu werden, das war so ungefähr das, was dem Eindringling durch den Kopf ging. Moral der Geschichte: Lass dich beim Lügen nicht ertappen! (Das gilt im besonderen für fremdgehende Ehemänner.)

Um mit einer Lüge durchzukommen, ist es oft nötig, sie durch eine weitere Lüge “abzustützen“. Auf diese Weise entsteht dann manchmal ein kunstvolles Lügengebäude, das von der Intelligenz seines Schöpfers, beispielsweise eines Hochstaplers oder eines Heiratsschwindlers, zeugt. Allerdings bleibt es immer ein fragiles Gebilde. Es bricht zusammen, wenn nur ein einziger Baustein herausfällt. Oft genügt schon ein dummer Zufall, mit dem der Konstrukteur nicht rechnen konnte, alles Erreichte zunichte zu machen. Aber man kann eben nicht an alles denken!

Beispielsweise scheiterten in der ehemaligen DDR untergetauchte RAF-Terroristinnen daran, dass ihnen ihre neuen Arbeitskollegen und Bekannten nicht abnahmen, dass sie seit jeher in der DDR gelebt hätten. Der Grund war, dass sie einige DDR-spezifische Vokabeln nicht kannten. – Nichtsdestoweniger bleibt die Lüge und ihre Widerlegung ein zentrales Thema der Strafjustiz.

Uber die bloße Lüge hinaus geht die Entwicklung intelligenter Strategien durch Kriminelle. So muss man es beispielsweise als eine besondere Intelligenzleistung würdigen, wenn Lücken in Gesetzen, insbesondere Steuergesetzen, aufgespürt und konsequent ausgenutzt werden. Und wir erinnern uns auch gern an Dagobert. Wie er die Polizei an der Nase herumgeführt hat, war schon wirklich bewundernswert.

Hohe Anforderungen an die Intelligenz stellt auch das Doppelleben, das Spione häufig führen müssen. Wie weit das gehen kann, zeigt der Fall des Atomspions Klaus Fuchs. Er bekannte, dass er vor seiner Enttarnung in einer Art selbsterzwungener Schizophrenie lebte. Sein Bewusstsein war säuberlich in zwei Bereiche getrennt: Der eine betraf seine (angesehene) soziale Stellung im Kreis seiner Kollegen (bezeichnenderweise konnte es von denen zuerst keiner glauben, dass er zum Verräter geworden sein sollte) mit all den zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie sich normalerweise entwickeln, während der andere seiner Spionagetätigkeit Vorbehalten blieb. Dass es ihm gelang, diese Spaltung über Jahre hinweg durchzuhalten, ist sicher eine beeindruckende intellektuelle Leistung.

Es gibt jedoch eine Form der Lüge, die wir bedenkenlos verwenden, ja des öfteren für moralisch gerechtfertigt oder sogar notwendig erachten. Ich meine die Lüge aus Höflichkeit. Wie heißt es doch in Goethes “Faust“? “Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.“ (Ich denke allerdings, dass man dieses Problem in jeder Sprache hat.) Oft lügen wir aber auch aus Mitgefühl. Wo kämen wir denn hin und was könnten wir anrichten, wenn wir dem (der) anderen immer die “reine Wahrheit“ ins Gesicht sagen würden? Etwa über das Aussehen oder die Heilungschancen bei einer schweren Krankheit. Tatsächlich muss man, um ein Zusammenleben zu ermöglichen, seine wahre Meinung oft verbergen. Aber es existiert eine Art “Grauzone“, in der Sachverhalte nur angedeutet werden. Man überlässt es dann dem Gesprächspartner, “sich seinen Teil zu denken“. Das gilt seit eh und je auch in der Politik. Dort spricht man von Diplomatie, und die Kunst besteht darin, den anderen “zwischen den Zeilen lesen“ zu lassen.

Dazu noch ein Beispiel für eine ungewöhnliche Form der Höüichkeit! Der Däne Niels Bohr war nicht nur einer der Großen der Physik, sondern zugleich ein großartiger Mensch. Er hatte sein Institut in Kopenhagen zu einem Mekka für junge Theoretiker gemacht, und er wurde von ihnen geliebt wie kein anderer Lehrer. (Bei einem Besuch der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften antwortete er auf die Frage, wie es ihm gelungen sei, eine so erstklassige Schule von Physikern aufzubauen: ”Vermutlich, weil es mir niemals etwas ausgemacht hat, meinen Studenten zu gestehen, dass ich ein Esel bin.“) Und er praktizierte eine ausgesuchte Form von Höflichkeit. So vermied er es grundsätzlich, eine wissenschaftliche Arbeit, von der er nichts hielt, als falsch zu bezeichnen. Statt dessen pflegte er zu sagen: “Das ist interessant“ mit der Steigerungsform “Das ist sehr interessant“. Alle wussten Bescheid, wie es gemeint war, aber der Vortragende konnte “sein Gesicht wahren“. Im Gegensatz zu Bohr war der geniale Physiker Wolfgang Pauli ein Zyniker. Er erfand als vernichtendes Urteil über eine Arbeit die Formulierung: “Das ist ja noch nicht einmal falsch! “

Plauderei über natürliche und künstliche Intelligenz

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