Читать книгу Ende einer Selbstzerstörung - Hartmut Zwahr - Страница 10
ОглавлениеVorspiel: We shall overcome
Leipzig am 25. September 1989
Zur ersten in sich geschlossenen Leipziger Montagsdemonstration kam es dann am 25. September.60 Die Medien von ›drüben‹ verpaßten sie glatt. Noch am Tag darauf, während der Fürbitt-Andacht in der Ost-Berliner Gethsemane-Kirche, flossen die Informationen spärlich. Immerhin wußte man von einer Straßendemonstration durch die Stadt, von etwa acht- bis zehntausend Teilnehmern, dem Gesang der Internationale und dem Freiheitsruf.61 Die Andacht hatte um 17.00 Uhr begonnen, wie gewöhnlich; gegenüber den Vorwochen hatte die Teilnehmerzahl mit zweitausend in der Nikolaikirche und mindestens ebenso vielen vor ihr erheblich zugenommen. Pfarrer Führer verlas zu Beginn einen Protest des Kirchenvorstandes und der Superintendentur Leipzig-Ost gegen den Polizeieinsatz am 18. September. Die Kirche erwarte vom Rat der Stadt, Abteilung Inneres, künftig den Verzicht auf eine »derartige Machtdemonstration staatlicher Organe«. Außerdem werde erwartet, daß »seitens staatlicher Stellen die Entstehung öffentlicher Protestgruppen zum Anlaß genommen wird, Angebote eines öffentlichen Dialogs zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation zu entwickeln und zu ermöglichen«.62 Die Verständigungsformel Dialog war dabei, die Köpfe zu erobern; sie zerbrach, als sie zum Abwiegeln der Straßendemonstrationen benutzt wurde. Termine zu Fürbittandachten für Inhaftierte wurden bekanntgegeben, angekündigt, daß zur »Entlastung« des Montagsgebets in der Nikolaikirche und zur »Erweiterung der Basis« weitere Leipziger Kirchen sonnabends geöffnet würden.
Pfarrer Wonneberger, Leipzig, sprach das Montagsgebet zum Thema Gewalt: »Mit Gewalt ist der Mensch durchaus zu ändern. Mit Gewalt läßt sich aus einem ganzen Menschen ein kaputter machen, aus einem freien ein Gefangener, aus einem Lebendigen ein Toter … Wer anderen willkürlich die Freiheit raubt, hat bald selbst keine Fluchtwege mehr. Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen. Das ist für mich keine grundsätzliche Infragestellung staatlicher Gewalt. Ich bejahe das staatliche Gewaltmonopol. Ich sehe keine sinnvolle Alternative. Aber: Staatliche Gewalt muß effektiv kontrolliert werden – gerichtlich, parlamentarisch und durch uneingeschränkte Mittel der öffentlichen Meinungsbildung. Staatliche Gewalt muß sinnvoll begrenzt sein: Unser Land ist nicht so reich, daß es sich einen so gigantischen Sicherheitsapparat leisten kann. ›Die Verfassung eines Landes sollte so sein, daß sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniert‹ – so schrieb der polnische Satiriker Stanislaw Jerzy Lec vor 20 Jahren. Da müssen wir die Verfassung eben ändern.«63
Die »Organe«, die vermutlich einen Tonbandmitschnitt anfertigten, wählten zwei Kernsätze für die Berichterstattung aus: Wer den Knüppel zieht, muß auch den Helm tragen und Wenn die Verfassung nicht dem Bürger nützt, muß die Verfassung geändert werden. Mitglieder des von Pfarrer Wonneberger geleiteten Arbeitskreises »Menschenrechte« entfalteten einzelne Gebetsinhalte zu Fürbitten, so für in der DDR und in der ČSSR Inhaftierte und für Polizisten, die »gegen ihren Willen die Staatsmacht verkörpern müssen«.
Nach Übernahme der im altvorstädtischen Leipziger Osten gelegenen Pfarrstelle in Volkmarsdorf, 1985, durch Christoph Wonneberger war St. Lukas, das etwas weiter von Innenstadt und Ring entfernt war, eher Kirche der sozial Schwachen und »schnell zum Zentrum oppositioneller Aktivitäten« geworden. Unvergessen bleibt der »Statt-Kirchentag« der Leipziger Oppositionsgruppen, an dem etwa 2.500 Personen teilgenommen hatten, als die Opposition Beschränkungen ihres Auftretens zum Kirchentag der sächsischen Landeskirche auf der Pferderennbahn Leipziger Scheibenholz (6. bis 9. Juli 1989) nicht hinnahm und den Protest in die Stadt hinaustrug.64
Nicht anders als auf jenem »Statt-Kirchentag« mischte sich am 25. September 1989 »eine komplexe, in vielem widersprüchliche Konfliktlage«: »die Gruppen«, »die Kirche«, »die Ausreisekreise«. Das Geschehen um die Friedensgebete setzte letztendlich ein Grundphänomen der Diktatur außer Kraft, das auf der »strikten Tabuisierung und Repression gesellschaftlicher Konflikte« beruhte. Als die politische Führung durch Polizeiaktionen, Einkesselungen, Verhaftungen etc. den Systemdruck massiv erhöhte, hat sie immer mehr Menschen mobilisiert, so dass ein »Kontaktsystem« der Bürgerbewegung entstand, das umso unverzichtbarer war, je öffentlicher es wurde. Gruppen und Einzelpersonen haben auf diese Weise »das Tabu der Konfliktrepression« von Furcht und Abschreckung durchbrochen.
Gegen 17.55 Uhr verließen die Friedensgebetsteilnehmer die Kirche, nachdem sie aufgefordert worden waren, ruhig, besonnen, gefaßt zu bleiben und sich bei einer Konfrontation mit den Sicherheitsorganen unterzuhaken und hinzusetzen. Rat und Zuspruch für den Fall einer möglichen Festnahme und Vernehmung waren dringend geboten. Betroffene sollten vom Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machen. Alles Anzeichen eines drohenden Konflikts. Die Spannung hatte zugenommen, die Kulisse sich verändert. Thomas, 16 Jahre alt, berichtet: »Da standen unheimlich viele Schaulustige. Der eigentliche Kern war vor der Nikolaikirche«. Er sagt auch, was er fühlte: »Ich stand bei den Schaulustigen. Ich muß sagen, ich hab Angst gehabt und viele um mich herum auch«. Gefürchtet wurden vor allem die Überwacher. »Man wußte ja nicht, wer neben einem steht, ob das einer von der Staatssicherheit war oder wer? Und wie sich die Polizeiketten darum gebildet hatten und Zivilisten kleine Plakate herunterrissen.«65 Die Allgegenwart der Stasi war auch für den Sechzehnjährigen beklemmend. Vor der Kirche vereinten sich dann Kirchenbesucher und Wartende, eine Masse meist junger Leute, von denen sich manche im Laufen an den erhobenen Händen hielten, zur ersten großen Protestdemonstration, die seit 1953 wieder den Karl-Marx-Platz betrat, die zwischen Oper und Hauptpost auf den Ring einschwenkte und gegen 18.50 Uhr »in voller Straßenbreite« den Bahnhofsvorplatz erreichte, von wo sie weiter zum Friedrich-Engels-Platz zog. Von dort kehrte sie zum Hauptbahnhof zurück. Vereinzelt wurden Fahrräder geschoben, also hatte man sich spontan angeschlossen. Bemerkenswert ist der Richtungswechsel der Demonstranten in Höhe des »Konsument« am Brühl, wo ein Weitergehen auf dem Ring und ein Einschwenken nicht ratsam schienen, weil von dort die Bezirksbehörde Leipzig der Staatssicherheit aus dem Halbdunkel herüberdrohte. Die an der Spitze Gehenden nahmen offensichtlich Abstand weiterzugehen. Vorsicht wird erkennbar. Sie stand mit dem Thema des Friedensgebets in Einklang.
Die Demonstrationsinitiative soll von etwa dreihundert Personen ausgegangen sein, die vorn als Gruppe marschierten, vermutlich die zuerst aus der Kirche Herausgetretenen. Die Internationale und We shall overcome wurden zu Massengesängen. Sie stehen für zwei verschiedene Traditionen bzw. Kulturen, die eine für eine stark kirchlich-international-friedensbewegte, die andere für eine eher nichtkirchliche, im Kern proletarische. Gesungen wurde, was der Situation entsprach und vertraut war. Selbst Ältere sangen dieses We shall overcome mit. »Als ich am 25.9. mit Bekannten und den Demonstranten das amerikanische Bürgerrechtslied sang«, berichtet ein Invalidenrentner, 56, »standen mir die Tränen in den Augen; ich fühlte mich nicht alleingelassen, wir lernten den aufrechten Gang. Es war wunderschön, als wir sahen, daß viele Leute aus den Straßenbahnen und Bussen ausstiegen und sich uns anschlossen. Der Bann, die Angst vor dem Stasi war gebrochen.«66 Ein junger Mann, den ein Greifkommando an den Beinen gepackt hatte und wegschleifen wollte, erhielt von, wie er schreibt, »Schaulustigen« Unterstützung.67 Fotos, die an diesem 25. September entstanden,68 zeigen eine locker ausschreitende Menschenmenge, die ihren Veränderungswillen noch ganz ohne Spruchbänder bekundet. Sie hatte nur ihre Stimme. Die Sprechchöre waren Freiheit und Neues Forum zulassen. In der Westhalle des Hauptbahnhofs versammelten sich nach Schätzung der »Organe« etwa 800 Demonstranten und riefen dort »wie bereits während des Marsches im Sprechchor Neu-es Forum zu-las-sen«.69
Diese »Personenkonzentration« wurde von der Polizei aufgelöst. Dabei sind sechs Personen »zugeführt« worden, von denen fünf freikamen; gegen einen Bürgerrechtler beabsichtigten die »Organe« ein Ermittlungsverfahren ohne Haft einzuleiten und tausend Mark Geldstrafe zu erheben. Weitere Beteiligte sollten identifiziert und belangt werden, Antragsteller »auf ständige Ausreise« aber kurzfristig die Ausreise erhalten. In diesem Sinne ist die Staatsmacht, wenn auch mit Zähneknirschen, verfahren. (Sie hatte das Protestpotential seit Jahren abfließen lassen, andererseits durch »sozialpolitische Maßnahmen« die Geburtenzahl stimuliert und zur Aufrechterhaltung der Produktion zunehmend ausländische Arbeitskräfte ins Land geholt.) Die Mielke-Zentrale der Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße verlangte vom Staatssekretär für Kirchenfragen, daß er Bischof Hempel, Dresden, nachdrücklich auffordere, »die als Organisatoren und Gestalter des montäglichen Friedensgebets wirkenden kirchlichen Amtsträger zu disziplinieren und derartigen Friedensgebeten einen ausschließlich religiösen Charakter zu verleihen«. Das Montagsgebet sollte als »ständiger Ausgangspunkt für fortgesetzte und sich eskalierende Provokationen gegen den sozialistischen Staat« usw usw. dargestellt werden.70 Welcher Gegensatz zwischen dem Denken und Fühlen der Überwacher in den Apparaten und den einfachen Leuten, die beispielsweise ihre Kinder nicht verlieren wollten! »Am 25.9. war, glaube ich, dann die erste größere Demonstration, die über den Karl-Marx-Platz ging«, erinnert sich ein Meister, 45. »Ich hab überlegt, ob ich da mitgehe. Ich bin mitgegangen – auch aus persönlichen Gründen. Ich bin Vater von drei Kindern, und ich möchte, daß sie in der DDR bleiben und ich sie am Wochenende besuchen kann. Mein Sohn wollte ausreisen; nur weil er ein kleines Kind hat, ist er geblieben. Sonst wäre er gegangen. Jetzt würde er das vielleicht nicht mehr tun.«71 Bis zum 27. September waren seit Öffnung der ungarischen Grenze am 11. September 22.011 Flüchtlinge aus der DDR in den Westen gegangen.72
In der Nacht zum 1. Oktober wies die Regierung der DDR die Botschaftsflüchtlinge in Prag (etwa 5.500) und Warschau (etwa 800) in die Bundesrepublik aus.73 Die Mitteilung des Außenministers des anderen Deutschland, daß sie dorthin würden ausreisen dürfen, hatten die Eingeschlossenen in der Prager Botschaft der Bundesrepublik mit einem Jubelschrei beantwortet. Dann fuhren sie in Sonderzügen der Deutschen Reichsbahn über Bad Schandau und Dresden Hauptbahnhof ein letztes Mal durch die Republik. Noch einmal demonstrierte die Staatsmacht an ihnen Staatsraison. Denn nur Heimgekehrte konnten ausgewiesen werden. Während dies geschah, überreichte in Berlin der Minister für Nationale Verteidigung Fahnen an Formationen der Zivilverteidigung.74 In Leipzig erhielt die Formation Weise eine solche Fahne während eines feierlichen Kampfgruppenappells am Völkerschlachtdenkmal. Die ›Kämpfer‹ ahnten vermutlich nicht, daß es einen solchen Appell nie mehr geben würde. Zu Hause erlebten sie am Fernsehen die Ankunft der Ausgewiesenen in Hof und in Helmstedt. Junge Leute warfen Mark und Pfennige weg, als hätten sie nie damit bezahlt. Die DDR eine schlechte Münze. »Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat«, urteilte der Generalsekretär. Er gebrauchte das alte Muster einer teuflischen Verführung, um das Geschehene zu erklären. Das »vorgegaukelte Bild vom Westen« solle vergessen machen, »was diese Menschen von der sozialistischen Gesellschaft bekommen haben und was sie nun aufgeben«. Sie hätten sich selbst »ausgegrenzt«.75
Die Signale der Macht wirkten aufreizend. Auf der Titelseite des »Neuen Deutschland«, das am Montagmorgen erschien, war zu sehen, wie Deng Xiaoping und Egon Krenz, der persönliche Grüße Erich Honeckers und die Glückwünsche zum 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik überbrachte, sich am Vortag in Peking Im Zeichen der Stärkung des Sozialismus die Hände gereicht hatten. Krenz, im Halbprofil, lacht. Der Greis hat die Grußhand des Gastes mit seinen beiden kleinen Händen ergriffen, und dieser legt seine Linke wie einen Schutzschild darüber. So haben die Leser des Zentralorgans und tags darauf der SED-Bezirkszeitungen Krenz in ihrer Erinnerung aufbewahrt. »Wir verteidigen die gemeinsame Sache des Sozialismus, ihr in der DDR, wir in der Volksrepublik China«, versicherte Deng. »Wir haben letzten Endes in diesem Kampf gegen den konterrevolutionären Aufruhr gesiegt, weil wir uns auf die kollektive Stärke unserer Partei und des Volkes stützten, trotz der ernsten Fehler des Genossen Zhao Ziayang, den Aufruhr zu unterstützen und die Partei zu spalten.«76 Dieses Titelbild verhieß nichts Gutes. Ein Blick auf den händeschüttelnden Krenz genügte, um zu begreifen, daß da eine chinesische Lösung angedroht wurde.77
An diesem Montag begann in Berlin die Jubelwoche zum 40. Jahrestag der DDR. Sie sollte für viele zu einer Schmerzenswoche, zu einer Karwoche werden. Während der Generalsekretär und Vorsitzende des Staatsrats in Anwesenheit von Armeegeneral Keßler, Generaloberst Streletz und dem Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen des SED-Zentralkomitees, Herger, Generale ernannte, ehrte der Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden, Politbüromitglied Sindermann, verdiente Persönlichkeiten und Kollektive in Würdigung besonderer Verdienste beim Aufbau und der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung und der Stärkung der DDR. Er überreichte höchste Orden, zuerst die Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden, zuletzt den Orden »Banner der Arbeit«. Im Anschluß an den Ernennungsakt bei der Armeeführung beförderte Honecker im Beisein von Minister Mielke Generale und Oberste des Ministeriums für Staatssicherheit. Aus seinen Händen nahmen Getreue auch den Scharnhorstorden entgegen. Wer die Fotos betrachtet78 und den Gang der Ereignisse kennt, sieht den Boden unter diesen Männern schwanken. Zu anderer Stunde empfing der Staatsratsvorsitzende den Verleger Maxwell; dieser überreichte aus gegebenem Anlaß die britische Ausgabe des Handbuchs DDR. Das Foto zeigt, wie der Beschenkte sich selbst wohlgefällig betrachtet.79 Er konnte nicht wissen, daß es das große, farbenprächtige Porträtfoto neben dem Titelblatt nur in diesem einen Exemplar gab. Das Büro Honecker hatte es anders gewünscht, am Ende hatte man sich mit dem Verleger auf eine Täuschung geeinigt. Dem Generalsekretär, ohne dessen persönliche Zustimmung keine Seite des »Neuen Deutschland« in Druck gehen konnte, blieb sie verborgen.
An diesem 2. Oktober bereisten Politbüromitglieder und ihr Gefolge die Republik. Hager sprach in Begleitung von Bezirkssekretär Ziegenhahn vor Werktätigen in Gera; der Ministerratsvorsitzende Stoph tat dasselbe in Dresden, begleitet von Bezirkssekretär Modrow; nur Inge Lange, die Kandidatin des Politbüros und als Frau dort in einer Statistenrolle, blieb ohne eine solche gehobene Begleitung. In Berlin-Pankow wurde das Carl-von-Ossietzky-Denkmal enthüllt. »Ich bin tief berührt von der Ehrung«,80 sagte Rosaline von Ossietzky-Palm, die Tochter dieses Märtyrers der deutschen Demokratie, zu Politbüromitglied Schabowski, dem Berliner Ersten Bezirkssekretär, neben ihm Berlins Oberbürgermeister Krack – Wahlfälscher der eine, zum engsten Stasi-Info-Verteiler-Zirkel der Macht gehörend der andere.81
Im Panzerschrank Schabowskis lagen zu diesem Zeitpunkt die streng geheimen und zur Rückgabe an Mielke bestimmten Informationen 433/89 und 434/89 vom 2. Oktober.82 Sie gaben bis in die Details Aufschluß über Vorbereitungen zur Gründungsversammlung des »Demokratischen Aufbruch«, die am 1. Oktober, als die Züge mit den Ausgewiesenen durch die Republik rollten und Krenz vor Deng stand, in der Samariterkirche zu Berlin-Friedrichshain stattfinden sollte, dann aber unterbunden wurde. »Einsatzkräfte« der Deutschen Volkspolizei verwehrten den Gründern den Zutritt. Zusammenkünfte im kleinen Kreis, von den Überwachern als »Ausweichvariante« bezeichnet, schlossen sich an. Man traf sich in der Wohnung von Pfarrer Neubert,83 einem Studienreferenten des Bundes Evangelischer Kirchen, sowie im Gemeindehaus der Evangelischen Kirchgemeinde Alt-Pankow, wo Bischof Forck dem Stellvertreter des Stadtbezirksbürgermeisters die gewünschte Einsicht in die Diskussionspapiere verweigerte. Forck, angeblich »in Leugnung des tatsächlichen Anlasses und Inhaltes der Zusammenkunft«, erklärte, man rede im Rahmen einer ökumenischen Begegnung über aktuelle Fragen von Frieden und Gerechtigkeit. Der Bischof wurde aufgefordert, die nicht religiösen Charakter tragende Zusammenkunft zu beenden. Er lehnte das ab. Die »Informationen« nannten die Pfarrer Neubert, Eppelmann, Schorlemmer, Meckel, Albani, Pahnke, Pastorin Misselwitz, Probst Falcke, Vikar Schatta, den Synodalen Fischbeck, Delegierter im konziliaren Prozeß in der Synode Berlin-Brandenburg wie im Kuratorium der Evangelischen Akademie, und andere als Beteiligte.
Der Physiker Hans Jürgen Fischbeck hatte am 13. August 1989 in der Ostberliner Bekenntnis-Gemeinde zur Gründung einer einheitlichen Sammlungsbewegung der Opposition aufgerufen. An diesem Tag hatten Großbritannien und die USA ihre Botschaften in der DDR geschlossen, nachdem Tausende das Land in Richtung Ungarn verlassen hatten und die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Berlin (Ost) wegen Überfüllung schon am 8. August geschlossen worden war. In einigen der etwa 500 Basisinitiativen, die es in der DDR gab, war Fischbecks Vorschlag seit Monaten in der Diskussion. Der Synodale vertrat die innerkirchliche Gruppe »Absage an Prinzip und Praxis der Ausgrenzung« gegenüber einer Politik, die Honecker betonköpfig befolgte. Als die Leipziger sie mit dem Demospruch Wir lassen uns nicht auskrenzen! beantworteten, zielten sie gegen zwei Generalsekretäre und Staatsratsvorsitzende, Honecker und Krenz. Fischbeck erklärte, Marx und Engels hätten keine verstaatlichte Gesellschaft gewollt, bevor er, eines der vielen Perestroika-Defizite in der DDR benennend, sagte: »Der Sozialismus in dieser Form ist nicht vereinbar mit ehrlicher Offenheit, mit Glasnost. Nirgends, außer im ›Neuen Deutschland‹, steht geschrieben, daß der Sozialismus nur auf diese Weise zu erreichen ist«.84 Die innere Öffnung sei auch der einzige Weg, die Mauer abzubauen. Die Pfarrer Eppelmann und Meckel waren wichtige Vertreter demokratischer alternativer Parteibildung, Meckel als einer der vier Unterzeichner des Aufrufs der Initiativgruppe »Sozialdemokratische Partei in der DDR« vom 26. September,85 Eppelmann als einer der Initiatoren des Aufrufs vom 1. Oktober,86 der an die Gründung der Partei »Demokratischer Aufbruch (DA)« heranführte. Friedrich Schorlemmer, Wittenberg, als Pfarrer und Bürgerrechtler Mitverfasser der »20 Thesen zur Erneuerung der Gesellschaft« vom Kirchentag 1988 in Halle, war es, der am 4. September in der Reformierten Kirche zu Leipzig mit den 300 Bleibewilligen diskutiert hatte. Sein Ziel hieß: Erneuerung, nicht Emeritierung des Sozialismus. Entweder sei dieser von Peking bis Berlin reformfähig, oder er verschwände erst einmal von der Bildfläche.87
Schabowski, Honecker, Stoph, Hager, Keßler, Herger, Inge Lange hatten die geheimen Stasi-Informationen vom 2. Oktober erhalten, und sie alle spielten innerhalb des von der Staatsmacht perfekt überwachten Raumes an diesem 2. Oktober ihre Rolle. Stand ihnen der Schrecken ins Gesicht geschrieben? Oder entging ihnen das Menetekel an der Wand? Wie sicher waren sie sich der eigenen Sicherheit? »Die Sicherheit«, das wußten sie, ließ die »feindlichen, oppositionellen Kräfte«88 nicht aus den Augen; sie drang bis in den unmittelbaren Umkreis der »bekannten reaktionären kirchlichen Amtsträger und anderer feindlicher, oppositioneller Kräfte«89 wie Eppelmann, Meckel, Schorlemmer vor. Der Schriftsteller Christoph Hein hat später, am 28. Oktober, in der Erlöser-Kirche zu Berlin beim Bekanntwerden schlimmer Gewaltanwendung gegen ein Mädchen gefragt, wie es dazu hatte kommen können, daß Polizisten dieses Kind so demütigten. »Ich habe immer wieder überlegt, warum die Polizisten das taten; und ich fürchte, ich habe die Antwort gefunden. Ich sage, ich fürchte es, weil die Antwort fürchterlich ist: Ich glaube, die Polizisten haben diesem Mädchen das angetan, weil sie sicher waren, daß wir weiter schweigen. Ich glaube, Susanne Böden wurde das angetan, weil man sicher war, wir schweigen wie bisher. Irgendwie sind wir an diesem Mädchen, Susanne Böden, und den anderen schuldig geworden.«90
Es liegt nahe, daß an der Spitze der gleiche Verhaltensmechanismus funktionierte. Er entstand aus Erfahrungen im Umgang mit der Macht, auch aus Nachkriegserfahrungen, sowie mit einer im Ganzen eben doch gefügigen Masse. Aus der Reihe tanzten die »Republikflüchtigen«, die man abzuschreiben bereit war, und der tapfere Rest, den man im Griff zu haben meinte. Die Klasse mit Bauch wurde mit dem Postulat der absoluten Wahrheiten, das vor ihr aufgerichtet war, zum Schweigen gebracht. Die geradezu ritualisierte Verknüpfung von Kritik, sofern es überhaupt zu Kritik kam, mit einleitendem Bekennen des Positiven zeigt, wie das parteiadministrative System Kritik blockierte. Sie zeigt natürlich ebenso die Nöte derer, die Kritik äußerten.
»Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.«91 Mit diesem Vermerk ermahnte der Minister Mielke die dem ersten und engsten Kreis der Macht Angehörenden zu absoluter Verschwiegenheit. Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft. Sie war eine Gesellschaft geschlossener Kreise, und zwar in einer für moderne Gesellschaften extremen Weise, besonders seit dem 13. August 1961. Zu erklären ist das wohl aus der Abfolge zweier autoritärer Systeme und der in ihnen ausgebildeten Anpassungs- und Mitmachmentalität der nationalsozialistischen Kriegs- wie der Kriegskindergeneration, wobei aus der jugendlichen Restgeneration des ersten autoritären Systems die alternde Aufbaugeneration des nächsten hervorging.92 Dazu kam die Überwachungstätigkeit der Staatsorgane, die sondierten, wo Gefahr bestand, die »feindlichen Kräfte« benannten und versuchten, sie zu isolieren, einzuschüchtern, in die Kreisläufe der geschlossenen Gesellschaft zurückzudrängen, aus denen sie ausgebrochen waren. Der Übergang in eine offene Gesellschaft, der trotzdem zustande kam, wurde getragen von den alternativen Basisgruppen, Gesprächskreisen, Initiativen, aus denen bis Dezember 1989 eine breite Bürgerbewegung und mehrere Parteien hervorgingen, zunächst im Untergrund, dann in der legalen und halblegalen Sphäre kirchlicher Freiräume.
Am Beginn der Jubelwoche, am 2. Oktober, war das »Neue Forum« in seinen Grundlagen geschaffen.93 »Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglied des Neuen Forum zu werden.«94 Die Führung des Neuen Forum als einer parteiübergreifenden Bürgerbewegung appellierte an die Parteibasis der SED, »die größte und wichtigste politische Körperschaft in unserem Lande«, ihr »enormes Potential von Fachwissen und Leitungserfahrung« in die Gesellschaftserneuerung einzubringen. »Ihr beansprucht die führende Rolle – übt sie aus! Führt die Diskussion in euren Reihen, führt die Gesamtpartei auf einen konstruktiven Kurs.«95 Zu diesem Zeitpunkt waren die Ziele der Revolution eine Art Perestroika-Umbau des politischen Systems der DDR in einen Rechtsstaat und der zentralistischen Staatsplanwirtschaft in einen effektiven (marktwirtschaftlich organisierten) volkseigenen Wirtschaftsorganismus mit ökologischer Langzeitperspektive. »Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in einer Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben.«96 Die Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs vom 10. September97 erklärten, unbeirrt davon, daß die Anmeldung auf Zulassung als Vereinigung abgelehnt worden war, ihre Tätigkeit als Bürgerinitiative fortzusetzen, Programm und Statut vorzulegen und die Vereinigung erneut registrieren zu lassen. Auch darüber lag den Hauptverantwortungsträgern am 2. Oktober ein detaillierter Bericht aus der Zentrale der Staatssicherheit vor.98 Gegenwärtig, hieß es sinngemäß, arbeiteten die »Inspiratoren/Organisatoren« des »Neuen Forum« an einem sogenannten Problemkatalog für gesellschaftliche Veränderungen in der DDR. »Es soll insbesondere ›Lösungsvarianten‹ in den Bereichen Wirtschaft und Ökologie (strategische Änderungen in der Wirtschaftsführung, Teilnahme der Werktätigen an der Lenkung der Wirtschaft, Reduzierung der Umweltbelastungen, Beseitigung des Mißverhältnisses zwischen Preis und Leistung), Wissenschaft, Kultur und Geistesleben sowie Staat (Schaffung eines Rechtsstaats, Reform des Wahlrechts, uneingeschränkte Gewährleistung der Grundrechte, uneingeschränkte Freiheit im Reiseverkehr) enthalten.«99 Als Sprecher werden die Malerin Bärbel Bohley,100 der Leipziger Student Michael Arnold, der Rechtsanwalt Rolf-Rüdiger Henrich und der Biologe Professor Jens Reich sowie andere BürgerrechtlerInnen genannt.
Als erste haben Künstler, andere Kulturschaffende und kirchliche Kreise, dazu die vielgestaltigen Basisgruppen zur Legalisierung und vor allem zur republikweiten Ausbreitung der Bürgerbewegung beigetragen. Der Gründungsaufruf des »Neuen Forum« wurde auf kirchlichen und anderen Versammlungen verlesen, in Basisgruppen erörtert, vervielfältigt, weitergegeben, Unterschriften wurden gesammelt. Die Zeit ist reif.101 Mit dem Massenruf Neu-es Fo-rum zu-las-sen! hatten sich Demonstranten, erstmals am 25. September in Leipzig, zur Bürgerbewegung bekannt,102 von der sie ein Teil waren. Danach wurde die Forderung allmontäglich erhoben, bis das SED-Politbüro, das Ministerium für Staatssicherheit und das Ministerium des Innern der DDR am 8. November nachgaben.
In Dresden und Rostock setzten sich Mitglieder der Bezirksvorstände des Verbandes Bildender Künstler am 27. September für die Ziele des »Neuen Forum« ein.103 Die mit 22 Ja-Stimmen bei 5 Enthaltungen verabschiedete Rostocker Resolution forderte die Partei- und Staatsführung zum »offenen politischen Dialog« mit allen politischen Kräften des Landes auf und begrüßte ausdrücklich die Tätigkeit des »Neuen Forum«. Die in der Öffentlichkeit wirkungsvollste Solidarisierung mit dem »Neuen Forum« ging aber am 25. September von der Sitzung der erweiterten Sektionsleitung Rockmusik sowie Lied und Kleinkunst aus. Die Teilnehmer beschlossen gegen den Widerstand des Generaldirektors, die Erste Resolution der Rock-Künstler vom 18. September104 auch weiterhin auf öffentlichen Veranstaltungen zu verlesen.105 Das geschah dann bei Auftritten der Rockgruppen Die Zöllner, Notentritt, Pankow und Silly106 sowie der Liedermacher Wenzel, Mensching, Eger, Schmidt, Riedel und Halbhuber. Sie haben sich nicht zum Schweigen bringen lassen. »Es geht nicht um ›Reformen, die den Sozialismus abschaffen‹, sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen. Denn jene momentane Haltung den existierenden Widersprüchen gegenüber gefährdet ihn«, heißt es in der Resolution. »Dieses unser Land muß endlich lernen, mit andersdenkenden Minderheiten umzugehen, vor allem dann, wenn sie vielleicht gar keine Minderheiten sind.« Schließlich: »Wir wollen in diesem Lande leben, und es macht uns krank, tatenlos mitansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche der gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert bzw ignoriert werden. Wir fordern jetzt und hier sofort den öffentlichen Dialog mit allen Kräften. Wir fordern eine Öffnung der Medien für diese Probleme.« Dann die schwer wiegende Feststellung. »Feiges Abwarten liefert gesamtdeutschen Denkern Argumente und Voraussetzungen. Die Zeit ist reif. Wenn wir nichts unternehmen, arbeitet sie gegen uns!«107
Diese Künstler haben viel dazu beigetragen, das Neue Forum außerhalb Berlins bekanntzumachen. Die Zustimmung zum »basisdemokratischen Wirksamwerden von DDR-Bürgern« und »offene Diskussion« über den Zustand des Landes forderten ferner Mitarbeiter im künstlerischen Bereich des Staatlichen Komitees für Rundfunk der DDR und besonders das Jugendradio. Die »chronische Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und politischen Erklärungen« müsse überwunden werden. Die Gewerkschaftsgruppe Künstlerisches Personal und die Vertrauensleute des Deutschen Theaters Berlin verlangten am 26. September in einem Offenen Brief an den Vorsitzenden des Ministerrats, die »Massenmedien in unserem Land für das Gespräch über unser Land« zu öffnen und »die Gedanken von Neues Forum und anderen« zu veröffentlichen.108 Gleichfalls am 26. September informierte das Neue Forum Leipzig, vertreten durch die Studenten Michael Arnold und Edgar Dusdal, daß die Abteilung Inneres des Rates des Bezirkes den Antrag auf Anmeldung des Neuen Forum mit der Begründung, es gäbe in der DDR keine gesellschaftliche Notwendigkeit für eine solche Vereinigung, nicht stattgegeben habe. Alle Handlungen bezüglich dieser Organisation seien sofort einzustellen. Die beiden Sprecher bekräftigten, daß die Antragsteller in Übereinstimmung mit Artikel 29 der Verfassung109 an ihren Zielen festhalten würden. »Deshalb bitten wir jede Bürgerin/jeden Bürger, die/der von einer gesellschaftlichen Notwendigkeit der Vereinigung Neues Forum überzeugt sind, sich per Eingabe an das Ministerium des Innern, Mauerstraße 29, Berlin 1086, zu wenden.«110
Der in der Überwachungszentrale des MfS, Normannenstraße, aus allen diesen Informationen gewonnene Extrakt wurde in den Köpfen und Nervensträngen der Hauptverantwortungsträger zur bohrenden Sorge um den Machterhalt. Die »streng geheimen« Informationen vom 2. Oktober 1989 haben sich offensichtlich noch vor der Montagsdemonstration am Abend des 2. Oktober zur Erkenntnis vom tatsächlichen Entstehen einer landesweiten Bürgerbewegung verdichtet. Leipzig, »die wahre Hauptstadt« der DDR, wie Uwe Johnson sie im Rückblick auf sein Studium dort genannt hat,111 rückte nunmehr endgültig ins Zentrum des Demokratiegeschehens.