Читать книгу Ende einer Selbstzerstörung - Hartmut Zwahr - Страница 11
ОглавлениеFreiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit!
Leipzig am 2. Oktober
Die Markttage lockten viele Leipzigerinnen und Leipziger nach Arbeitsschluß in die Innenstadt, so auch an diesem Montag, an dem in der Nikolaikirche abermals 2.000 Menschen und mehr zum Friedensgebet zusammenkamen. Sie gingen dorthin aus Verantwortung und in der Sorge um die Zukunft ihrer Stadt und des Landes. Sie überwanden alle Bedenken, auch die, gesehen und erkannt zu werden. Auf dem nahegelegenen Sachsenplatz saß man im Freien, trank Bier, die Kinder Limo, das Glas Einfachbier noch für einundfünfzig Pfennige, Pilsener war teurer, man aß seine Bratwurst, die kostete achtzig und das Brötchen dazu fünf Pfennige, zum gleichen Preis gab es auch eine Bockwurst mit Semmel. Mancher stellte sich zweimal an oder kam mit zwei Biergläsern wieder, um zu essen und zu trinken, zu gucken und zu reden. Über dem Ganzen lag durchaus eine sonst unübliche Spannung. Denn die meisten, die gekommen waren, wußten, daß sich am späten Montagnachmittag um die Nikolaikirche herum gewöhnlich etwas zusammenbraute. Es schien, als hätten es die Leute nicht eilig, nach Hause zu kommen; sie dachten wohl, mal sehen, was passiert. An einem Tisch eine Bierrunde Männer. Keine Leipziger. Irgendwelche Lehrgangsteilnehmer, aus der Republik zusammengeholt, Parteischüler vielleicht. Sie redeten in den Dialekten der Republik über Unterricht und Leistungskontrollen und über Referate, die sie zu schreiben hätten. Während die anderen zuhörten, sagte einer ziemlich unvermittelt: »Da haben uns die alten Männer diesen Abend auch noch versaut.« Schweigen. Sie warteten. Bestellten die nächste Runde.
Die Nikolaikirche war zu diesem Zeitpunkt restlos überfüllt, deshalb entschied man sich, sie zu schließen, bevor die Andacht begann. Das Friedensgebet wurde an diesem Oktobermontag erneut zum Forum des innenpolitischen Protests. Am 18. September hatte in der damals mit mehr als 2.000 Teilnehmern überfüllten Nikolaikirche sowie in anderen Kirchen der Stadt die erste Fürbittandacht für die Inhaftierten vom 11. September stattgefunden. Kerzen brannten entlang der Kirche, Blumen verkündeten Protest. Die Bürger und Bürgerinnen waren aufgerufen, täglich, gegen 17.00 Uhr, Blumen zu bringen und schweigend stehenzubleiben. Am 20. September waren dann vier Leipziger Demonstranten zu je vier Monaten Haft verurteilt, über andere waren drakonische Geldstrafen verhängt worden. Jetzt sollte die Forderung nach Freilassung der in den Vorwochen inhaftierten Kirchenmitarbeiter und Bürgerrechtlerinnen durch Fasten öffentlichkeitswirksam gemacht werden. Am Morgen dieses 2. Oktober hatten sich Leipziger Theologiestudenten zu einer Andacht zusammengefunden. »Was wird in den nächsten Tagen und Wochen auf uns zukommen? Der Weg der Reform oder der Weg der Gewalt?«, lautete die bange Frage. Heile Du mich, Herr, so werde ich heil, hilf Du mir, so ist mir geholfen (Jer. 17,14). »Einfach das Geschäft des Tages weitertreiben, das kann derzeit wohl keiner von uns.« Der Weimarer Pfarrer Richter sei, hieß es, unter Hausarrest gestellt worden. Der Kirchensoziologe Neubert sähe, dies eine andere Nachricht, seine Wohnung weiträumig von Mitarbeitern der Staatssicherheit umstellt. Die Kampfgruppen, so das Gerücht, sollten in Leipzig am Nachmittag erstmals in Bereitschaft versetzt werden. »Die Uhren ticken anders, seit Wochen schon.« Herr, unser Gott, wir stehen in den Umbrüchen und Erschütterungen unserer Zeit. Vielleicht sind sie nicht geringer als zur Zeit des Propheten Jeremia … Gib den Inhaftierten die Ruhe und die Überlegenheit, vor ihren Untersuchungsrichtern klar und deutlich über die Gründe ihres Engagements zu sprechen.112 In den vergitterten Fenstern beiderseits der sich zum Nikolaikirchhof hin öffnenden Kirchentüren hingen Texte; unter Asternsträußen und Kerzen wurde die Freilassung der mindestens siebzehn seit dem 11. September inhaftierten Demonstranten gefordert.
Die Revolutionsgeschichte kennt nicht wenige Beispiele von Gefangenenbefreiungen. Das heißt, Gefangennahmen wurden mit Befreiungsversuchen beantwortet, die ihrerseits den Widerstand eskalieren ließen und häufig den offenen Konflikt mit der Macht überhaupt erst auslösten. Die Entwicklung in der DDR näherte sich damals diesem Punkt, zumal am gleichen Abend in Ost-Berlin in der Gethsemane-Kirche eine Mahnwache für die in verschiedenen Städten der DDR zum Teil schon seit Juni inhaftierten rund 30 BürgerrechtlerInnen begann.
In der Leipziger Nikolaikirche saßen inmitten der zweitausend Betenden eine »größere Anzahl gesellschaftlicher Kräfte«,113 wie die Überwacher vor Ort im Apparat genannt wurden. Was sie berichteten, liest sich im Extrakt, den die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit am Tag darauf den Hauptverantwortungsträgern zuleitete, wie folgt: »In der Nikolaikirche wurde nach einem Gebet ein Brief der Studentengemeinde der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens verlesen, in dem gegen die Inhaftierung von Personen, die verhängten Sanktionen und den Einsatz von Sicherungskräften nach dem sogenannten Montagsgebet am 11. September 1989 protestiert wurde. Außerdem erfolgte eine Orientierung auf ein geplantes ›Fasten für die politischen Häftlinge‹ vom 2. bis 8. Oktober 1989 in der Versöhnungskirche in Leipzig-Gohlis. Anschließend wurde darauf verwiesen, daß Ausreise keine Alternative‹ ist und Demonstrationen kein Mittel‹ in der gegenwärtigen Zeit seien. Man sollte sich ›hier in den Kampf einreihen‹.«114
Die Proteste gegen die Massenfestnahme am 11. September wurden lauter und öffentlichkeitswirksamer. An jenem Septembermontag waren elf junge Männer und Frauen wegen »Zusammenrottung« in Haft genommen worden. Weitere 104 Zugeführte kamen wieder frei, aber mit Ordnungsstrafen in Gesamthöhe von 66.000 Mark, wobei die Einzelstrafe zwischen 1.000 und 4.000 Mark lag.115
Gegenüber September war ein dramatischer Stimmungsumschwung eingetreten. Die Forderung Wir bleiben hier!, aus der Konfrontation mit Ausreisewilligen entstanden, rückte ins Zentrum des Montagsgebets.116 Sie wurde zum Willensfundament des Leipziger Oktobergeschehens, auch für schon Gehende, die dann, als sie zu Dableibenden geworden waren, für Vereinigung votierten. Der Journalistin Petra Bornhöft fiel am 2. Oktober auf, daß draußen, außerhalb der Kirche, nur wenige die übliche Ausreise-Kluft trugen, ›Schnee-Jeans‹, schwarz-rot-goldene Aufnäher, Gorbatschow-Sticker an der Brust. Die Zusammensetzung der Wartenden hatte sich verändert. Petra Bornhöft sah Schüler, Schülerinnen, »einige wenige Punks; ansonsten dominiert die Gruppe der Zwanzig- bis Vierzigjährigen«. Jemand sagte: »Wenigstens lassen sie uns mit dem Jubiläums-Zeug in Ruhe«. Der Journalistin von außerhalb war nicht entgangen, und den LeipzigerInnen natürlich auch nicht, daß außer den Fahnen an den Ausfallstraßen kaum etwas auf die Jubelwoche zum Vierzigsten der DDR hinwies,117 die in Berlin am Vormittag mit einem Auszeichnungsakt begonnen hatte. Sie sollte nicht nur für viele Berliner zu einer Karwoche, einer Schmerzenswoche werden.
Wer an diesem Oktobermontag in St. Nikolai keinen Einlaß fand, wurde durch Aushang und dann durch den Kirchensprecher zur Reformierten Kirche am Tröndlinring weitergewiesen. »Wegen Überfüllung geschlossen. Bitte haben Sie Verständnis. Um 17.15 findet in der Kirche der Reformierten Gemeinde eine weitere Andacht statt.«118 Dort waren schließlich etwa 1.500 Menschen versammelt; die »Organe« freilich zählten angeblich nur dreihundert bis vierhundert.119 Die Predigt hielt Dominikanerpater B. Venzke. Die Entscheidung, auf Bitte von Superintendent Magirius auch in der Reformierten Kirche am Ring ein Friedensgebet abzuhalten, entsprach dem Bedürfnis nach Solidarisierung; sie konzentrierte nun Aktion und Aktionserwartung auf zwei Punkte in der Stadt, zu denen und von denen sich Menschen in Bewegung setzten. Der Zuzug in die innere Stadt verstärkte sich aus der Richtung Tröndlinring.
Die Menschenmenge, welche die Nikolaikirche umgab, begann sich bald ins Schumachergäßchen, in die Nikolai- und die Ritterstraße hinein zu stauen. Sie war von etwa drei- bis sechstausend Menschen (dem Minister für Staatssicherheit wurden nur elf- bis fünfzehnhundert gemeldet) auf dreizehn- bis achtzehntausend angewachsen (Meldung an die Zentrale der Staatssicherheit in Berlin: Eine »Personenkonzentration« von 3.500 Menschen120). Die Überwacher hielten »eine beträchtliche Anzahl« für »Neugierige«,121 was sicherlich zutraf. Aber aus Neugierigen wurden Teilnehmende. Nachdem der Anfang gemacht war, zündete die Massenerkenntnis des Augenblicks: Jetzt oder nie (Demokratie) jetzt oder nie! Das war ein Massenappell neuer Art, ein Ruf zur Selbstermutigung, den Tabubruch zu wagen. Die Masse richtete ihn an sich selbst. Bisher waren die Appelle von den Tribünen gekommen, von den Präsidien, von jemandem, der andere anleitete, und die Leute hatten sich abgeduckt oder einfach nicht zugehört. Jetzt brach ihr Interesse durch: Es muß sich etwas ändern. Jetzt oder nie, Demokratie! – hineingerufen in die Helligkeit des anbrechenden Oktoberabends, noch hell genug, erkannt zu werden, einander aus der Nahdistanz voll ins Gesicht zu sehen, dem »Grünen« im Gesicht zu lesen, ob Zweifel darin waren, den Diensthundeführer mit Diensthund (mit Korb) anzustarren, den vermuteten IM (Inoffiziellen Mitarbeiter), den möglichen GMS (Geheimen Mitarbeiter Sicherheit), alle diese Leute, die irgendwie falsch herumstanden mit leeren, verlorenen Gesichtern.
An diesem 2. Oktober war der Massenruf die Hauptform der Artikulation von Zielen und Absichten. Im Gerufenen brach das Grundinteresse spontan durch, während sich in den zu Hause vorbereiteten Spruchbändern der kommenden Montagsdemonstrationen ein anderes Phänomen vorbereitete: die Massenhegemonie. Das in einzelnen Köpfen Gedachte, das im kleinen Kreis, etwa der Familie, mit Vorsatz Geschriebene verdichtete sich zur Programmatik der Revolution und des Massenwillens. Der 2. Oktober verdeutlichte vor allem den Beteiligten, aber auch den »Organen« den im gegebenen Augenblick erzielten Zugewinn an Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit. Plötzlich war das Land nicht mehr so, wie es gewesen war.
Unter dem Geläut der Glocken öffneten sich die Kirchentüren. Die gebetsverbrüderte und -verschwesterte Gemeinde drängte hinaus auf den Vorplatz, den ein Bauzaun aus Weißblech, mehr als gesichtshoch, verkleinerte. Wartende hatten am Zaun gerüttelt, gerufen: »Schikane!«. Jetzt war das Warten vorbei. Die Menschen wollten loslaufen, losgehen. Losgehen! Losgehen! »Geballte Fäuste und Victory-Zeichen streckten sich der filmenden Staatsmacht entgegen.« Einer ruft: »Ihr habt verloren, könnt abdanken, jetzt sind wir dran.« Jubel.122 Am Schuh-Exquisit rufen sie Durchlassen! Durchlassen!, später an der Post, nachdem der Zug in langsame halbschrittartige drängelnde Bewegung kommt, Aus-stei-gen!, Aus-steigen! An-schlies-sen!, womit diejenigen herausgerufen werden sollten, die in den Straßenbahnen hinter der Scheibe saßen und auf die Weiterfahrt warteten. Wir bleiben hier! Wir bleiben hier! Wir bleiben hier! Keine Gewalt!, riefen die Demonstranten und: Kein neues China! Andere riefen: Gorbi, Gorbi. Junge Leute setzten sich auf die Straße.123 Die Demonstranten skandierten den Ruf der beginnenden Wende. Hoch über ihnen die Kameras, das Auge der Staatsmacht. Selbstbestimmtes Handeln, das auf Veränderung aus eigener Kraft drängte, stand gegen den selbstbestimmten schweren Entschluß, alles aufzugeben und wegzugehen: Wir wollen raus! Wer um seine Ausreise kämpfte, hielt die Verhältnisse für unveränderbar. Gerade das aber waren sie nicht. Andererseits verstärkte jeder einzelne, der das Land verließ, den Veränderungsdruck.
Zweihundert Jahre, nachdem die Pariser die Bastille gestürmt hatten, erhoben die Leipziger die Forderung nach Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit. Wie viele Jahrestage hatten sie verdrossen und entnervt über sich ergehen lassen! In diesem Punkt aber, im Jahr des großen Revolutionsjubiläums, waren sie hellwach. Das läßt ein bestimmtes intellektuelles Umfeld dieses 2. Oktober erahnen. Bildende Künstler und Kunststudenten gehörten zu diesem Umfeld; in der Galerie auf der Burgstraße hatten sie im Juli gegen den Widerstand der »Apparate« eine Ausstellung mit eigenen Arbeiten zur Revolution in der aktuellen Perspektive der Erneuerung und des Protestes zustandegebracht. Sie forderten das parteiadministrative System heraus. Über einer Blutwanne erhob sich die Guillotine, die aus grauen Akten-Leitzordnern zusammengebaut war; Blutfarbe bedeckte Zeitungsausschnitte mit dem Bildnis Stalins; Glasnost-Berichte in kyrillischen Buchstaben enthüllten Scheußlichkeiten des Staatsterrors.124 Das war ein Bekenntnis zum »Enthüllungsjournalismus«, über den sich verunsicherte Genossen entrüsteten. Wer in die Galerie eintrat, konnte ein Trikolorefähnchen aus dem Karton nehmen, der herumgereicht wurde, und anstecken. Eine Kunsthistorikerin begrüßte alle und verlas anschließend mit erst stockender, dann fester werdender Stimme einen aufsässigen Text; das Revolutionsfähnchen hatte sie im blonden Haar stecken. Zum Massenruf konnte dieses Li-berté Ega-li-té Fra-terni-té als Frei-heit Gleich-heit Brü-der-lich-keit aber nicht werden; denn es ließ sich in dieser Dreiwortfolge, in der Brüderlichkeit aus der gleichmäßig gegliederten rhythmischen Bewegung ausbrach, nicht skandieren. Trotzdem, dieses Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit!, es war an diesem 2. Oktober (und vermutlich schon am 25. September125) zu hören. Es gehört unverlierbar zur Geschichte dieser demokratischen Revolution, die im Herzen von Leipzig begann.
Der Massenruf Neu-es Fo-rum zu-las-sen! stand für die selbstbestimmte Wahrnehmung des Koalitionsrechts durch Bürger und Bürgerinnen dieser Stadt und die bald landesweite Bewegung zur Legalisierung des Neuen Forum; die Leipziger öffneten sich sofort und massenhaft dieser Bürgerbewegung, die für Gesellschaftserneuerung, Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden, für Schutz und Bewahrung der Natur eintrat und einen demokratischen Dialog erhob. Mit dem Ruf Frei-heit für die In-haf-tier-ten wurde ein Verlangen der Fürbittandachten auf den Vorplatz der Nikolaikirche hinausgetragen. Gegen die Greiftrupps kam plötzlich der Ruf Stasi weg, hat kein Zweck! auf, den die Bezirksbehörde Leipzig der Staatssicherheit vermutlich nicht »hochmeldete«; denn in der zentralen Information an das engere Politbüro fehlt darauf jeder Hinweis.126 Dieses Stasi weg! kündigte den bevorstehenden Bastillesturm an. Die Demonstranten begannen ihr Gor-bi! Gor-bi! Gor-bi! zu skandieren, dieses Bekenntnis zu Perestroika und Glasnost, den Grundelementen versuchter Sozialismuserneuerung in der UdSSR, und zur Gesellschaftsveränderung im eigenen Land. Die Bewußtseinslage der Beteiligten, welche vielleicht die Mauer an der Grenze zur Bundesrepublik noch als unabänderlich hinnahmen, aber Sturm zu laufen anfingen gegen den Mauerbau nach Osten und Südosten, wird in diesem Gorbi! Gorbi! überdeutlich. Der »entwickelte Sozialismus in der DDR« war eingeklemmt zwischen mehreren Mauern. Singend machten sich die Demonstranten Mut. Sie stimmten die Internationale an, Schulstoff aus dem Musikunterricht der Klassen 7 und 8 der Polytechnischen Oberschulen der DDR.127 Gelernt, verdrossen abgesungen, freiwillig nie wieder angestimmt bis zu diesem Augenblick, wo ein Stück aus dem Refrain genau paßte, um den Protest mit der ganzen Kraft der Stimme herauszusingen. »Völker hört die Signale, / auf zum letzten Gefecht, / die Internationale / erkämpft das Menschenrecht«. Die Menschenrechte. Wie waren sie verzerrt worden. Jetzt empfanden alle das Gleiche. Auf die Straße zu gehen war ein Menschenrecht. Im Ruf Demokratie jetzt! und im Gesang Auf zum letzten Gefecht klang zusammen, was die Größe des Augenblicks ausmachte. Es zu wagen. Jetzt. Mancher begriff erst hier, inmitten der Einschließung durch die Macht, den Verlust von Menschenrechten und daß er drauf und dran war, sie wiederzugewinnen. Aber wer wollte die Gefährdungen übersehen, die Demonstrationswiderstand heraufbeschwor? Wer im Strom der Demonstranten mitgegangen ist, hat die Gewalt gespürt, die von der Straße ausging, selbst wenn während des Leipziger Herbstes keine Steine geworfen worden sind, keine einzige Fensterscheibe zu Bruch ging, im ganzen Land kein Schuß auf einen Demonstranten abgegeben wurde.
Der sorgenvolle Satz, daß Demonstrationen kein Mittel der Konfliktlösung seien, ist sicher angesichts des enormen Disziplinierungsdrucks, der auf der Fürbittgemeinschaft lastete, ausgesprochen worden. In dieser Ermahnung zu Vorsicht, vielleicht auch Verzicht, steckte auch das Noch-nicht-Wissen-Können und Nicht-vorher-Wissen-Können, welchen unglaublichen Entwicklungssprung die Ereignisse nach diesem Montagsgebet vom 2. Oktober nehmen würden. »Gegen 18.25 setzte sich die Personenansammlung demonstrativ in Richtung Grimmaische Straße, Karl-Marx-Platz in Bewegung und zog dann weiter über den Georgiring in Richtung Hauptbahnhof/Tröndlinring.«128 Zum zweiten Male hatten die Demonstrierenden die Grundrichtung aller weiteren Montagsdemonstrationen, dieses großartigen demokratischen »Rundlaufs« revolutionärer Veränderung, eingeschlagen. Die friedvolle Eroberung des innerstädtischen Rings war tatsächlich ein »Rundlauf«. Am 9. Oktober wurde dann erstmals die volle Runde gegangen, die dann auch am zentralen Staatssicherheitsobjekt, am Stadthaus und am Neuen Rathaus, dem Sitz des Rates der Stadt, vorbeiführte.
Am 2. Oktober trafen die Demonstranten in Höhe Nordstraße / Reformierte Kirche, wo das Friedensgebet der Fünfzehnhundert stattgefunden hatte, auf massive Gegenwehr der Polizei. »Durch konzentrierten Einsatz der Kräfte der Schutz- und Sicherheitsorgane sowie der Kampfgruppen konnte gegen 19.15 Uhr die Personenbewegung auf dem Tröndlinring/Ecke Nordstraße zunächst gestoppt werden. Dabei wurden wiederum Parolen gerufen. Insbesondere durch Gruppen Jugendlicher kam es zu tätlichen Angriffen auf VP-Angehörige, verbunden mit verleumderischen Beschimpfungen. Teilweise gelang es diesen Kräften, die Sperrketten der Volkspolizei zu durchbrechen.«129 Keine Erwähnung in diesem Bericht fand die LKW-Kette, die den Zug aufhalten sollte. Tätliche Übergriffe werden von Augenzeugen kaum bestätigt.
Vor den LKWs standen Polizisten dreifach gestaffelt. Die Männer in Uniform hielten sich an den Koppeln fest. Die Kette geriet unter den Druck der die »Marschsäule« von hinten Schiebenden. Andere umgingen die Polizei, zogen weiter. Die Demonstration bewegte sich auf den für den Massenprotest optimalen Weg dorthin, wo die Zwingburg stand, die Bastille. Aber zu neu und zu überraschend war vieles noch, sowohl für die Demonstranten als auch für die Macht. Wer auf der Straße hätte für möglich gehalten, daß er binnen nur einer Woche in solcher gewachsenen Massenhaftigkeit mit anderen fast die ganze Stadt umrunden würde? Selbst die diensthabende Besatzung des Stasi-Bezirksobjekts Runde Ecke schien dies angesichts der am Konsument massierten Polizei nicht erwartet zu haben. Plötzlich stand eine Gruppe junger Leute vor dem der Straße zugewandten Portal, dort, wo tagsüber der weit auf den »Bürgersteig« vorgeschobene Posten stand, der, weil um ihn sowieso ein Bogen gemacht wurde, wie um die ganze Einrichtung, verhinderte, daß Vorübergehende etwas vom halbdunklen Inneren der Eingangszone erhaschten. »Während an der bisherigen Marschroute vor jedem Frisörladen Polizisten standen, steht die Tür des dunkelgrauen Gebäudes sperrangelweit offen. Ein wenig zögernd, aber von den Rufen Neues Forum zulassen! angespornt, betreten einige die Stufen vor dem Portal. Sie stehen schon im Eingang, genauso verdutzt wie die Männer im Innern. In letzter Sekunde scheint denen der Schreck aus den Gliedern gefahren zu sein. Krachend fällt die Tür der Festung ins Schloß.«130
Später floß ganz in der Nähe Blut. Als sich gegen 20.20 Uhr in Höhe Thomaskirchhof erneut ein Aufgebot von etwa fünfzehnhundert »Personen« zu formieren und in Richtung Innenstadt/Markt zu marschieren versuchte, droschen Polizisten mit dem Schlagstock auf die Köpfe junger Leute, die in der Menge so eingezwängt waren, daß sie sich nicht einmal mit den Händen schützen konnten. »Insbesondere zur Abwehr der von diesen Kräften ausgehenden tätlichen Angriffe und zur Gewährleistung der Sicherheit der eingesetzten Kräfte der Volkspolizei war der Einsatz des Schlagstockes und von Diensthundeführern mit Diensthunden (mit Korb) erforderlich. 21.25 Uhr war die Personenkonzentration aufgelöst. Es wurden insgesamt 20 Personen zugeführt, zu denen nach Aufklärung der konkreten Tatbeteiligung die erforderlichen rechtlichen Maßnahmen veranlaßt werden.«131
So begann die Schmerzenswoche vor der eigentlichen Jubelwoche. Schmerz, zugefügt durch Staatsterror, erlitten die einen, den Schmerz der Erkenntnis die anderen; auch Angst, die Erkenntnis befördern kann, und die Verachtung gegenüber der Macht verursachte solche Schmerzen, im Kopf, in den Eingeweiden. Mancher wurde von solcher Angst krank. Die Niederschrift eines Achtzehnjährigen vom 3. Oktober früh,132 am Morgen nach der Behandlung in der Unfallklinik der Universität, zeigt an Gesprächen, Haltungen, wie Menschen in einer Menge, die Gerechtigkeit einfordert, die Fähigkeit zum Widerstand erlangen, wie sie die Angst überwinden und den Mut zur Gegengewalt aufbringen.
Sichtbar werden aber auch die Gefahren, die entstehen, wenn sich die Gerechtigkeit mit der Gewalt anlegt. Da werden die Grünen, die den Film herausrissen, im nächsten Satz zu Bullen. Da erwacht Gewalttätigkeit. Den bringe ich um. Es war die größte Gefährdung des in diesem Moment errungenen Freiraums Straße. Die im Zentrum des Evangeliums Stehenden setzten die strikte Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit dagegen. Keine Gewalt. Da war die Solidarisierung der Gemeinschaft gegen Spitzel. Da war das Gespräch in der Gemeinschaft, der Dialog. Er wurde auf der Straße geboren und hat sich nicht in die geschlossenen Räume hineinziehen lassen, ohne nicht gleichzeitig die Straße weiter zu behaupten. Da war die Entschlossenheit, wiederzukommen, die Demonstration permanent zu machen: »›Bist Du auch am nächsten Montag wieder dabei?‹ – ›Klar‹, sage ich.« Die Einsicht, daß »sich endlich etwas ändern muß«, wurde zur Massenerkenntnis. Ohne sie wäre die Steigerung der Massenteilnahme an Veränderung vom 2. zum 9. Oktober trotz der wahrscheinlichen, von vielen für fast sicher gehaltenen Anwendung von bewaffneter, militärischer Gewalt nicht möglich gewesen.
Alexander Z., geboren 1971 in Leipzig, berichtet: Was ich am 2. Oktober in der Innenstadt erlebte.
Ich bin am sonnigen Montag gegen halb vier nachmittags ins Städtchen gezogen, bewaffnet mit Rucksack und Fotoapparat, in dem der neue Film auf Motive wartete. Auf der Grimmaischen Straße stand ein Polizistenpaar mehr oder weniger unauffällig neben dem Eck-Ex(quisit), daneben ein Dutzend jugendlicher Männer, die halbe Liter in sich hineinfüllten. Am Elefanten [Porzellangeschäft] und vor der Passage sah ich wiederum zwei Grüne; dies sollte sich noch einige Male an anderen Orten wiederholen. Am Elefanten vorbei ging ich dann in Richtung Nikolaikirche, wo schon ein großer Trubel herrschte. Ich machte einige Bilder (was aber nicht problemlos war) aus Geschäften heraus, hinter Autos. Hinter dem Brühlpelz war ein riesiges Polizeiaufgebot: Jeeps, Ü(berfall)Wagen, besetzt mit Einsatzkommandos, Toniwagen. Ich knipste an der Ecke. Danach kamen drei Bullen auf die Straße; sie kamen von den Autos auf mich zu, schienen mich aber nicht zu beachten; drei Meter von mir entfernt, plötzliche Rechtswendung; schon spürte ich den Griff am Oberarm: Sie kommen bitte mal mit! Was knipsen Sie denn hier? Ich: Darf ich denn nicht knipsen. Einer: Haben Sie denn die Erlaubnis, mich zu knipsen? Wollen wir doch mal sehn, obs was geworden ist. – Nimmt mir den Apparat aus der Hand, macht ihn auf und zieht den ganzen Film raus. Sagt: Wenn wir das nochmal sehen, verbringen Sie ne Nacht bei uns. – Nachdem sie meinen Perso[nalausweis] inspiziert und Angaben notiert hatten (und auf meine Äußerung: Ich habe Sie gar nicht gefilmt: Na, das ist doch jetzt nicht mehr wichtig, geantwortet hatte und: bloß schade um den schönen Film), fragten sie nach meiner Arbeitsstelle. Ich gehe in die Schule. – Wo? – Dimitroff. – Na, was wird denn der Direktor sagen? Wenn wir Sie noch mal bei solchen Aktivitäten sehen, dann nehmen wir Sie mit.
Wieder auf die Straße zurückgekehrt, sprachen mich die umstehenden Bürger an, die alles mit beobachtet hatten: Mensch, da haben die einfach den Film rausgenommen, die Schweine! – Das ist die Freiheit! – Seien Sie doch froh, daß die Ihnen nicht den Apparat weggenommen haben! Ich gehe danach auf kürzestem Wege ins Fotogeschäft, gebe den Kiew-Film ab, hole einen neuen NP 20, lege ihn auf der Sitzbank in der Grimmaischen Straße ein und mache mich wieder in Richtung Nikolaikirche auf. Dort ist alles voll; kein Hineinkommen in die Kirche. Nehme die Sonnenbrille ab. Die Kirche ist restlos überfüllt. Draußen stehen noch ungefähr dreihundert Leute. Der Kirchensprecher fordert sie auf: Geht doch in die Reformierte Kirche am Tröndlinring; da ist auch ein Friedensgebet. Ich gehe dann noch ein wenig durch die Stadt und komme gegen 18 Uhr zur Kirche zurück. Dort ein Riesen-Menschenauflauf, fast kein Durchkommen. Der ganze Freiraum zur Kirche, alle Zufahrtswege sind überfüllt von Menschen. Ich will ein paar Bilder machen; frage einen Mann, der erhöht vor einem Geländer steht, ob er mich nicht mal hochläßt; darauf er: Kannst dir doch ne Leiter kaufen. Ich darauf: S’ war ja nur eine Bitte an Sie. Er: Und ich habe nur geantwortet. Ich: Also, Sie sind ein schlagfertiger Mensch. Lache ihn dumm an. Dann klettere ich neben ihn, wo Platz ist, aufs Geländer, mache ein paar Bilder. Gerade kommt eine Truppe Polizisten die Straße hochmarschiert und stellt sich dann in Kette auf und macht die Straße zu. Ich will von der Ecke aus ein Foto machen. Vor mir stehen ein Junge und eine ältere Frau, vermutlich die Oma. Diese zu mir: Passen Sie nur auf, daß die sie nicht nochmal festnehmen. Sie hatte mich offensichtlich schon vorher gesehen und die Sache mit der Polizei beobachtet, aber die lag eine Stunde zurück. Dann zeigte sie auf einen Mann, der ungefähr drei Meter von uns weg stand: Vorsicht, sagte sie; man weiß nie …; wer Freund oder Feind ist, sage ich. Man kriegts schon ein bissel mit, sagt die Frau. Dann stellen sich drei andere Frauen, die meine Absichten beobachten, vor mich hin und decken mich ab. Ich mache schnell zwei Fotos. Sind Sie fertig? Gleich, sage ich, und betätige den Auslöser. Okay, und vielen Dank auch. Dann hört man Klatschsalven aus der Kirche und das Lied: We shall overcome. Draußen wird danach Völker hört die Signale [Internationale] gesungen. Der ganze Platz ist voll, alle Fenster geöffnet. Bis zum Schuh-Ex alles voller Menschen, nicht mehr zu übersehen. Ich hebe auf Wunsch einer Frau ihren kleinen Sohn hoch, der alles überblicken kann. Dann folgen die Sprüche: Frei-heit, Gleich-heit, Brüder-lich-keit. Die ganze Menge brüllt. Dann: Neu-es Fo-rum zu-las-sen! Dann wieder die Internationale; es folgt: Wir bleiben hier! und Stasi weg, hat kein Zweck! Dann Rufe: Gorbi! Gorbi! Die Leute kommen kaum aus der Kirche heraus, so voll ist der Vorplatz. Der Zug setzt sich in Bewegung. Hinter mir, vom Bauzaun her, funkt ein Blitzlicht auf. Zwei- bis dreimal. Die Menschen drehen sich um; ich schreibe mir die Sprüche auf, die gerufen werden; die Leute um mich rum gucken mich erstaunt an, was ich schreibe, sehen es aber nicht. Nahe dem Schuh-Ex dann: Durch-las-sen! Durch-las-sen! Die Menge setzt sich in Richtung Karl-Marx-Platz in Bewegung. Rechts von mir die Uni [Relief]. Ich bin in Höhe der Mehring-Buchhandlung. Neben mir Ehepaar Creutzmann aus dem Haus. Rufe: Neu-es Fo-rum zu-las-sen! Ich stütze mich auf Stefan, Holger und Christian, die neben mir stehen. Ich habe sie getroffen, Kumpels aus der alten Schule, Lehrlinge, und überschaue, auf sie gestützt, den Karl-Marx-Platz: ein riesiges Menschenmeer bis zur Oper auf der Linken und der Post geradeaus sowie dem Gewandhaus. Creutzmanns fragen mich, wieviele ich gesehen habe. Ich sage: Alles ist voll; der ganze Platz ist überfüllt wie am 1. Mai nicht mal. Keine Straßenbahn kommt mehr weiter. Die Leute rufen: Aus-stei-gen! An-schlies-sen! Einige Leute tun dies auch unter dem Beifall der Menge und verlassen die Bahn. Dann geht der Zug in Richtung Bahnhof, die Post rechts liegenlassend.
Der ganze Innenstadtverkehr kam zum Erliegen. Die Masse zog bis zum Bahnhof und dann bis zum Konsument am Brühl. Kurz vor der »Blechbüchse« staute es sich immer mehr auf. Die Polizei hatte für quer eine Kette gebildet; es wurden mehrere Ketten durchbrochen; dann wieder Stillstand. Die Absperrung verschob sich immer mehr in Richtung »Blechbüchse« [Konsument]. 19.06 flog die erste Bullenmütze durch die Luft, unterm Jubel der Massen. Sie wurde immer weiter nach hinten geworfen. Wie ein Luftballon. Ihr folgten weitere; bis 19.30 mindestens acht Stück. (In der Kette standen plötzlich Unbemützte.) Die Menge tobte. Dann wurde die Absperrungskette gestürmt. Die Polizei griff ein. Die Menge brüllte: Schämt euch was! Die ganze Straße war vom Bahnhof bis zum Konsument von Menschen voll. Zehn nach acht erfolgte der Durchbruch. Die Polizeikette zerriß. Die Massen konnten nicht mehr aufgehalten werden. Viele rannten über die Grünanlagen. Der ganze Zug war seit dem Karl-Marx-Platz von denselben Gesängen begleitet wie vor der Kirche. Alles zog zur Brücke. Dort standen schon Massen und guckten. Dann weiter zur Thomaskirche. Am Schauspielhaus glotzten die Leute. Aufforderung der Menge: An-schlies-sen! zum Balkon hoch. Das geht euch auch an, ruft eine Frau: Kommt runter!
Auszug aus dem Originalbericht von Alexander Z.
In Höhe Schauspielhaus, Stasigebäude, kommen große Bullentransporte, Ellos [Mannschaftswagen mit Sitzbänken]. Die Leute sperrten die Straße ab, ließen sie nicht durch, setzten sich auf die Straße. Es entstand ein Riesentumult um die Autos. Plötzlich fuhr der eine Wagen an. Die Menschen sprangen zur Seite. Aufschreie und Tumult. Das hatte niemand erwartet. Die Leute waren entsetzt. Kreischten. Diese Schweine!, rief jemand. Die linke Fensterscheibe des Ello war kaputt. Ein Mann stellte sich auf die Straße und pinkelte. Der Zug lief weiter bis zur Thomaskirche. Dann versammelte sich eine große Gruppe auf dem Thomaskirchhof neben dem Topas [Modehaus]. Ich stehe mit den Kumpels in der ersten Reihe. Vor mir eine Polizeikette. Dann spitzt sich die Situation zu. Ich komme nicht raus. Ein Riesendruck von hinten. Ich schiebe mich an einem Polizisten vorbei. Die rechte Flanke reißt durch. Ich stürze nach rechts. Von links kommen mehrere Polizisten, stellen sich vor die stürmende Masse, machen eine (neue) Kette. Ich versuche durchzukommen, sehe vor mir einen Schlagstock ausholen. Dann ein derber Schlag auf meinen Kopf. Falle hin, kann mich aber schnell wieder hochrappeln. Neben mir stürzt die Menge über mich drüber und an mir vorbei. Ich bemerke, daß mein Kopf furchtbar schmerzt. Fasse mit der Hand drauf. Die ganze Hand ist rot. Der Kopf blutet stark. Neben dem Topas steht ein Krankenwagen bereit. Ich kämpfe mich durch, werde von den Polizisten durchgelassen. Entsetzte Menschen schauen mich an. Diese Schweine, rufen einige erschrocken, die müssen doch spinnen! Im Krankenwagen und draußen liegt schon einer auf der Trage. Er wurde von Bullen-Schaftstiefeln zusammengetreten. Er hatte große Schmerzen. Dann wurde eine völlig kalkweiße Frau hereingeschleppt. Sie war ganz verstört, konnte nicht sprechen; sie war hingefallen und wurde überrannt.
Im Krankenwagen sitzend, mit eingebundenem Kopf, sehe ich, wie Leute durch die Fenster schauen. Viele nicken mir anerkennend zu, ballen die Faust; einer stellt den Daumen auf. Dann fährt der Krankenwagen in die Chirurgie. 20.30 Chirurgie: Eine junge Frau sagt, sie hätte den Scheinwerfer des losfahrenden Wagens vor den Kopf bekommen. Dann geriet auch sie in den Tumult an der Thomaskirche-Topas. Sie ist gestürzt und wußte nichts mehr. Ihr Freund (der jetzt neben ihr sitzt) zog sie irgendwie raus. In der Chirurgie war Chaos, alles überlastet. Ich fühlte mich wieder ganz gut. Dann wurde ich geröntgt und später genäht. Es war zum Glück nur eine Platzwunde. Der eine Junge auf der Trage hatte auch einen Schlag mit dem Gummiknüppel abbekommen; er sagte ganz leise zu mir: Wenn ich den erwische, den bring ich um! Der andere, den sie getreten hatten, sagte, auf der Trage liegend: Am nächsten Montag bin ich wieder dabei. Die Frau zu mir: Bist du auch am nächsten Montag wieder dabei? Klar, sage ich. Eine Frau kommt vorbei, sagt: Was in der Stadt los war; diese Menschen; also so was. Der junge Mann auf der Trage: Sie müssen aber auch mal bedenken, warum wir auf die Straße gehen; weil sich endlich was verändern muß. Die junge Frau auf der Trage: Bald gehts nach … (kleiner Ort bei Leipzig, den Namen habe ich vergessen) ins Krankenhaus. Gegen 23 Uhr verließ ich die Chirurgie. Es regnete. Ich lief nach Hause. So ging der Montag vor dem Vierzigsten zu Ende.
Mit der Demonstration der Zwanzigtausend in Leipzig am Montag, dem 2. Oktober, begann in der DDR die demokratische Revolution.133 An eben diesem Abend gab Politbüromitglied Kleiber, dem Verteiler von Mielkes geheimsten Lageberichten angehörend, ein Essen für die in der DDR weilende chinesische Partei- und Regierungsdelegation; aus dem Toast spricht der feste Wille zum Machterhalt. »Wir gehen unbeirrt in den Grundfragen unserer Zeit von gleichen Positionen und Erwartungen aus. In diesem Sinne waren auch die kürzlichen Ereignisse in China eine gemeinsame Lehre.« In der gegenwärtigen antisozialistischen Offensive aber stelle die DDR »ein Hauptangriffsobjekt« dar.134 Auch mit dieser Verknüpfung der Ereignisse wurde der Bevölkerung der Bürgerkrieg angedroht.
Inmitten der Medienfinsternis in dieser Stadt und in diesem Land, damals, bleibt festzuhalten: Das Bündnis der Tausende zur Aktion und in der Aktion entstand durch Verabredung von Mund zu Mund, ergänzt durch die Bildberichte von ARD und ZDF, die noch an den Montagen über den Bildschirm gingen. Es bestand Transparenz des Geschehens in dreierlei Gestalt: erstens innerhalb der Gebetsgemeinschaft, zweitens unter den Demonstranten. Diese begannen eine Dauerdiskussion zu führen und auf den innerstädtischen Ring hinauszutragen, die es zuvor nur in der Nische, in der Familie, im Freundeskreis, unter Arbeitskollegen des persönlichen Vertrauens gegeben hatte. Es gab diese Transparenz drittens bei den mit der Überwachung beauftragten Staatsorganen, zuerst bei denen vor Ort, dann bei den Informationsaufbereitern für die Weitergabe nach »oben«, schließlich dort, wo aus Transparenz das Gegenteil von Glasnost wurde: im Politbüro, der Zentralen Partei- und Kontrollkommission der SED, dem Ministerium des Innern und anderen Spitzengremien. Diejenigen, die dem engsten Zirkel der Macht angehörten, erhielten die ungetrübtesten, am wenigsten gefilterten Informationen, die Wahrheit pur. Über die »öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Aktion im Anschluß an das sogenannte Montagsgebet in der Nikolaikirche in Leipzig (am 25. September 1989)« sowie die »erneute öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Demonstration« usw. (am 2. Oktober 1989) wurden informiert:135 am 26. September Mittag (in Vertretung von Honecker136), Stoph, Dohlus (ZPKK), Hager, Herrmann, Jarowinsky, Krenz, Schabowski, Dickel/Ahrendt, Herger, Sorgenicht, Mittig, Großmann, Neiber, Schwanitz, Carlsohn, das MfS intern; diese Information war »Streng geheim! Um Rückgabe wird gebeten!«. Die Rückgabe der Kopien wurde vermutlich nach dem gleichen Verteilerschlüssel kontrolliert. Die Information über das Demonstrationsgeschehen am 2. Oktober in Leipzig wurde am Tag darauf an Honecker, Stoph, Dohlus, Hager, Herrmann, Jarowinsky, Krenz, Mittag, Dickel, Sorgenicht gegeben, ferner an Mittig, Großmann, Neiber, Schwanitz, Carlsohn, das MfS intern. Der engere Zirkel der Macht wußte von allem. Er besaß das Monopol der auf Detailkenntnis gegründeten Entscheidung, er war der bestinformierte im Lande und hatte daraus längst den Schluß gezogen, die Fiktion für die in der Realität Lebenden Wirklichkeit werden zu lassen und dadurch jeden Widerspruch zu ersticken. Nach uns die Sintflut. Die Fiktion war der Knebel. Über dem Knebel trugen die Bürger noch den Maulkorb. Die von diesem Personenkreis mit Ausrufezeichen angemahnte prompte Rückgabe der streng geheimen Informationen läßt gut erkennen, daß es außerhalb des Zirkels der fast Alleswissenden verschiedene Zonen der Informiertheit wie der Abschottung gab. In ihnen bewegten sich Geheimnisträger der unterschiedlichsten Wahrheitseinsicht und Realitätsnähe. Die Gefahr, daß Informationen in der Papierflut des Apparats und dem Gewirr der Gleise nicht zu Mielke zurückfanden, bestand offenbar immer.
Am Informiertsein der obersten Führungskader sind deren Verlautbarungen zu messen; es waren Inszenierungen im Großformat, und sie waren auf Lüge und Heuchelei gegründet. Die Bewußtseinsspaltung riß die Gesellschaft mitten durch. Im Kartenhaus der Scheinheiligkeit haben sich Hunderttausende mit einer solchen Vorsicht bewegt, daß einfach nichts einstürzen konnte, haben die Stimme gesenkt, die Luft angehalten, Kopf und Schultern eingezogen, sich in schrecklicher Weise krumm gemacht. Nicht alle entschieden sich für den aufrechten Gang, als es mit immer weniger persönlicher Gefährdung möglich war. Sie bedauern das heute, können es sich nicht verzeihen, wollen es nachträglich gutmachen. In der erstmals am 25. September überfüllten Nikolaikirche geschah dieses Sich-Aufrichten gemeinsam, und dann Woche für Woche. Auch die Hunderte vor der Kirche, soweit sie nicht zu den Überwachern gehörten, veränderten Haltung und Ausdruck merklich. Die Veränderung sprach zuerst aus den Augen der Menschen, das veränderte die Gesichter. Es war den Menschen anzusehen, daß sie zu einer freien Würde zurückfanden, während die »Büttel« im Krampf des aufrechten Befehlsganges und angesichts dieser mutigen Menschen politisch-moralisch aufzugeben begannen.