Читать книгу Ende einer Selbstzerstörung - Hartmut Zwahr - Страница 12
ОглавлениеIm Feierton
Am Tag nach der Demonstration der Zwanzigtausend in Leipzig schlug der Erste Mann der Republik im Haus des Zentralkomitees der SED auf einem Treffen des Politbüros mit Widerstandskämpfern und Aktivisten der ersten Stunde den Feierton zum 40. Jahrestag der DDR an. »In vier Jahrzehnten hat sich bestätigt, daß die Existenz der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik ein Glück für unser Volk, für die Völker Europas ist.«137 An einer Tafel in der vollen Breite des Festsaales, auf die vier Tischreihen zuliefen, hatten Politbüro und Staatsführung Platz genommen, das Orchester auf der Bühne im Rücken. Ahnte in diesem Präsidium auch nur einer, daß das an der Wand von den Zahlenblöcken 1949 1989 eingefaßte Staatsemblem mit den Werktätigensymbolen Hammer, Zirkel, Ährenkranz binnen Jahresfrist Zeugnis ablegen würde für das Ende des DDR-Staates.
»Liebe Kameraden des antifaschistischen Widerstandes!«138 Rührte eine solche Anrede aus dem Mund des Generalsekretärs die einstigen Widerstandskämpfer an? Wer ahnt, was sie aus gegebenem Anlaß fühlten – mit der Vision von einer gerechteren Gesellschaft in die Zukunft Aufgebrochene, die ein Jahrhundertexperiment versucht hatten? Jüngere waren ihnen gefolgt. Gestanden sie sich ein, daß der sozialistische, ja kommunistische Zukunftsentwurf, dem sie gefolgt waren, von Anfang an nicht ohne den autoritären Zugriff auf das Individuum ausgekommen war, um den Neuen Menschen zu schaffen? Wenn sie aber fest an die planbare Größe Produktivkraft Mensch geglaubt hatten, die es nur unentwegt zu erziehen und in der als wahr und richtig erkannten Richtung politisch-ideologisch durchzuformen galt, waren sie da nicht zum Scheitern Aufgebrochene gewesen? Mußten sie nicht irre werden an ihren Objekten, als »die Menschen, unsere Menschen« die heroischen Züge der Sockelfiguren entlang des Vierzigjahresweges nicht annahmen? »Liebe Aktivisten der ersten Stunde!« Mit ungestümem Schwung waren sie aufgebrochen, dann aber auf dem Weg durch erstarrende Strukturen ermüdet, auch zerbrochen beim Vergessen der zu Unpersonen Gewordenen,139 abgestumpft beim Immer-Weiter-Gehen durch Verengungen, die sich wie Tunnelwände aneinanderreihten. Die Innenansicht von Ausschluß, Verfahren, Haft hatte gefühlstaub gemacht. Andere waren an die Seite getreten, von wo sie in Abständen, aus den Ordens- und Auszeichnungsregistern heraus, zur Ehrung aufgerufen wurden. »Liebe Freunde und Genossen!«140 Was hieß das angesichts der allgemeinen Sprachlosigkeit, die lähmte, einmal überwunden aber erschreckte, nämlich als auf den Straßen das Durchatmen und drinnen das Aufatmen einsetzte, dieses »Nach langem Schweigen endlich sprechen«.141
Die Sitzordnung des Präsidiums demonstrierte die ›Geschlossenheit‹ der im Demokratischen Block unter Führung der SED vereinten Parteien. Sie war Programm. Politbüromitglied Kleiber (SED) saß zwischen dem Nationaldemokraten Homann (NDPD)142 und dem Liberaldemokraten Gerlach (LDPD), der Bauernparteivorsitzende Maleuda (DBD) fand seinen Platz zwischen den Politbüromitgliedern Mittag und Herrmann,143 und neben Herrmann saß Götting (CDU).144 Mittag und Herrmann werden mit Honecker am 18. Oktober entmachtet werden, Maleuda wird als erster Volkskammerpräsident der Wende an die Stelle von Sindermann treten, Rechtsanwalt de Maizière145 (er befand sich als einziger der Genannten nicht im Saal) Götting ablösen, Gerlach am 6. Dezember mit der Wahrnehmung der Aufgaben des amtierenden Staatsratsvorsitzenden beauftragt werden. In einer vorgezogenen Rede zum 40. Jahrestag hatte er Betroffenheit darüber ausgedrückt, daß »Kinder der Revolution, hier erzogen und politisch gebildet«, das Land verlassen,146 und hatte später sogar die verheerende Sicherheitsdoktrin des Honecker-Politbüros angegriffen. »Was Liberaldemokraten heute mit Sorge erfüllt, ist, daß sich politische Wachsamkeit auch gegen Bürger zu kehren beginnt, die sich, in ihrem demokratischen Verständnis von Humanismus, von Dasein für Mitmenschen folgend, kooperativ an der Gestaltung des Sozialismus beteiligen wollen, aber Gefahr laufen, als Quertreiber ausgegrenzt zu werden.«147 Armeegeneral Mielke,148 dafür zuständig, blieb an der Festtafel unauffällig. Krenz149 hatte den Blick von einem entfernten Platz auf den Redner gerichtet: von Honecker trennten ihn Hager, Axen, Stoph. Von der entgegengesetzten Seite blickte Mittag150 mit ebensolcher Aufmerksamkeitshaltung zum Rednerpult. Zwischen ihm und Honecker saßen Keßler und Sindermann. Das Politbüro, das eine offene Debatte nicht kannte, »nicht einmal am Rande«,151 wo jede Fehlerdiskussion verpönt war,152 war vor dem Parteiherrn in der Habachtpose erstarrt. Der Gewerkschaftsvorsitzende Tisch153 war von Krenz durch Mückenberger getrennt, von dem es hieß, er schliefe im Stehen. Zu seiner Linken ragte Alfred Neumann auf; an seiner Seite hatte der Berliner Bezirkssekretär Schabowski Platz genommen, der Stoph »einen Aktivposten in der Technologie des Sturzes von Honecker« nennen wird.154
Als die »verdorbenen Greise«, wie der geächtete Sänger sie genannt hat,155 und die anderen einzogen, applaudierten die Gäste stehend. All das zählt nicht in der Geschichte, aber es gehört dazu. »Mit herzlichem Beifall begrüßen Widerstandskämpfer und Aktivisten der ersten Stunde die Mitglieder der Partei- und Staatsführung.« Es war eher ein Hineinrufen in den Saal mit hoher, sich überschlagender Stimme als ein Sprechen: »Wir sind gewiß, daß die DDR auch die Anforderungen der Zukunft bewältigen wird.« Der Generalsekretär reichte einem Genossen die Hand, dieser nahm sie mit beiden Händen.156 Zwei Mitunterzeichner der Gründungsurkunde der Freien Deutschen Jugend von 1946, inzwischen beide weißhaarig, standen sich gegenüber. Ministerratsvorsitzender Stoph, rechts neben Honecker, dessen Absetzung er in der Politbürositzung am 17. Oktober fordern wird,157 enthüllte am Nachmittag im Ministerium eine Tafel zum Gedenken an die Staatsgründung vor vierzig Jahren. Währenddessen traf die Regierung letzte Vorbereitungen, den paß- und visafreien Reiseverkehr zwischen der DDR und der ČSSR für die Bürger der DDR mit sofortiger Wirkung auszusetzen.158 Denn nach der Ausweisung der Botschaftsflüchtlinge war die Bonner Vertretung in Prag binnen Stunden zum zweiten Mal von Flüchtlingen überrannt worden159 Die zweite Ausweisung in Sonderzügen über das Territorium der DDR stand bevor. Die Schließung der Grenze, die ADN noch am 3. Oktober meldete, versperrte den Fluchtweg nach Prag und Budapest.
Mit einem Male erschien das Land seinen Bewohnern wieder wie ein Haus ohne Fenster und Türen. Ein Ausbruch von Massenwut stand bevor. Zuerst eskalierten Gewalt und Gegengewalt am 4. Oktober abends am Dresdner Hauptbahnhof, nachdem die Ankunft der aus Prag angekündigten Züge um 24 Stunden verschoben worden war. Die einen wollten die Grenzöffnung erzwingen, die anderen auf Bahnsteig 5 zu den Ausgewiesenen in den Sonderzügen aus Richtung Bad Schandau aufspringen, wieder andere die Demokratiebewegung beginnen. Was in Dresden geschah, wirkte am Beginn der Jubelwoche wie eine Explosion. Am 4. Oktober waren gegen 17 Uhr Haupt- und Vorhalle des Bahnhofes, der Dreh- und Angelpunkt der Berufsverkehrszüge war, mit Menschen so angefüllt, daß er nicht mehr betreten werden konnte. Die Polizeiketten standen mittendrin im Stau der meist jungen Leute. Bahnsteig 5 war geräumt und wurde von Schutz- und Transportpolizei (ohne Schilde) abgesperrt. Die anderen Bahnsteige konnten nur mit Fahrkarte betreten werden. Über allem lag eine relative, aber spannungsgeladene Ruhe. Es gab weder Sprechchöre noch Transparente. Einzelrufe wie Raus! waren zu hören. Vor dem Bahnhof hatten sich rund 500 bis 700 »Schaulustige« angesammelt. Dann fuhr die Polizei in etwa 20 bis 25 LKWs auf das entferntere Bahnhofsgelände und rückte von dort ins Innere des Bahnhofs vor. Die Hallen und Bahnsteige wurden »freigeräumt« und dabei verwüstet. Die Wartenden wurden mit Wasserwerfern und Schlagstöcken herausgetrieben; anschließend verbarrikadierten sich die Polizeikräfte. Vor den Ausgängen in Richtung Prager Straße standen die Menschen, durchmischt mit Stasi, Kopf an Kopf und warteten in der ganzen Breite bis über die Fahrbahn vor dem Lenindenkmal. Jugendliche, teils mit Motorradhelm, wagten sich vor, warfen Pflastersteine, später Benzinkissen (mit benzingetränktem Material gefüllte Plastebeutel), während behelmte Polizei hinter Schilden aus der Bahnhofsdeckung herausstürmte und die Werfenden zurückzudrängen suchte, bis diese erneut vorrückten, nur unterbrochen vom Einsatz zweier Wasserwerfer (der zuerst eingesetzte Wagen hatte unter dem Jubel der Menge technisch versagt), die wechselnd heranfuhren und ihr Wasser verspritzten. Die Ereignisse wogten bis zwei oder drei Uhr in der Nacht.
Angesichts dieser Konfrontation entstanden die ersten Sprechchöre: Schämt euch!, Bullenschweine! und Freiheit! (Leipzig am 25. September und 2. Oktober). In veränderter Form wiederholten sich die Zusammenstöße in Dresden am 5. und 6. Oktober, verlagerten sich aber, weil der Bahnhof abgeriegelt war, stärker in die Prager Straße und nahmen allmählich Demonstrationscharakter an. Über Lautsprecher befahlen die Polizeikräfte Räumen! Dann, »wie bei den Römerspielen mit den Schlagstöcken an die Schilde klopfend«, rückten sie gegen die Menschenmenge vor. Was dort auf beiden Seiten passierte, »das war rein auf Kampf aus, da waren keine Sprechchöre; das war wie Bürgerkrieg«.160 Der Zustrom aus der Bevölkerung zwang die Staatsmacht, die Konfrontation mit den Massenprotesten abzubrechen. Dadurch kam die Bürgerbewegung erstmals in eine Verhandlungsposition, wobei Kirchenvertreter mit Umsicht und Energie als Vermittler auftraten. In Dresden brachte der Schlagstock-Einsatz keinen solchen ›Erfolg‹ wie in Leipzig noch am 2. Oktober. Gleich war die Art des Vorgehens der Staatsmacht. Sie suchte die Konfrontation. Diese Härte zeigte chinesische Züge. Der Generalsekretär hatte auf Abschreckung durch Angst und Unnachgiebigkeit gesetzt. Deshalb kam der am 9. Oktober abends zwischen dem Dresdner Oberbürgermeister Berghofer und der »Gruppe der Zwanzig« vereinbarte Dialog erst so spät zustande.161
Der Partei- und Staatsapparat in der Provinz nahm den hauptstädtischen Feierton auf: er stellte sich nach den Regeln der rituellen Kommunikation auf die Sprachregelung der Zentrale ein. Die Durchhaltestimmung oben verstärkte das Schweigen und die Abschottung der Kader unten. Es wurde im Brustton der Überzeugung weitergeredet und Schulterschluß bewiesen. »Treffen des Politbüros des ZK der SED mit verdienstvollen Gründern der DDR« (Sächsische Zeitung).162 »Veteranen sangen Lieder«, die sie (im Kampf) begleitet hatten. »Du hast ja ein Ziel vor den Augen / Wir lieben das fröhliche Leben / Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend bau auf.« An diesem Tag wurde der Stammbetrieb des Stahl- und Walzwerks Riesa ausgezeichnet; der erste Schmelzer nahm ein Ehrenbanner aus der Hand des Ministers entgegen. Das Rohrkombinat erhielt für erfüllte Pläne und die termingemäße Übergabe aller Ratio(nalisierungs)mittel den Ehrennamen Karl Marx verliehen. Die Beschenkten dankten in Wendungen des Rituals.163 Das Gesprochene machte das scheinbar Erhabene zu Trivialem. Im Rohrwerk IV wurde der Jugendbrigadier der Brigade Karl Marx für die »Sächsische Zeitung« befragt, was der Name des »großen Klassikers« ihnen bedeute. Antwort: »Wir sind an und mit ihm gewachsen, auch wenn das mitunter recht unbequem war.« Frage: »Bedeutet der Name des weltbekannten Philosophen für euch, auch ständig und überall Spitze zu sein?« Antwort: »Er bedeutet zumindest, immer zur Spitze zu wollen. Stolpern gehört dabei zum Laufen. Auch wir hatten schon mit der Kondition zu kämpfen, standen mit 1.250 Tonnen in der Kreide. Klingt viel, sind aber ›nur‹ fünf Schichten. Wir haben uns gesagt, wir achten peinlichst auf Qualität. Nicht alle sahen das gleich so« usw. Frage: »Nun seid Ihr seit gestern also doppelt mit Marx verbunden?« Antwort: »Was heißt hier doppelt? Mehrfach! Wir freuen uns natürlich, daß unser Kombinat diese hohe Anerkennung erhielt. Wir wissen, daß ein solcher Ehrenname weit mehr als eine Geste der Anerkennung ist. Uns freut es, daß wir mit unserem Namen ein bißchen Vorreiter im Kombinat waren. Wir sehen Marx aber nicht nur gern auf unserem Brigadetagebuch, sondern auch am Zahltag, auf den blauen Scheinen. Denn: Gute Arbeit soll sich ja für jeden daran Beteiligten auch auszahlen, womit wir wieder bei Marx wären.«164
So wurde die um Höchstleistungen ringende Arbeiterklasse inszeniert. Der Brigadier war die Klasse; diese folgte Marx, und dieser verantwortete im Verständnis der Benutzten die beste aller Welten, den realen Sozialismus. Das Marx-Plakat im Wahlkampf 1990 mit der Aufschrift Proletarier aller Länder vergebt mir schloß an diese Erfahrung an. Das administrative System bewegte den Arbeiter ›von oben‹. Er stabilisierte es durch Arbeit und Anpassung. Die Inszenierung der machtausübenden Arbeiterklasse hielt an bis in die letzten Stunden vor der Wende. Der Arbeiter, der Angehörige der Intelligenz, der Genossenschaftsbauer, der Handwerker usw., das waren die Denkfiguren des administrativen Systems, die in einer ritualisierten Rang- und Reihenfolge als Identifikationsmuster dienten. Krenz hat nach seiner Wahl zum Generalsekretär am 18. Oktober die erste Fernsehansprache in beispielloser Verkennung der Realität auf dieses Muster aufgebaut.165 Die hochgebildete Intelligenz war zu diesem Zeitpunkt um einige Plätze an die Arbeiterklasse herangerückt, die Soldaten dagegen waren zurückgefallen. Hinter ihnen gab es nur noch die Veteranen der Arbeit, die Rentner, sowie die Kirchen.
Die stärkste Autorität im Lande war das Allerletzte.
Als sich der Einzelne dem Rollenspiel entzog und die Nische verließ, destabilisierte er das System. Der Zulauf zu den Friedensgebeten, schließlich zu den Leipziger Montagsdemonstrationen und deren landesweiten Anschlußbewegungen kennzeichnete die Veränderung des Kräfteverhältnisses. Damit verlor die Führung die Balance. Die Arbeiter hatten mehrheitlich durchaus ihre Rolle gespielt und als herrschende Klasse funktioniert. Sie kannten die Vorteile wie die Nachteile des Mitspielens. Im Betrieb funktionierte Herrschaft politisch, kaum ökonomisch. Der Arbeiter mußte nicht das Letzte aus sich herausholen, er ging aber mit in den Ruin. Die gigantische Fiktion der im Bündnis mit der Klasse der Genossenschaftsbauern und den anderen Werktätigen die Macht ausübenden Arbeiterklasse konnte ohne das Stillhalten der Klasse mit Bauch nicht aufgerichtet werden. Die Revolution hat all diese Rollenspiele beendet. Das Staatsschauspiel Dresden sprach für eine ganze Bevölkerung: Wir treten aus unseren Rollen heraus.166 »Unsere Arbeit steckt in diesem Land. Wir lassen uns das Land nicht kaputtmachen.« (Es war kaputt.) »Ein Land, das seine Jugend nicht halten kann, gefährdet seine Zukunft. Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig. Eine Parteiführung, die ihre Prinzipien nicht mehr auf Brauchbarkeit untersucht, ist zum Untergang verurteilt. Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden.« (Die Künstler hatten die bürgerkriegsähnlichen Zusammenstöße am Hauptbahnhof vor Augen.) »Wir haben ein Recht«: 1. auf Information, 2. auf Dialog, 3. auf selbständiges Denken und Kreativität, 4. auf Pluralismus im Denken, 5. auf Widerspruch, 6. auf Reisefreiheit, 7. unsere staatlichen Leistungen zu überprüfen, 8. neu zu denken, 9. uns einzumischen. »Wir haben die Pflicht …, das Wort Sozialismus so zu definieren, daß dieser Begriff wieder ein annehmbares Lebensideal für unser Volk wird.« Die aus ihrer Rolle heraustretenden Arbeiter haben diese »Pflicht« nicht mehr oder immer weniger gefühlt. »Wir haben die Pflicht, von unserer Staatsund Parteiführung zu verlangen, das Vertrauen zur Bevölkerung wieder herzustellen.« Das Wort ›unser‹ gehörte zum Ritual, es liest sich in der Rückschau wie das Erschrecken vor dem eigenen Mut. Dadurch verlor die Erklärung an Kraft. Denn sie endete gehorsam.
Die aus der Rolle des Machtausübens heraustretenden Arbeiter begannen das System zu zerstören oder doch mitzuzerstören, nachdem der Erfolg der friedlichen Straßendemonstrationen sie in immer größerer Zahl angezogen hatte. Erst die Massenteilnahme der Arbeiter gab den Demonstrationen die schließlich entscheidende, die systemzerstörende Wucht.
Es lohnt nicht, die Feierlichkeiten zum Vierzigsten Jahrestag darzustellen. Wenn die Ereignisse vom 3. Oktober an einem Höhepunkt zustrebten, dann war das nicht die Festveranstaltung im Palast der Republik mit den Generalsekretären Honecker und Gorbatschow als Festrednern167 und auch nicht der Fackelzug der Einhunderttausend und deren FDJ-Gelöbnis,168 sondern die akute Staatskrise. In der Rückschau werden die Begegnung mit dem tschechoslowakischen Generalsekretär Miloš Jakeš (zurückgetreten am 24. November 1989) und das Treffen mit dem rumänischen Diktator Nicolai Ceauşescu (am 25. Dezember 1989 von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und erschossen) zu unverrückbaren Krisenzeichen.169
Der Dialog führte die Zentrale in die Niederlage. Denn Dialog bedeutete Anhörung, und daraus entstand druckvolle Einwirkung, schließlich Mitverantwortung und ein die Apparate aufsprengendes Hineindrängen der Bürgerbewegungen in die öffentliche Verantwortung. Die von der Zentrale gesteuerten Gewalttätigkeiten gegen die »Kinder der Republik«, in Berlin am 7. Oktober, dem Staatsfeiertag, und am 8. Oktober mit besonderer Brutalität ablaufend, gehörten zur Logik dieser aufs Ganze gehenden Konfrontation. Sie schien den Hauptverantwortungsträgern angesichts der Verweigerung vor allem junger Menschen nötig, denn diese trieb den totalen Stimmungsumschwung im Lande weiter voran. Mit beeindruckendem Mut protestierten Jugendliche an zahlreichen Orten, auch in kleinen Städten wie Bischofswerda,170 gegen das unerträgliche Jubilate von Partei und Staat, gegen die Jubelwoche in einem solchen Land des Verfalls und der Krise, und überall griffen Polizei und Sicherheitskräfte rücksichtslos durch, indem sie Proteste erstickten und Beteiligte verhafteten.