Читать книгу Ende einer Selbstzerstörung - Hartmut Zwahr - Страница 6

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Einleitung

Dies ist das Buch eines Leipzigers, von Beruf Historiker, über die Ereignisse 1989 in Leipzig und die Revolution in der DDR. Das Erlebte, die Erfahrungen haben sich jeweils schon am Abend nach den Montagsdemonstrationen beim Berichten verdichtet, dann noch einmal, wenn Bekannte, Freunde, Kollegen kamen, um Genaueres zu hören. Später folgten Vorträge und Diskussionen an den Universitäten Rotterdam und Leiden und an der Volkshochschule Bielefeld, im März und im Mai 1990, danach am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen. In dieser Zeit ist das Manuskript entstanden, im Wesentlichen habe ich es bis zum Herbst 1990 niedergeschrieben. Während der Bearbeitung für den Druck habe ich es nur noch wenig ergänzt, und dies überwiegend in den Anmerkungen. »Ende einer Selbstzerstörung« war auch schon der Titel des Vortrages in Rotterdam.1

Die Selbstzerstörung der DDR endete mit einer Selbstbefreiung. Sie war für viele Menschen in den fünf neuen Bundesländern eine wichtige gemeinsame Erfahrung und ist das bis heute geblieben. Die Wege der Erinnerung in die davorliegende bizarre Welt des vormundschaftlichen Staates2 sind inzwischen immer weniger begehbar. Neue Wirklichkeiten sind entstanden und haben in vertraute Räume Einzug gehalten. Der Blick mancher Zeitgenossen ist schärfer, genauer geworden, der anderer hat sich getrübt. Zuweilen führt das zu Irritationen, wenn Beteiligte über dasselbe sprechen. In dieser Situation ist das Buch entstanden. Es schadet nichts, wenn ihm das anzumerken ist.

Der Anfang war das Aufschreiben beim Gehen, während der Demonstrationen. Die Menschen waren bis auf den Grund aufgewühlt und hatten die Angst überwunden, auch die Angst vor dem Aufschreiben und Aufgeschriebenwerden. Wer, außer dem Historiker, dachte in diesen Augenblicken daran, daß es die Normalform zeitlichen Abstandnehmens ist, Erlebtes zu vermengen, zu vergessen?

Der Himmel über den Leipzigern war grau. Sie gingen durch die Düsternis der Montagabende, durch Schmutz und Absterbeluft. Sie skandierten Massenrufe, klatschten mit Händen in Handschuhen den Takt, sangen. Sie alle waren aus sich herausgegangen. Zuvor hatte es viele Gründe gegeben, seine Identität zu verbergen. Die Folge war die Maske – das Schafsgesicht, wie auf Wolfgang Mattheuers Gemälde »Geh’ aus deinem Kasten« (1985) im Sprengel Museum in Hannover. Der Leipziger Maler zeigt dem Betrachter eine Szene der Selbstbefreiung. Einer, der nicht länger mit zwei Gesichtern leben kann, der zu sich selbst gekommen ist, verläßt das Gehäuse, in dem er wie eingeschlossen gelebt hat. Die Tür geht auf, und er, ein Noah unserer Tage, wirft seine Kleider ab, nackt entschlüpft er ins Freie. Sein Gefährte bleibt wie versteinert zurück und verbirgt sein Gesicht weiter hinter der Maske mit dem Schafsgesicht, während das Gehäuse zu brennen anfängt. Das Bild führt also auch dies vor Augen: Selbstzerstörung. Auf der rechten Bildseite ist der Kopf eines bärtigen Mannes zu sehen, zu dem ein ausgestreckter, den Weg weisender Arm gehört. Die Hand zeigt dorthin, wohin niemand geht. Die andere Hand liegt, einen Dolch haltend, auf dem Fußboden. Ein geöffneter Schrank ist (bis auf eine kleine Kugel) leer. Eine Hand, die in eine Richtung weist, in die niemand geht; ein Schrank, der (fast) leer ist – das besagt doch wohl: Ende. Der Titel des Bildes, Geh’ aus deinem Kasten, mahnt zum Ausbrechen und zum Aufbruch. Mit einer solchen selbstbestimmten Entscheidung begann die Selbstbefreiung.

Die Tür in die Freiheit sprang in den Montagsdemonstrationen weit auf, die Leipziger haben sie zuerst geöffnet. Irgendwo neben der Straße, auf der die Demonstranten zu Tausenden gingen, lagen die Masken mit dem Schafsgesicht, die sie so lange vor die Gesichter gehalten hatten. Über vieles hatten die Leipziger hinweggesehen, geschwiegen. Bis sie darüber erschraken, wie abgestumpft sie waren. Vielleicht erschraken sie zum ersten Mal, als sie erfuhren, daß der Auwald austrocknete, weil die Braunkohlentagebaue, die an den Rändern der Stadt fraßen, das Grundwasser absenkten; oder als ihnen eines Tages über den bunten Messefahnen und -fähnchen die blinden Augen der Geschäftshäuser in der Hainstraße auffielen, Häuser, die zu den ältesten Leipzigs gehörten. Oder als sie plötzlich sahen, daß ein zeichnendes Kind reagierte, wo sie selbst längst stumm geworden waren. Ich erschrak über drei Wohnhochhäuser, die auf der Schülerzeichnung eines Elfjährigen aufragten; in einem davon war er zuhause. Wo keine Wohnblöcke waren, füllte grauschwarze Luft den Raum vom Himmel bis zur Straße, auf der zwei Autos, ein blaues und ein rotes, wie auf den Grund eines Pfuhles gesunken, zu sehen waren. Auf der anderen Bildhälfte, durch einen Pinselstrich getrennt, winkte ein gelbes Haus mit Giebel. Darüber schwebten vier blaue Wolken, und vor dem Haus floß ein Bach durch eine Wiese. Wer von denen, die in den Demonstrationen gingen, hatte kein solches oder ein ähnliches Haus im Kopf? Wer hatte kein Wunschbild vor Augen? Schließlich weigerten sich die Männer und Frauen, die Schüler und Lehrlinge, in das reale Haus ihrer Ängste, der Verbote und Demütigungen zurückzukehren. Die Fahrt in den Betrieb, in die Schule am Morgen nach der Demonstration war eine solche Rückkehr. Der Ausbruch aus der geschlossenen Gesellschaft bleibt ein Fixpunkt in der Biographie der Beteiligten. Er kann helfen, Irritationen zu widerstehen, die vom Gang der Dinge im vereinten Deutschland ausgelöst werden. Dazu gehört auch die Idee, daß es vielleicht besser gewesen wäre, dies alles hätte gar nicht stattgefunden.

»Analysen zur Wende« nannten die Herausgeber die Beiträge zu dem Band »Leipzig im Oktober. Kirchen und alternative Gruppen im Umbruch der DDR«.3 Wende oder Revolution? Die friedliche Revolution brachte die Wende! Sie führte den Machtwechsel und über diesen schließlich auch den Systemwechsel herbei. Daß es ein bloßer Zusammenbruch war, kann ich aus dem Erleben heraus nicht bestätigen. Wer die Wucht der Demonstrationen nicht gespürt und deren langen Rhythmus nicht verarbeitet hat, dem ist Wesentliches entgangen.

Der Mecklenburger Uwe Johnson hat das Leipzig seiner frühen Universitätsjahre rückblickend die eigentliche und die wirkliche Hauptstadt der DDR genannt. Das parteiadministrative System hat die Vision eines neuen Deutschlands erdrückt, für die hier, in Leipzig, etwa die Geistigkeit eines Ernst Bloch, Werner Krauss, Julius Lips, Walter Markov, Hans Mayer stand.4 Wirklichkeit wurde der autoritäre Gegenentwurf einer neuen deutschen Republik der (Berliner) »Gruppe Ulbricht«.5 Es hat innere Logik, daß es Bürger und Bürgerinnen Leipzigs waren, die mit der Demontage des parteiadministrativen Systems begonnen und schließlich dessen Ende herbeigeführt haben. Der ungestüme Aufbruch in eine bessere DDR endete mit ihrem Untergang.

Ende einer Selbstzerstörung

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