Читать книгу Das Leuchten Deiner Seele - Hazel McNellis - Страница 5
01 Verblasst
ОглавлениеSie schnappte nach Luft. Das schwere Buch entglitt ihren zitternden Fingern und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Die Bibliothek schwankte, die vollgestopften Regale hoben und senkten sich unaufhörlich. Ariana kniff die Augen fest zusammen und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Ihre schweißnassen Hände umklammerten die weich gepolsterten, abgegriffenen Armlehnen. Langsam ebbte das Schwindelgefühl ab. Ihr Herzschlag und ihre Atmung beruhigten sich wieder. Sie berührte ihre eiskalte Stirn, ehe sie sich vorbeugte, um die heruntergefallene Lektüre aufzuheben.
Ein leises Geräusch weiter hinten im Gang erregte ihre Aufmerksamkeit. Ariana hob den Blick. Schritte näherten sich ihrem Platz und Fionn trat um die Ecke. Er lächelte zögernd.
»Hier steckst du«, sagte er, ehe er bei ihrem Anblick die Stirn runzelte. »Geht es dir gut?«
»Ich habe bloß ein Buch gelesen« erwiderte sie.
Sie genierte sich, ihm die Wahrheit zu sagen und zu erklären, dass sie einen Schwächeanfall durchlitten hatte. Sie war eine Prinzessin, die weder schwächlich noch anfällig war.
»Natürlich.« Er nickte. Seine dunkelblauen Augen blitzten auf. Jeder im Land wusste, dass Arianas Herz an der Bibliothek ihrer Mutter hing. Wer sie suchte, traf sie hier, in ihrem Lesesessel, mit einem Buch in der Hand.
»Was führt dich zu mir?«, fragte sie.
Sein Lächeln versteifte sich. Er rang kurz die Hände und marschierte erst ein paar Schritte in die eine Richtung, bevor er kehrtmachte und zurückkam. »Wie lange kennen wir uns schon, Ariana?«
»Das weißt du doch.«
»Ja, selbstverständlich, welch dumme Frage, verzeih, bitte.« Er zögerte. Schließlich blieb er stehen. »Du bist meine engste Freundin, Ari- Prinzessin«, korrigierte er sich hastig. »Ich habe lange nachgedacht und möchte etwas mit dir besprechen.«
»Und was wäre das?«, fragte sie und musterte ihn. Er benahm sich merkwürdig, regelrecht verdächtig. Was war los mit ihm?
»Ich kann warten«, sagte er.
Sie runzelte die Stirn. »Warten? Aber worauf denn?«
»Auf dich, Ariana. Ich verspreche, nein, ich schwöre dir, dass ich auf dich warten werde, ganz gleich, wie lange es dauern mag. Ich wünsche mir, dass du aus freien Stücken eine Ehe mit mir anstrebst und nicht, weil es die Politik so verlangt.«
Ariana schwieg. Sie wäre nie dem Gedanken verfallen, Fionn könne so etwas wie Liebe für sie empfinden. Sie hätte aber ebenso nie daran gedacht, dass er ein Gespräch mit ihr führen würde, das so verlief, wie jenes am gestrigen Abend …
Sie standen eine Weile still nebeneinander. Der blasse Halbmond schimmerte über ihnen und eine Handvoll Sterne glimmerte auf sie herab. Wenige Wolken verirrten sich über den nachtschwarzen Himmel. Sie war allein mit Fionn auf dem Balkon. Im Palast plauderten und lachten die Gäste miteinander.
»Es wird mir eine Ehre sein, dich an meiner Seite zu wissen, Ariana«, murmelte er neben ihr. Sie sah zu ihm auf.
»Vielen Dank, Prinz.«
Er hob einen Mundwinkel, wandte sich ihr zu und umfing ihre Hand mit seinen beiden. Sie fühlte die kräftige Sanftheit durch ihren Handschuh hindurch. Er hob ihre Finger an die Lippen und hauchte einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. Ein flaues Gefühl krauchte durch ihren Magen. Die Regung verstärkte sich und formte einen schweren Klumpen, als Fionn einen Schritt näher herantrat.
»Ariana«, fing er an, »ich muss dir etwas gestehen.«
Ein flüchtiger Ansturm von Panik floss durch sie hindurch. Schnell schob sie die Empfindung beiseite. Ihre Augen blitzten neckisch. »Nur zu«, scherzte sie, um über ihre Nervosität hinwegzutäuschen, »ich weiß, dass du mein Obst gestohlen hast, als ich nicht hinsah.«
Verblüfft blinzelte er. Der Mund stand ihm offen. Er grinste und in seinen Blick trat ein warmer Glanz. »Ach, das …«, erwiderte er. Sein Daumen strich ihr über den Handrücken. »Das meinte ich gar nicht.«
»Nicht?«
Er schüttelte den Kopf. Dabei fiel ihm eine weißblonde Strähne vor das Auge. »Wir kennen uns schon so lange. Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber du bist mir in den letzten Jahren wirklich ans Herz gewachsen.«
Ariana lächelte und drückte Fionns Hand. »Du bist mir auch wichtig. Das weißt du doch.«
»Natürlich, ja. Ich weiß … Was ich eigentlich sagen will, ist …« Sein Adamsapfel hüpfte. Der Prinz holte tief Luft, sog die Nachtluft ein und sah sie durchdringend an.
»Ich liebe dich«, platzte er heraus.
Erstaunen und Überraschung mischten sich. Sie starrte ihn an – und er senkte ertappt den Blick. »Natürlich verstehe ich, wenn du nicht so fühlst«, erklärte er und drückte erneut ihre Finger.
Ariana hob ihre andere Hand und bedeckte seine Lippen für einen flüchtigen Moment.
»Sprich nicht weiter«, bat sie. Sie sah sich um, ob jemand Fionns Worte gehört hatte. »Ich mag dich wirklich sehr. Wir kennen uns seit so vielen Jahren, wie könnte ich verschieden empfinden?« Sie zögerte. »Aber …«
Er seufzte, gab ihre Hand frei und trat zurück. Der Schmerz in seinem Blick traf sie tief. »Du musst nicht weitersprechen«, sagte er. »Ich bedaure, dass du keine tieferen Gefühle für mich hegst, Prinzessin. Ich hoffe darauf, dass sich dies mit der Zeit ändern wird.«
Er verneigte sich. Dann murmelte er eine Entschuldigung und verschwand durch die Flügeltüren ins Innere des Palastes.
Sein Geständnis hatte sie überrascht, sodass ihr die passenden Worte gefehlt hatten. Ariana erinnerte sich ungern an den Moment. Es war ihr unangenehm, dass er sie offen mit seinen Empfindungen konfrontiert hatte.
»Ich will mich entschuldigen«, erklärte Fionn jetzt und sank vor ihr auf die Knie. Er griff in eine der Jackentaschen und zog die Hand behutsam wieder heraus. Er hielt eine blutrote Blüte aus dem herrschaftlichen Garten zwischen seinen Fingern und streckte sie ihr hin. »Ich habe mich gestern indiskret verhalten und offenbar eine Grenze überschritten. Ich hoffe, du verzeihst mir diesen Faux-pas.«
Ariana nahm ihm die Blume aus der Hand. »Dafür musst du dich nicht entschuldigen«, murmelte sie.
»Doch, Ariana. Ich war voreilig. Mein Geständnis hat dich überrumpelt. Auch jetzt sehe ich deutlich, wie deine Augen über einen Fluchtweg nachsinnen.«
»Du hast mich nicht überrumpelt.« Ihre Wangen glühten. War sie so leicht zu durchschauen?
Er schwieg, sodass sie sich genötigt sah etwas hinzuzufügen.
»Ich danke dir für die Blume«, sagte sie. Sie hob die zarte Knospe an die Nase und atmete den schweren Duft ein.
»Ich freue mich, dass sie dir gefällt. Es war nicht leicht, eine solche Schönheit zu finden. Die meisten hatten ihre Blüte bereits hinter sich oder waren merkwürdig geformt. Doch diese Blüte …« Er lächelte zärtlich. »Sie ist perfekt.«
Das Glühen in ihren Wangen wuchs zu einem Flächenbrand heran. Sie mied seinen Blick. »Dann danke ich dir umso mehr für deine Mühe.«
Fionn schob sich ein Stückchen näher. Sein Knie berührte ihr Bein und seine Hand ruhte zwei oder drei Fingerbreit von ihrer eigenen entfernt auf der Sessellehne.
»Ich habe mit dem König gesprochen«, erklärte er. »Ich konnte mich mit ihm auf einen Termin für unsere Vermählung einigen.«
Ariana schluckte. Ihre Finger drehten die Blüte hin und her. Sie war nicht sicher, warum es sie störte, dass er mit ihrem Vater eine solch wichtige Unterredung geführt hatte. Ihre Seele schrie angesichts der Ungerechtigkeit, die ihr hier widerfuhr, auf. Sie hatten sie nicht gefragt. Sie war die adlige Braut. Sie würde gefällig sein und wie schmückendes Beiwerk an seiner Seite stehen.
Ihre Finger krümmten sich, da sie die Hand vor Empörung am liebsten zur Faust geballt hätte. Sie wollte aufspringen und wegrennen. Aber der Prinz saß zu dicht bei ihr. Außerdem wäre es enorm unhöflich, schalt sie sich innerlich. Sie war die Prinzessin. Solche Unterhaltungen sollten ein Leichtes für sie sein. Erst recht derartige Gespräche mit Fionn von Farnàl, den sie ihr ganzes Leben lang kannte. Langsam entspannten sich ihre Hände wieder, sodass sie die Blüte in einer fließenden Bewegung auf den Tisch legte.
»Was hat er gesagt?«, fragte sie.
»Er war mit meinem Vorschlag einverstanden. Wir heiraten beim nächsten vollen Mond – vorausgesetzt, du hast keine Einwände.«
Er lächelte, aber die Sorge und Angst, die Unsicherheit und der Zweifel waren deutlich in seinem Blick zu lesen. Sie erwiderte das Lächeln. Er war ihr Freund, ihr Vertrauter – ihr Verlobter. An ihrer Verbindung war nichts zu beanstanden.
»Das klingt wunderbar«, entgegnete sie.
Fionn griff sofort nach ihrer Hand und barg sie zwischen seinen. Die dunkelblauen Augen des Prinzen strahlten vor Freude über ihre Zustimmung. Sie waren einander seit einer halben Ewigkeit vertraut, aber kannten sie sich innig? In all den Jahren hatten sie massenhaft Zeit miteinander verbracht. Trotzdem bemerkte sie hin und wieder, wie er sie mit einem eigentümlichen Ausdruck ansah. Sie wusste diese Miene oft nicht zu deuten. Jetzt schaute er sie genau auf ebendiese Weise an. Er senkte den Blick auf ihre Lippen.
»Ich habe mich schon des Öfteren gefragt«, sagte er zaudernd. Sein Daumen strich ihr langsam über den Handrücken. »Ich fragte mich, ob du es wohl gestatten würdest.« Er verstummte. Arianas Herz klopfte heftiger. Sie räusperte sich. »Was meinst du?«, erwiderte sie.
Fionn hob sein Gesicht wieder und schaute ihr direkt in die Augen. »Sag, Prinzessin, dürfte ich dich küssen – einmal?«
Eine Gänsehaut glitt ihr über die Arme. Sie holte tief Atem und sank tiefer in den Sessel. »Was?«, piepste sie.
Sie waren verlobt. Bald lernten sie sich deutlich näher kennen, hämmerte es ihr zeitgleich durch die Gedanken. Mann. Frau. Eine Einheit. War dieser Moment unter den Umständen etwa nicht unvermeidlich?
Fionn beugte sich nach vorne, eine Falte entstand zwischen seinen Augenbrauen. »Ich glaube, ein Kuss könnte dir weiterhelfen«, erklärte er mit gesenkter Stimme.
»Wie?«, entgegnete sie atemlos und wich noch ein Stück zurück, bis sie im Sesselpolster der Rückenlehne einsank. Sie war drauf und dran, ihren Freund und Verlobten von sich zu stoßen – wollte sie das?
»Du würdest erkennen, dass du mich ebenso ins Herz geschlossen hast wie ich dich«, sagte er. Die Worte säten Zweifel in ihrem Herzen. Hatte er recht? Vergab sie die Chance der Gewissheit? War es möglich, einen Menschen zu lieben – und sei es ausschließlich mit dem Körper? Sie schluckte. Schweiß brach ihr auf der Haut aus. So kam sich das Kaninchen im Angesicht der Schlange vor: ohnmächtig vor Hilflosigkeit.
Entschlossenheit blitzte in des Prinzen Augen auf. Ehe Ariana ein weiteres Wort über die Zunge brachte, überwand er die kurze Distanz zwischen ihnen.
Heißer Atem traf auf ihr Gesicht, ehe sein Mund auf ihrem lag. Sie keuchte unter der intimen Berührung. Der Kuss war, wie sie ihren Freund bisher kannte: sanftmütig und voll der Vorsicht. Doch dabei blieb es nicht. Fionn verstärkte den Druck seiner Lippen auf ihren. Er glitt über sie hinweg, teilte sie schier beiläufig, wieder und wieder.
Ein unerwarteter Ansturm der Emotionen flutete ihr Innerstes. Der Impuls, ihn von sich zu stoßen, ließ sie die Hände im Schoß ballen. Wie sollte sie ihm je in die Augen sehen oder ein Wort mit ihm wechseln können? Gleichzeitig verleitete die Unerfahrenheit und die damit einhergehende Neugierde sie zum Entgegenkommen. Ariana war hin- und hergerissen zwischen der Fassungslosigkeit und den neuartigen Gefühlen in ihrem Inneren. Sein Kuss verursachte ein Kribbeln auf ihrer Haut. Instinktiv folgte sie dem Beispiel, das der Prinz ihr vorgab. Sie bewegte ihre Lippen ebenso wie er.
Fionn stieß einen rauen Laut aus. Er keuchte – und fuhr abrupt zurück. Seine Brust hob und senkte sich in rascher Folge. Das tiefe Blau seiner Augen schien ihr im Vergleich zu vorher undurchdringlicher. Auf den Wangen ihres Freundes zeichneten sich rote Flecken ab.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie ihn. Ihr Tonfall zitterte und sie hörte die eigene Heiserkeit heraus. Auf ihren Lippen schmeckte sie die Feuchte, die er hinterlassen hatte. Der Nachhall der Berührung polterte in ihrem Herzen. Ob es Fionn ebenso erging wie ihr?
»Das sollte ich eher dich fragen, Prinzessin«, sagte er. In seiner Stimme vernahm sie die gleiche Rauheit wie bei sich selbst. »Hat es dir gefallen?«
Sie senkte den Blick auf ihre Finger. Was konnte sie ihm antworten?
»Es war neu für mich.«
Er löste seine Hände von ihren. »So?«
Das ohnehin zaghafte Lächeln geriet ins Wanken. Ariana beschlich das Gefühl, dass sie nicht den Erwartungen entsprach, dass ihre Worte nicht das enthielten, was er sich erhofft hatte. Schnell sprach sie weiter. »Es war eine interessante Erfahrung.«
»Interessant?« Er lächelte flüchtig. »Willst du es womöglich wiederholen?«, fragte er.
Ariana stand hastig auf und schob sich an ihm vorbei. »Nein«, sagte sie überstürzt. »Ich meine … besser nicht. Es ist … Ich habe nie … Ich bin verwirrt.«
Einen Moment lang hing da wieder dieses schwere, dicke Schweigen zwischen ihnen in der Luft und bildete eine störrische Mauer. Fionn erhob sich ebenfalls.
»Verstehe«, meinte er brüsk und mied ihren Blick. »Vermutlich sollte ich jetzt besser gehen. Teil deinem Vater mit, dass die Hochzeit wie geplant stattfinden kann.«
»Natürlich. Ich räume nur die Bücher ins Regal.«
Ihr entging nicht, wie er sich umsah. Hier herrschte schon Ordnung. Es war ausnahmslos dieses eine Buch, das nicht bei den anderen stand. Er sagte nichts, sondern wandte sich von Ariana ab und ließ sie in der Bibliothek zurück.
Sie atmete tief ein und aus, um ihren Herzschlag zu beruhigen. Mit der Fingerspitze fuhr sie sich über die Lippe. Ob sich jeder Kuss gleich anfühlte? Dies war der Debütkuss in ihrem adligen Leben gewesen. Obwohl sie respektabel aussah mit den weißblonden Locken, indigofarbenen Augen, ihrer ranken Gestalt und den zarten Gesichtszügen, hatte bislang kein Junge es gewagt, die Prinzessin je auf diese Art anzusehen. War es da nicht sogar angemessen, dass sie den ersten Kuss von ihrem zukünftigen Ehemann erhielt?
Er hatte gemeint, dass es ihr helfen würde, über ihre Gefühle Klarheit zu gewinnen. Ariana stellte fest, dass sie sich absolut nicht ihrer Empfindungen gegenüber dem Prinzen sicher war. Liebte sie ihn?
Sie beobachtete durch das Fenster bei ihrem Sessel, wie er sich mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern von der Bibliothek entfernte. Sie starrte solange hinaus, bis Fionn hinter einer Ecke verschwunden war.
Da fiel ihr der Schwindelanfall ein. Hätte sie ihm davon erzählen sollen?
»Ach was«, murmelte sie und wandte sich ab. Sie griff nach dem nachlässig hingelegten Buch. Kurz zögerte sie. Ihre Finger strichen zärtlich über den abgegriffenen Einband. Ihre Gefühle waren in hellem Aufruhr. Sie war verwirrt und wusste kaum mehr, wie sie zu Fionn stand. Am liebsten wäre sie dem Ganzen entflohen. Hätte sich einfach in Luft aufgelöst, sodass niemand sie wiederfand. Einfach nur, um Zeit zu gewinnen.
Einer plötzlichen Sehnsucht folgend, schlug sie das Buch auf. Sofort fand sie die Stelle wieder, an der sie unterbrochen worden war. In ihrem Kopf formte sich die vertraute Welt der Geschichte. Sie sah den Wald, hörte das Plätschern des Bachlaufs, das Zwitschern der Vögel – und erschrak.
Was sie eingangs für Bilder in ihrem Kopf gehalten hatte, verwandelte sich zunehmend in ihre reale Wirklichkeit. Erst war es eine verschwommene Bewegung in ihrem Augenwinkel, die sie wahrnahm. Sie hob den Kopf, um zu sehen, was es war. Bereits beim Heben des Kopfes und Lösen ihres Bewusstseins von den Zeilen der Geschichte rollte das drohende Wogen in ihren Adern heran. Vor ihren Augen verschwanden die Regale der Bibliothek, eines nach dem anderen. Sie lösten sich einfach in Luft auf. Hohe Bäume erschienen wie aus dem Nichts und wiegten sich in einer Brise. Der Bach umströmte murmelnd Arianas Füße. Die Kälte des Wassers kroch ihr durch die Röcke und die Knöchel hinauf. Es bildete sich Gänsehaut auf ihren Beinen. Ariana achtete kaum darauf. Was passierte hier? Sie klammerte sich an das Buch in ihren Händen und ließ ihren Blick fassungslos umherschweifen.
Der lichtspendende Kristall schimmerte weiterhin auf dem Tisch, der nun deplatziert inmitten des Waldes stand. Noch während sie ihn anstarrte, verschwamm er vor ihren Augen. Seine Umrisse verblassten, bevor sich das Möbelstück ebenfalls in Luft auflöste. Ein Schrei bildete sich in ihrer Brust, doch ihre Kehle war wie blockiert. Kein Ton kam hinaus.
Ariana stolperte. Alles drehte sich um sie herum. Ihr Magen revoltierte im Angesicht dieser eklatanten Veränderung ihrer Umgebung. Sie verlor das Gleichgewicht. Hilfesuchend griffen ihre Hände nach Gegenständen. Der Taumel hörte nicht auf. Nach Luft japsend schloss sie die Augen. Sie kämpfte gegen den Aufruhr in ihren Eingeweiden an. Der Schwindel zog und zerrte an ihr, sodass sie sich krümmte. Ihr versagten die Beine und sie fiel endgültig.
Erst eine lange Zeit später kam sie wieder zu sich. Flatterhaft hob sie die Lider und blinzelte in das grelle Licht der Sonnenstrahlen, die durch das rauschende Blätterdach auf ihr Gesicht trafen. Ein flaues Gefühl setzte sich in ihrem Magen fest. Langsam erhob sie sich, stützte sich auf die Ellenbogen, ehe sie sich vollends in eine sitzende Position brachte. Sie guckte auf die Bäume um sich herum. Nieselregen benetzte sie trotz des Sonnenscheins. Sie entdeckte einen gelben Vogel, der ungefähr fünf Ellenlängen von ihr entfernt über die feuchte Wiese hüpfte und sie aufmerksam musterte.
Wo war sie?
Ariana zwang sich, tief einzuatmen. Die Luft strömte taufrisch in ihre Lungen. Der milde Wind rauschte durch das Blätterdach über ihrem Kopf. Träumte sie? Schlief sie in ihrem samtblauen Ohrenbackensessel? Kurzerhand kniff sie sich kräftig in den Arm. Der Atem entwich ihr mit einem zischenden Schmerzenslaut. Sie kniff die Augen zusammen. Dann öffnete sie sie langsam wieder, so als erwarte sie einen Schlag ins Gesicht.
Der Wald blieb vor ihren Augen bestehen.
Das Buch in ihrer Hand war der einzige vertraute Gegenstand, der ihr geblieben war. Sie stierte es einen Moment lang irritiert an. Es war erneut ein Gefühl, ein inneres Drängen, dem sie folgte, als sie es aufschlug.
Schockiert starrte sie auf die Buchseiten. Ihre Finger blätterten mit zunehmender Hast hindurch, von vorne nach hinten, umgekehrt und grimmig durcheinander. Ihre Bewegungen wurden fahriger, zittriger. Das Rascheln der Seiten übertönte bald das Blätterrauschen über ihrem Kopf.
Nichts änderte sich.
Die Buchseiten waren leer.
Ariana starrte das Buch an – ihr Lieblingsbuch. Ihr Blick richtete sich auf die Bäume und den Bach, als wüssten sie eine Antwort auf dieses Mysterium.
»Das ist nicht normal«, flüsterte sie.
Sie musste in Erfahrung bringen, was passiert war und einen Weg nach Hause finden. Sie hatte sich eine Fluchtmöglichkeit gewünscht, aber wer hätte denn ahnen können, dass ihr Wunsch prompt in Erfüllung ging? Vielleicht halluzinierte sie, versuchte Ariana sich zu beruhigen. Ihr Herz klopfte vor Aufregung einen hektischen Takt in ihrer Brust. Sie dachte nach. Zumindest versuchte sie es.
Der Regen durchnässte ihre Kleidung. Das Tageslicht ließ zügig nach. Bald dämmerte es und die Nacht zog herauf. Was war, wenn dies allen Ernstes die Geschichte aus dem Buch war?
»Blödsinn«, murrte sie. »Das ist nicht möglich. Mach dich nicht lächerlich.«
Wahrscheinlich hatte sie ihre Nase zu oft in das Buch gesteckt, grübelte sie zynisch. Sie strich sich durch das Haar und setzte sich in Bewegung. Gleichgültig, was ihr zugestoßen war: Es war unklug an diesem Ort zu bleiben. Sie riskierte, sich zu erkälten, wenn sie hier im Nieselregen ausharrte. Sie brauchte einen Unterschlupf.
Wenn dies die Erzählung aus ihrem Buch war, war es besser, nicht den Wesen zu begegnen, die hier ihr Unwesen trieben. Die Trolle, Zwerge, Hexen und Gestaltwandler. Sie alle teilten sich die Welt mit dem zweigeteilten Volk der Elfen. Ein tröstender Gedanke kam ihr in den Sinn: Wenn sie tatsächlich durch eine Laune der Natur in der Geschichte gefangen war, würde bald der Held auftauchen, um die Welt zu retten.
Der Wald um Ariana herum rührte sich nicht.
Sie zuckte die Schultern und stopfte sich ihr Buch in die Rocktasche. Dabei fiel ihr Blick auf das Gras zu ihren Füßen.
»Was ist denn das?« Sie bückte sich zu dem roten Bindfaden hinab, der sich deutlich vom tiefgrünen Gras abhob. Er schimmerte kräftig und war lang wie ihr Zeigefinger. Irritiert betrachtete sie ihn. Der Zwirn stammte nicht von ihrem Kleid. Zwischen lachsrosa und blutrot lag ein himmelweiter Unterschied. Was war das für ein Faden? Hatte ihn jemand verloren? Vielleicht der Held der Geschichte? Bei dem Gedanken schnaubte sie.
Ein Impuls verleitete sie, den Bindfaden in die Seiten ihres Buches zu klemmen. Ein Insekt schwebte über den Bach hinweg und folgte seinem Lauf. Ariana machte es dem Tier gleich. Wo Wasser war, da waren andere Menschen oft nicht weit.
Im Wald herrschte trübes Dämmerlicht. Die Schatten dehnten sich in die Länge, der Regen hörte auf und der Bach wuchs zu einem rauschenden Fluss an, der sich kraftvoll durch sein Bett wühlte. Das Nass sprudelte, gluckerte und plätscherte in einem fort. Es war das einzige Geräusch in ihrer näheren Umgebung. Das Krabbeltier war weggeflogen, dafür erhob sich eine Vielzahl anderer Insekten aus dem feuchten Ufer. Sie gab es bald auf, die lästigen Winzlinge abzuwehren.
Sie war müde. Ihre Füße schmerzten, weil sie es nicht gewohnt war, lange Strecken zu Fuß zurückzulegen, und die Dunkelheit brach unerwartet schnell über sie herein. Zuhause fielen Tageszeitenwechsel kaum auf. Kristalle spendeten Tag und Nacht Licht. Hier gab es jedoch keine leuchtenden Gesteine. Ariana seufzte. Wo sollte sie schlafen? Was konnte sie essen? Und wie sollte sie je wieder den Weg nach Hause finden?
Der Gedanke drückte ihr schwer auf die Brust und sie blieb stehen, um zitternd Luft zu holen. Warum begegnete ihr niemand? Wo waren die Anzeichen einer Zivilisation? Wo endete der Wald? Arianas Blicke huschten von Baum zu Baum.
»Das ergibt alles keinen Sinn!«, flüsterte sie. Was war ihr zugestoßen? Warum verschwanden alle Buchstaben im Buch? Was bedeutete der rote Faden, den sie aufgehoben hatte?
Ariana presste die Lippen aufeinander. Es war nicht hilfreich, in dieser Lage den Kopf zu verlieren. Sie fände niemals nach Hause und in ihre Welt. Aber was war, meldete sich eine boshafte Stimme in ihrem Kopf zu Wort, wenn es keinen Weg zurückgab? Was unternahm sie dann?
Die Bodenbeschaffenheit veränderte sich. Ihre Füße sanken im zarten Moos ein. Sie verursachten schmatzende Geräusche bei jedem Schritt, bis ihre Fußsohlen in der weichen Erde ausrutschten. Ariana ruderte mit den Armen hektisch durch die Luft. Der Fall war unaufhaltsam. Ein Schreckensruf entfloh ihren Lippen. Ein Platschen ertönte. Nässe breitete sich auf ihrem Bauch aus. Spritzer landeten auf ihren Hals bis zum Kinn und den Wangen hinauf. Sie lag mitten in einer Pfütze. Auf ihrem Gesicht wechselten sich Hitze und Kälte ab. Fluchen gehörte sich nicht für eine Königstochter aus Tarnàl, dennoch entfuhr ihr einer. Eine Prinzessin lag allerdings auch nicht in einer abscheulichen Lache voller Dreck.
Wütend rappelte sie sich auf. Das war nicht fair. Frustration, Angst und Trostlosigkeit trieben ihr die Tränen in die Augen.
»Hör auf!«, knurrte sie und presste sich die Hände auf die Augen. »Das ist bloß ein bisschen Dreck. Der lässt sich abwaschen.« Bei dem Gedanken stiegen erneut Tränen in ihr hoch. »Verdammt!«
Sie hob das Gesicht zum Himmel, an dem sich die dünner werdenden Wolken mit dem Dunkelblau der Nacht vereinten. Der Fluss war inzwischen leiser. Irgendwo im Unterholz raschelte es, sodass Ariana zusammenschrak. Zügig setzte sie ihren Weg fort. Sie folgte dem Wasserlauf eine weitere Biegung entlang und blieb an seinem Ende neben einem hohen, breitstämmigen Baum stehen.
Vor ihr lag die nachtschwarze Fläche eines Sees, spiegelglatt und ohne Bäume weit und breit, außer jenen hinter ihr. In der Ferne hoben sich zerklüftete Felsen vom Horizont ab.
Hier konnte sie sich nicht hinlegen, um auszuruhen. Sie brauchte einen sicheren Platz. Aus ihren Büchern wusste sie, dass Tiere derartige Wasserstellen aufsuchten, um zu trinken.
Ariana warf einen Blick auf die Natur um sie herum. Sie sah keine Höhle, die Schutz versprach. Nur der dicke Baum, neben dem sie stand, wies ein paar niedrige Äste auf. Sie zögerte nicht länger, packte einen Ast und kletterte hinauf. Im Kindesalter waren sie und Fionn ständig auf Bäume geklettert. Das letzte Mal lag Jahre zurück, sodass sie ein paar Körperlängen über dem Boden innehielt. Sie wollte nachts nicht hinunterfallen. Besser, sie erklomm den Baum nicht zu weit nach oben und machte es sich auf einem dicken Ast bequem. Die raue Rinde kratzte ihr in den Handflächen. Bald rutschte sie auf der Suche nach einer gemütlicheren Position unruhig hin und her. Dabei zerriss die Seide ihres Kleides an Schulter, Ellenbogen und Rücken. Ihr schmerzte jeder einzelne Körperteil. Doch die Erschöpfung war übermächtig, sodass sie rasch in einen tiefen Schlummer verfiel.