Читать книгу Unheilvolle Schönheit - Heather Graham - Страница 11

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Zuerst hatte Lori nicht einschlafen können. Aller Wein der Welt hätte da nichts genützt.

Schließlich schlummerte sie aber doch.

Sie träumte von der Vergangenheit, durchlebte sie von neuem, wusste, dass sie sie von neuem durchlebte, ohne sich gegen die Erinnerungsbilder wehren zu können, die vor ihren Augen abliefen.

An jenem Tag in der Kiesgrube war sie siebzehn gewesen. Ihre Mutter hatte gesagt, dass sie in der Blüte ihrer Jahre stehe und sich alles für sie aufs Beste füge. Sie war jung und schön, im wahrsten Sinne des Wortes eine Schönheitskönigin, da sie beim Abschlussball der Schule zur Miss Orangenblüte gekürt worden war.

Außerdem war ihr Herz gerade dabei, zu brechen.

Wegen Sean.

In den endlosen Tagen, die folgten, erkannte sie, dass das Schicksal anders hätte verlaufen können, wenn sich irgendjemand nur ein wenig anders verhalten hätte. Doch zu Beginn jenes Tages wusste sie lediglich eins: dass sie dahinschmachtete … seinetwegen.

Natürlich ahnte niemand etwas davon. Sie war Lori Kelly und konnte sich – nicht zuletzt dank der klugen und weisen Lehren ihres Großvaters – etwas darauf einbilden, nett und anständig zu sein. Aber andererseits war sie zugegebenermaßen ein Teenager und hatte ihren Stolz. Und obwohl sie vielleicht selbst an allem schuld war, hatte sie das, was zwischen ihr und Sean vorgefallen war, völlig verstört.

Vermeintlich war sie in Brad Jackson verliebt. Sie beide gaben ein perfektes Paar ab. Er war einer der besten Schüler, Mitglied des Key Clubs, Quarterback, blauäugig, blond und konnte seine Vorfahren bis zur Mayflower zurückverfolgen. Doch hinter dem glatten, polierten Äußeren wurde ab und zu ein Mensch sichtbar, der nicht ganz so nett war, wie es den Anschein hatte. Was ihre Eltern nie wahrnahmen. Sie sahen nur seine durch und durch amerikanischen Eltern, die im Jachtclub eine große Rolle spielten und ihren staatsbürgerlichen Pflichten aufs Gewissenhafteste nachkamen. Und Brad war schon okay. Sie kannte ihn recht gut, mochte ihn zwar, wusste aber auch, was sie nicht an ihm mochte.

Sean ging mit Mandy Olin. Sie war in seinem Alter, üppig entwickelt, ein bisschen wild und ganz verrückt nach ihm. Auch sie war das Kind reicher Eltern, die ihren Umgang mit Sean nicht billigten. Was vielleicht sogar dazu beitrug, dass Mandy mit ihm ging. Jeder mochte Sean. Nie wich er einer Auseinandersetzung aus, fing aber auch nie von sich aus eine an.

Lori war immer in Sean verliebt gewesen.

Natürlich nur insgeheim. Sie hatte ja ihren Stolz, und solange er mit Mandy zusammen war, würde sie sich nichts anmerken lassen. Selbst die wenigen Male, da sie sich allein begegnet waren, hatte sie sich schnoddrig gegeben und ihre wahren Gefühle für sich behalten.

Und jetzt wollte Sean die Stadt verlassen. Sie würden natürlich alle in unterschiedliche Richtungen auf und davon gehen, aber da Sean auf dem College an Sommerkursen teilnehmen wollte, würde er bald aufbrechen. Sie waren doch noch Kinder, wie ihre Mutter dauernd zu Lori sagte. Sie durften die Dinge nicht zu ernst nehmen. Lori war noch zu jung, um wirklich in jemanden verliebt zu sein. Schließlich lag ihr ganzes Leben vor ihr. Wenn sie mit einem netten Jungen wie Brad zusammenblieb, wäre das natürlich schön. Hauptsache, sie hielt sich von Kindern wie Michael und Sean Black fern. Die taugten nichts. Lori musste aufs College gehen und an der Gestaltung ihrer Zukunft arbeiten. Sie kam aus einem gebildeten Elternhaus, sodass ihr alle Wege offen standen – ein Magistergrad, ein Doktortitel! Sie gehörten nicht zur Unterschicht, und sie wollte ja sicher nicht jetzt schon schwanger werden und ein Kind am Hals haben.

Im Großen und Ganzen war ihre Mutter in Ordnung. Benahm sich als Elternteil immer recht akzeptabel. Lori liebte ihre Mutter. Doch in diesem besonderen Fall war ihre Mutter blind. Ihr war in keiner Weise klar, dass Lori nicht im Entferntesten daran dachte, mit Brad durchzubrennen oder sich ein Kind von ihm anhängen zu lassen. Was die Sache mit Sean betraf, wurde sie jedoch allmählich nervös.

Ihre Freundschaft mit ihm war ihren Eltern nach wie vor ein Dorn im Auge. Er wohnte in einem üblen Viertel von Coconut Grove. Sein Vater war irgendwo Wachmann, seine Mutter schlicht und einfach verschwunden. Er hatte einen Bruder namens Michael, der ein Jahr älter als er und ständig in Schwierigkeiten war. Sein anderer, schon zwanzigjähriger Bruder Daniel war zum Militär gegangen – andere berufliche Möglichkeiten hatte er nicht gehabt. Ihre Eltern wollten nicht, dass sie gegenüber Kindern, die nicht so gut dran waren wie sie, voreingenommen war. Es war nur so, dass Sean, der keine Mutter, einen heruntergekommenen Vater und einen Bruder mit Vorstrafenregister hatte, keine großen Chancen hatte. Er und Leute seines Schlages taugten einfach nicht viel.

Bloß dass das nicht stimmte. Ihr Großvater war der Einzige, der dies verstand. Manchmal konnte Sean ganz schön großspurig sein. Er gehörte dem Football-Team an und war ein guter Spieler. Nach der Schule arbeitete er in einer Buchhandlung, schaffte es aber trotzdem, überdurchschnittliche schulische Leistungen zu erbringen. Er hatte ein Stipendium für die Florida State University. Das war zwar nur eine staatliche Hochschule, doch die Hälfte der reichen Kinder der Stadt gingen auf staatliche Universitäten, hauptsächlich deshalb, weil sie dort ohne weiteres aufgenommen wurden und weil diese Unis dafür bekannt waren, dass dort viele Partys gefeiert wurden. Einige der staatlichen Hochschulen hatten sogar wirklich tolle Unterrichtsangebote. Kluge Kinder aus reichen Elternhäusern gingen jedoch nach Harvard oder Yale, faule oder dumme reiche Kinder auf eine staatliche Uni. Kluge Kinder aus armen Verhältnissen schafften es, an einer staatlichen Hochschule zu studieren, während dumme Kinder aus der Unterschicht als Penner endeten, unter Brücken schliefen und billigen Fusel tranken. Das war ihren Eltern zufolge der Lauf der Dinge. Glücklicherweise war Sean ein kluges Kind aus armen Verhältnissen.

Nicht dass das irgendeine Rolle hätte spielen dürfen. Sean hielt sich für ihren Freund. Wie auch immer ihre Gefühle in all den Jahren ausgesehen haben mochten – seine Liebe galt Mandy. Beziehungsweise seine Lust, wie der Vier-F-Club behauptete. Und Lori ging mit Brad.

Abgesehen von den wenigen Malen, da sie und Sean sich durch Zufall allein begegnet waren, hatte es nur jene eine Nacht gegeben …

… die ihr heute nicht aus dem Kopf gehen wollte.

Sie waren alle in der Kiesgrube. Die ganze Clique. Wahrscheinlich war es verboten, dort zu baden, aber das kümmerte sie nicht. Die Kiesgrube lag im südwestlichen Teil der Stadt und war für irgendein Bauvorhaben ausgehoben, dann jedoch aufgegeben worden. Dort schwimmen zu gehen war gefährlich, aber cool. Das Wasser war zwischen zwanzig und fünfzig Fuß tief, hier und da lagen Autowracks. Um die Grube herum wuchsen Kiefern, der Boden bestand aus feinem weißem Sand, auf dem man wunderbar liegen konnte, um sich von der Sonne bräunen zu lassen. Unter den Kiefern gab es zahlreiche lauschige Plätzchen, die für Picknicks bestens geeignet waren. Infolge der Ausschachtungsarbeiten waren alle möglichen Sandhügel und Dünen entstanden, die Schatten und Ungestörtheit boten.

Als Lori zusammen mit Susan Nichols und Jan Hunt eingetroffen war, war Sean noch nicht da gewesen. Brad ebenfalls nicht. Am vergangenen Abend hatte die Abschlussfeier stattgefunden, also waren sie alle lange aufgeblieben, und einige von ihnen hatten morgens nur schwer aus dem Bett gefunden.

Lori hatte einen neuen Bikini an, kobaltblau und ziemlich knapp. Mit großer Mühe war es ihr gelungen, sich eine dezente Sonnenbräune zuzulegen, was bei ihrer blassen Haut gar nicht so einfach war. Ihre naturblonden Locken hatte sie mit einer Mischung aus Essig und Zitronensaft aufgehellt – mehr war nicht drin, da ihre Mutter ihr nicht erlaubte, künstliche Bleichmittel zu benutzen. Sie sah an jenem Tag gut aus, und das war ihr auch bewusst. Ihre Mutter hatte versonnen gesagt, Jugend sei gleichbedeutend mit Schönheit. Nicht einmal ihren knappen Bikini hatte sie moniert, sondern nur behauptet, dass sie schön sei. »Das sagen alle Mütter zu ihren Töchtern«, hatte Lori eingewandt. »Nein, Schätzchen, du bist wirklich schön. Innen und außen.« Eigentlich hätte sie sich großartig fühlen müssen. Ihre Eltern hatten zwar ihre Macken, aber das war größtenteils nur Gerede. In Wirklichkeit waren sie ganz okay und liebten sie aufrichtig. Obwohl sie sie vor den Blacks gewarnt hatten, benahmen sie sich Sean gegenüber immer anständig, wenn er mit der Clique bei Lori war. Sie hatte noch einen Sommer vor sich, dann würde sie selbst auch aufs College gehen. Ihr ein Jahr älterer Bruder Andrew, der schon aufs College ging und gerade Sommerferien hatte, war inzwischen davon abgekommen, sich wie ein kompletter Blödmann zu benehmen. Statt einander ständig damit zu drohen, den anderen zu verpetzen, behielten sie die Geheimnisse des anderen für sich.

Sobald sie an der Kiesgrube angekommen waren, breiteten Susan, Jan und Lori ihre Badetücher aus, öffneten Dosen mit Limonade, stellten das Radio an und streckten sich auf dem Sand aus.

Nach einer Weile gähnte Jan und räkelte sich. »Ich verbrutzle langsam. Werd mal ins Wasser hopsen. Kommt jemand mit?«

» Ja, ich«, sagte Susie. »Lori?«

» Ähm … noch nicht. Ich fang gerade an, die Sonne zu spüren«, erwiderte Lori. Was nicht stimmte. Sie hoffte nämlich, dass Sean auftauchen, sie in ihrem neuen Bikini sehen und zu dem Schluss kommen würde, dass sie schön war – innen und außen –, um ihr daraufhin zu erklären, dass er unsterblich in sie verliebt sei.

» Okay, dann schmor ruhig weiter. Die Jungs müssten ja bald kommen, wie?«, sagte Sue. Sie ging mit Loris Bruder Andrew. Na ja. Guter Geschmack war nicht jedermanns Sache. Aber immerhin war Andrew besser als Ricky Garcia, der in Loris Augen immer noch ein Arschloch war und mit dem Jan jetzt schon seit zwei Jahren verbändelt war.

» Ja, sicher«, antwortete Lori.

Als die anderen zwei Mädchen Lori verließen, trafen weitere Leute ein. Andrew kreuzte auf, zusammen mit ihrem Cousin Josh, der auch schon aufs College ging, und mit dem gleichaltrigen Jeff Olin, Mandys Bruder. Ihr Bruder war ein Verräter, fand Lori, weil er mit Jeff herumhing. Aber das konnte sie ihm natürlich nicht ins Gesicht sagen. Um sich nicht zu verraten, musste sie die Zähne zusammenbeißen und lächeln. Ihr Bruder kannte sie einfach zu gut.

Josh kitzelte sie und bezeichnete sie als »Kindchen«. Sie war froh, dass sonst niemand in der Nähe war. Josh konnte so verdammt überlegen tun. Manchmal war er allerdings auch nett zu ihr, weil sich einer seiner Collegekumpel in sie verknallt hatte.

Mandy traf ein – ohne Sean. Sie kam mit einer Freundin, Ellie LeBlanc. Beide waren fast nackt. Ellie trug einen dunkel gemusterten Badeanzug, der ihren hellen Teint und ihr dunkles Haar gut zur Geltung brachte, Mandy einen Bikini mit Leopardenmuster, der alles an ihr gut zur Geltung brachte. Die zwei flirteten mit Andrew und Josh. Dann erschien Ricky Garcia, der immer noch Ted Neesons Kumpel war. Anschließend kreuzte Brad auf, zusammen mit Michael Black. Brad kniete sich neben Lori auf Susies Badetuch, fuhr ihr mit der Hand über den nackten Bauch und küsste sie auf die Lippen. Lori gab sich alle Mühe, kein Gesicht zu ziehen oder seine Hand wegzuschieben. »Was ist denn los mit dir?«, fragte er sie, während Zorn in seinen blassblauen Augen aufblitzte.

Trenn dich doch bloß von diesem Blödmann, dachte sie bei sich.

Trotzdem hatte sie sofort Schuldgefühle. Viele aus ihrer Clique schliefen miteinander, aber sie wollte nicht mit Brad schlafen. Obwohl er der beliebteste Typ in seiner Klasse war, Köpfchen hatte und gut aussah. Doch wenn sie mit ein paar Küssen und ein bisschen Petting die Fassade aufrechterhalten und weiterhin den Eindruck erwecken konnte, dass sie fest miteinander gingen …

» Mir ist einfach heiß«, log sie.

Er fixierte sie und schüttelte wütend den Kopf. »Da steckt mehr dahinter. Und weißt du was, Miss Orangenblüte? Wenn du es nicht willst, gibt es genug andere Mädchen, die es wollen.«

Sie starrte ihn an und hoffte inständig, dass die anderen nichts von diesem Wortwechsel mitbekommen hatten.

» Versteh doch … ich bin einfach noch nicht so weit«, log sie.

» Ich bin ein erwachsener Mensch«, erwiderte er, »mit bestimmten Bedürfnissen. Es ist ja nicht so, als gingen wir erst seit gestern miteinander. Ich liebe dich. Alle Welt ist davon überzeugt, dass wir heiraten werden.«

» Aber jetzt noch nicht. Was wenn …«

» Natürlich werden wir Schutzmaßnahmen treffen. Und wenn du trotzdem schwanger wirst, heiraten wir eben früher.«

Ihr wurde ganz flau im Magen.

» Brad, ich bin einfach noch nicht so weit.«

» Dann rutsch mir den Buckel runter!«, zischte er.

» Nun sei doch nicht sauer, Brad … «, begann sie.

Doch er hatte sich schon erhoben und flirtete bereits zusammen mit den anderen Jungs mit Mandy und Ellie. Sie schloss die Augen und schützte sie mit dem Arm vor der Sonne. »Hey, wir gehen schwimmen!«, rief ihr Bruder ihr zu. Sie hob winkend die Hand und hörte, wie die anderen lachend in Richtung Wasser rannten.

Ihr Arm lag noch über ihren Augen, als sie spürte, wie sich jemand neben ihr niederließ. Im nächsten Augenblick stieg ihr der Geruch eines vertrauten Aftershaves in die Nase. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Neben ihr saß Sean, der weder lachte noch lächelte und auch nicht die Absicht zu haben schien, sie zu necken. »Lori«, sagte er in ernstem Ton.

» Sean.« Sie war sofort nervös, hatte eine Heidenangst davor, sich zum Narren zu machen oder sich ihre Gefühle anmerken zu lassen – und einen Korb zu bekommen. Sie neigte den Kopf. » Mandy ist schwimmen gegangen.«

Genau in diesem Moment kam Ted Neeson angetrabt. »Hey, Lori, das musst du dir ansehen! Mandy hat ihr Oberteil abgenommen, und die Jungs spielen Fangen damit. Ich … oh, Sean! Äh, hey, Sean! Seit wann bist du denn hier? Tut mir Leid, Kumpel, ich wollte nicht …«

» Ist schon okay«, erwiderte Sean gelassen. »Mandy ist ein großes Mädchen und kann tun und lassen, was ihr gefällt. Und ihr Bruder ist doch auch im Wasser, oder?«

» Äh … ja!«

» Dann wird er ihr sicher helfen, wenn sie Beistand braucht.«

» Ja, klar«, sagte Ted und machte sich rasch davon. Er wirkte äußerst nervös, als wünschte er, nicht derjenige gewesen zu sein, der Sean diese prekäre Sache mitgeteilt hatte.

» Mandy kann tun und lassen, was ihr gefällt?«, hakte Lori nach. Wenn man ihm zu sehr auf die Zehen trat, konnte Sean recht aufbrausend sein. Und vor einiger Zeit hatte er sich schon einmal von Mandy getrennt, weil es hieß, Mandy habe, als er mit dem Football-Team unterwegs gewesen war, mit Ricky herumgemacht. Mandy konnte das Flirten einfach nicht lassen, obwohl sie immer behauptete, wahnsinnig in Sean verliebt zu sein, und ihn als den einzigen »richtigen Mann« in der Clique bezeichnete. Gerüchten zufolge hatte sie vor Sean schon mit mehreren älteren Typen herumgemacht und verstand sich, wie Jan erklärte, bestens darauf, einen Typ zufrieden zu stellen.

Sean hob die Hände und zuckte die Achseln. Er hatte kein Hemd an. Er war zwar hager, aber auch ziemlich muskulös, was vom Football und auch daher kam, dass er sich oft mit Rasenmähen und Möbeltragen ein paar Dollar verdiente. Er war schön braun, weil er immer ohne Hemd in der heißen Sonne arbeitete, und trug abgeschnittene Jeans, in denen er schwimmen gehen wollte. Heute wirkte er sehr ernst. Lori schoss der Gedanke durch den Kopf, dass weder Geld noch ein schickes Zuhause viel mit der Herausbildung einer Persönlichkeit zu tun hatten. Sean war ungemein attraktiv, hatte ein fesselndes, wie gemeißelt wirkendes Gesicht, einen durchdringenden Blick und einen tollen Körper. Am liebsten hätte sie unverzüglich die Arme um ihn geschlungen. Stattdessen warf sie ihr Haar zurück.

» Ich breche in ein paar Tagen auf, um in Tallahassee aufs College zu gehen. Mandy ist ab September in Denver.« Er zuckte von neuem die Achseln und starrte Lori an. »Außerdem ist sie schon immer recht wild gewesen, oder nicht?«

Lori zog eine Augenbraue hoch. »Du bist wütend.«

Er hob die Schultern. »Nicht wirklich. Sie ist … sie ist …« Er zögerte einen Moment. »Sie ist halt ein ziemliches Flittchen. Daran kann ich nichts ändern. Während … Gott, Lori, du glaubst gar nicht, wie Leid mir das neulich nachts tat. Echt Leid.«

Ihr Gesicht glühte. Sie blickte starr geradeaus. Er würde ihr nicht sagen, dass sich sein Leben durch sie verändert habe, dass er nicht mehr ohne sie leben könne. Es tat ihm lediglich Leid. Er hatte sich danebenbenommen.

Sie sagte kein Wort.

» Ich war so fertig …«, fuhr er fort.

Er war in der Tat fertig gewesen. Am Boden zerstört. Vor fünf Monaten hatte man seinen Bruder Daniel als vermisst gemeldet. Er war auf einen Stützpunkt im Nahen Osten versetzt worden, wo er während eines Trainingseinsatzes verschwunden war. Genau einen Tag, bevor sie zu Sean gekommen war, war Daniel Blacks Tod bestätigt worden. Man hatte seine Leiche in der Wüste gefunden, mit einer Kugel im Hinterkopf. Sean, der sonst nie etwas trank, hatte sich voll laufen lassen. Als sie zu ihm gekommen war, hatte er geweint. Sean, der sonst nie weinte.

Mandy war nicht bei ihm gewesen. Sie hatte mit ihren Eltern zu irgendeiner Veranstaltung der Historical Society gehen müssen, Seans Vater war mit einem alten Freund aus der Militärzeit aus und sein Bruder Michal bei seiner Freundin gewesen. Lori hatte einfach zu ihm gehen müssen. Stunde um Stunde waren sie allein gewesen, Stunde um Stunde hatte Sean erzählt, wie sehr er Daniel geliebt hatte, wie erpicht Daniel darauf gewesen war, sich hochzuarbeiten, und dass er, Sean, seinem Bruder zugeraten habe, zum Militär zu gehen, weil man dort für seine Ausbildung aufkäme. Eines Tages würden sie dann in der Lage sein, ihrem Vater ein schönes neues Haus zu kaufen, um sich für all seine Liebe und Fürsorge erkenntlich zu zeigen …

» Echt Leid tut mir das«, wiederholte Sean und schüttelte den Kopf. »Ich würde dir nie willentlich wehtun, Lori.«

Sie warf von neuem ihr Haar zurück. »Sei nicht albern, Sean. Du kannst mir nicht wehtun. Ich meine … vorausgesetzt, du verrätst niemandem etwas. Ich möchte nicht, dass Brad erfährt, was passiert ist. Oder meine Eltern.«

Er zog eine Augenbraue hoch und sah sie durchdringend an. Die Enttäuschung in seinen Augen versetzte ihr einen Stich ins Herz.

» Lori, ich glaube, wir müssen dringend miteinander reden. Ich muss Abschied nehmen, und ich möchte, dass du weißt …«

» Ich will aber nicht reden …«

» Lori …«

» Ich will nicht daran erinnert werden!« Sie sprang auf. »Ich will nicht reden, und ich will nie wieder mit dir allein sein. Geh zu deiner wilden Freundin und nimm Abschied von ihr.« O Gott, gleich würde sie in Tränen ausbrechen. Sie tat ihm Leid. Er bedauerte sie. Sie war in ihn verliebt, und er bedauerte sie. Das war unerträglich.

» Lori …«

» Verdammt noch mal, spar dir deine Entschuldigungen! Mandy geht nach Denver, du gehst nach Tallahassee und ich nach New York. Alles ist entschieden. Also lass mich um Gottes willen in Ruhe!« Schnell drehte sie sich um und lief in Richtung Wasser.

Und stürzte sich in den See.

Alle waren an dem Fangspiel mit Mandys Oberteil beteiligt, auch die anderen Mädchen. Selbst Jeff, dem das skandalöse Betragen seiner Schwester nichts auszumachen schien.

Doch als Mandy Lori erblickte, schwand ihre Ausgelassenheit schlagartig dahin. »Okay, das war’s dann. Alle haben sich gut amüsiert, und jeder von euch Schwengeln hat es geschafft, mich zu betatschen. Jetzt gebt das verdammte Ding endlich wieder her!«, forderte sie, als ihr Bikinioberteil in Brads Hand landete. Ihre üppigen Brüste wogten im Wasser auf und ab, während sie ihr Oberteil wieder anlegte. »Arschlöcher!«, beschimpfte sie die Jungs.

» Hey!«, protestierte Andrew.

» Was erwartest du von so einer Fotze?«, fragte Ricky.

» Nun mach mal halblang, Ricky«, sagte Jeff.

» Leckt mich doch alle«, gab Mandy zurück.

» O ja, komm her und setz dich auf mein Gesicht, Baby!«, erwiderte Brad.

» Das hättest du wohl gern, wie?«, stichelte Mandy. »Die Ballkönigin lässt dich wohl nicht ran, was?«

Die Gruppe brach in Gejohle aus. Nur Lori, der ganz schlecht war, wurde knallrot.

Dann verstummten sie plötzlich, einer nach dem anderen, als erst Mandy, dann Brad und schließlich auch die Übrigen Sean am Ufer stehen sahen. Seine blauen Augen wirkten fast schwarz. Die Ader in seinem Hals pulsierte wie wild.

» Sean …« hauchte Mandy beschwichtigend. Rasch schwamm sie zum Ufer, stieg aus dem Wasser und ging auf ihn zu. Doch als sie ihm die Hände auf die Schultern legen wollte, wandte er sich ab.

» Sean!«, rief sie und versuchte, ihn festzuhalten.

Er schüttelte sie jedoch ab und ging davon.

Die Fröhlichkeit war wie weggeblasen. Alle verließen das Wasser. Brad starrte Lori an, die sich jedoch abwandte und zu den Kiefern rannte. Am ganzen Leib zitternd setzte sie sich in den Schatten einer Baumgruppe.

Sie hörte Fetzen verschiedener Auseinandersetzungen. Männliche Stimmen, weibliche Stimmen. Dann trat Stille ein. Sie lehnte sich gegen einen Baum, während um sie herum die Sonne vom Himmel knallte und der Vormittag allmählich verging.

Nach einer Weile rappelte sie sich wieder hoch. Sean liebte sie nicht. Brad war ein Arschloch. Damit konnte sie leben. Sie war fast achtzehn, also fast erwachsen. Das Leben ging weiter.

Bloß dass …

Wieder stieg Angst in ihr auf. Was wenn …

In dem Augenblick hörte sie jemanden schreien. »O Gott, o Gott, o Gott! Hilfe!«

Die erste Person, die sie sah, war Jan, die nach ihr gesucht hatte und den Pfad entlang auf sie zukam. Jan schaute sie an und zog die Schultern hoch. Sie starrten sich an. Dann sprang Lori auf.

Sie erkannten, dass es Ricky Garcia war, der so schrie. Die beiden rannten den Pfad hinunter, der zum Wasser führte. Am Ufer sahen sie Andrew, Jeff, Ted und Ricky, zwischen denen jemand lag. Dann bemerkten sie Sean, der wie ein Irrer auf die Gruppe zuraste und sich neben den anderen in den Sand kniete.

Es war Mandy, die auf der Erde lag. Von weitem sah es zunächst so aus, als versuche Sean, Mandy zu küssen. Doch dann wurde Lori klar, dass er sie künstlich beatmete.

» O mein Gott!«, schrie Lori, packte Jan beim Arm und rannte noch schneller.

Sie drängten sich gegen Brad und Ellie, als sie die Uferstelle erreichten, an der die anderen um Mandy versammelt waren. Mandys Lippen waren blau, ihr Gesicht kalkweiß. Sie hörten Sirenen, ein Krankenwagen schien zu kommen. Loris Bruder trat neben sie und legte den Arm um sie. »Susan hat 911 angerufen. Gleich kommt Hilfe.«

» Was … was ist passiert?«, fragte Lori.

Niemand antwortete. Alle Augen waren auf Mandy und Sean gerichtet.

Sean hob kurz den Kopf und holte tief Luft. Sein Gesicht sah abgespannt aus, in seinen Augen schimmerte es feucht.

» O Gott!«, stöhnte Ellie. Ellie war Mandys beste Freundin. »O Gott, o Gott …«

» Nein!«, schrie Jeff Olin auf, bedeckte das Gesicht mit den Händen und ließ sich auf die Knie plumpsen.

» Sie ist tot«, stellte Ricky ungläubig fest. »Himmelherrgott noch mal, sie ist tot.«

» Sie kann nicht tot sein!«, schrie Brad. »Sie ist doch erst siebzehn. Sie ist noch ein Kind. Wo zum Teufel bleibt denn der verdammte Rettungswagen?«

Sean machte sich wieder an die künstliche Beatmung. Die Sirenen kamen immer näher, und wenige Minuten später drängten sich Männer in blauen und weißen Uniformen durch die Gruppe der Jugendlichen. Ein Mann kniete sich neben Sean hin. »Jetzt mach ich weiter, mein Junge.«

Sean erhob sich und stand wie benommen da. Weitere Sanitäter eilten herbei. Mandy wurde eine Spritze in den Arm gejagt. Im Handumdrehen lag sie auf einer Bahre und wurde davongetragen.

Die Kinder folgten ihr.

Sie waren alle dabei, als sie in den Rettungswagen geladen wurde. Jeff erklärte stammelnd, er sei ihr Bruder und müsse unbedingt mit.

Der Rettungswagen fuhr davon.

Die Übrigen blieben zurück: Lori und ihr Bruder Andrew sowie ihr Cousin Josh. Michael und Sean Black. Ricky Garcia, Ted Neeson, Ellie LeBlanc, Brad Jackson, Susan Nichols und Jan Hunt. Alle sahen sie dem davonfahrenden Rettungswagen nach.

» So, wer möchte mir denn mal erzählen, was da passiert ist?«

Die Kinder fuhren herum. Hinter ihnen stand ein großer, vierschrötiger, weißhaariger Mann. Er war unmittelbar nach dem Rettungswagen eingetroffen, in einem gewöhnlichen Auto. Bisher waren sie alle viel zu benommen gewesen, um ihn zu beachten.

Obwohl er keine Uniform trug, merkte man ihm sofort an, dass er ein Bulle war.

Lori starrte ihn wie betäubt an.

» Sie … sie hat sich in irgendwelchen Schlingpflanzen verheddert, bei einem der verrosteten alten Autos da unten. Ich hab sie hochgezogen und um Hilfe gerufen … Dann kam Sean angerannt«, sagte Andrew.

» Okay. Ich werde mir eure Namen alle notieren. Danach setzt ihr euch in eure Autos und fahrt nach Hause. Ich selbst fahre ins Krankenhaus, aber … ich brauche so schnell wie möglich Aussagen von euch allen«, sagte er und ging an ihnen vorbei.

» Aber … aber sie kommt doch durch, oder?«, wollte Brad wissen.

Der Mann blieb stehen, drehte sich um und starrte sie an. Dann schüttelte er den Kopf. »Ihr seid, würde ich meinen, groß genug, um die Wahrheit zu erfahren. Ich habe schon viele Tote gesehen, und eure Freundin ist bereits tot, so Leid mir’s tut. Das ist schlimm. Wirklich schlimm. Aber es könnte sein, dass einer von euch für ihren Tod verantwortlich ist. Das wäre noch viel schlimmer.« Er zeigte mit dem Finger auf sie und ließ ihn von rechts nach links wandern.

» Tot! Toot!«, stieß Jan hervor und fing an zu weinen.

» O Gott, Mandy ist tot, und der glotzt uns an, als ob …«, stammelte Susan.

» Und ehe wir’s uns versehen, teilt er uns mit, dass niemand von uns die Stadt verlassen darf!«, sagte Ricky, in dessen Augen ungeachtet dieser Witzelei Tränen standen.

» Ganz recht, mein Junge«, entgegnete der Polizist.

» Tot! O Gott, o Gott, o Gott!«, stöhnte Ellie andauernd. Sie sank auf die Knie und kreischte hysterisch: »Mandy ist tot, Mandy ist tot, Mandy ist tot …«

Einige von ihnen weinten erst später. Was vom Schock kam, wie der Therapeut feststellte, den die Kellys anheuerten, damit er ihren Kindern half, das traumatische Erlebnis zu verarbeiten.

Schock …

Wie hätten sie auch nicht schockiert sein sollen? Polizeitaucher fanden eine der Schlingpflanzen von unten und erklärten, dass sehr viel dafür spreche, dass jemand sie Mandy absichtlich ums Fußgelenk gebunden hatte, sodass sie unter Wasser wahrscheinlich verzweifelt um ihr Leben gekämpft hatte. Darauf deutete nicht zuletzt ihr aufgescheuertes Fußgelenk hin.

Als die Polizei die Kinder verhörte, hatten sie alle Rechtsanwälte, und keiner von ihnen wusste mehr, was sie gesagt oder getan, geschweige denn empfunden hatten.

Am Ende wurde Sean verhaftet. Er hatte sich mit Mandy gestritten, er war wütend auf sie. Sie hatte ihn gedemütigt, sie hatte gedroht, sein Leben zu ruinieren. Er war in Mandys Nähe gewesen, was verdächtig schien. Er hatte ein Motiv, eine Gelegenheit und die nötige Kraft gehabt, um die Tat auszuführen.

Sie lehnten es ab, ihn auf Kaution freizulassen – teils wegen des Vorstrafenregisters seines Bruders, teils weil er sich nicht wie die anderen einen prominenten Anwalt leisten konnte. Er saß bis zur Gerichtsverhandlung im Gefängnis und wurde von der Jury schließlich freigesprochen – letzten Endes aus Mangel an wirklichen, greifbaren Beweisen.

Als sie ihn freiließen, war er kein Junge mehr, noch nicht einmal ein junger Erwachsener. In wenigen Monaten war er zu einem hartgesottenen, zynischen Mann geworden. Er packte seine Koffer und verließ die Stadt.

Sein Vater und sein Bruder trauerten ihm nach.

Und Mandys Angehörige würden ihren Kummer bis ans Ende ihrer Tage nicht mehr loswerden.

Doch für die Eltern der anderen Kinder, die an jenem Tag in der Kiesgrube gewesen waren, war alles vorbei. War alles zu einem unvermeidlichen Ende gekommen. Und jetzt ging das Leben weiter.

Gewiss, Sean war einer der beliebtesten Jungen auf der Schule gewesen, aber was konnte man schon von jemandem erwarten, der aus einer kaputten Familie stammte? Im Grunde hatte sich nur bestätigt, dass sie alle nichts taugten.

Deshalb musste Sean alles ausbaden …

Doch Lori hatte von Anfang an den Verdacht gehabt, dass sie alle etwas verschwiegen, was jenen bewussten Tag betraf.

Nur zu gut wusste sie, dass sie selbst ebenfalls etwas verschwieg.

Lori schreckte aus dem Schlaf hoch, als wäre irgendein Geräusch an ihr Ohr gedrungen. Ruckartig setzte sie sich im Bett auf. Ihr Schlafzimmer lag im Halbdunkel, draußen im Korridor brannte ein Nachtlicht. Im Haus war alles still. Trotzdem hätte sie schwören können, dass irgendetwas …

Das lag sicher nur an ihrem Traum. Obwohl sie es sich vorgenommen hatte, hatte sie es nicht geschafft, der Vergangenheit zu entkommen, im Schlaf Vergessen zu finden.

Vor fünfzehn Jahren … das alles war fast fünfzehn Jahre her, rief Lori sich erneut in Erinnerung. Sie hatte zwar ein neues Zuhause, war aber wieder in der Stadt, in der es geschehen war. Vielleicht war es da ganz natürlich, dass man in der ersten Nacht unruhig schlief.

Leg dich wieder hin!, befahl ihr ihre Vernunft. Alles ist in Ordnung.

Doch im nächsten Moment schreckte sie von neuem zusammen, weil sie ein Klopfen an der Haustür hörte.

Dabei war es doch schon so spät! Vielleicht war es ja ihr Großvater. Oder ihre Eltern. Möglicherweise war irgendetwas mit ihrer Mutter, ihrem Bruder, ihrem Vater … oder mit Großvater.

Sie sprang aus dem Bett, raste in den Korridor hinaus und die Treppe runter zur Haustür. Mit einem Stirnrunzeln stellte sie fest, dass kein Guckloch in der Tür eingelassen war. Vor der Holztür befand sich zwar eine Fliegentür, die ebenfalls abgeschlossen war, aber trotzdem würde nur eine Verrückte die Haustür öffnen …

Das Klopfen begann wieder. Da sie nicht wollte, dass Brendan aufwachte, riss sie schließlich die Tür auf, wobei ihr im gleichen Augenblick durch den Kopf schoss, dass sie wirklich nicht mehr alle beisammen haben konnte. Immerhin war in der Stadt gerade ein Mord begangen worden. Obwohl Mörder normalerweise nicht vorher anklopften.

Durch die Fliegentür sah sie ihn. Sean.

Sie erstarrte. Glotzte ihn bloß an.

» Verdammt noch mal, Lori, lass mich rein.«

Sean Black. Der Mistkerl, der ihre Träume heimgesucht hatte – von ihrem Leben ganz zu schweigen.

Und jetzt stand er vor ihrer Haustür.

Unheilvolle Schönheit

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