Читать книгу Unheilvolle Schönheit - Heather Graham - Страница 7

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Wie eine Feuersirene schrillte das Telefon los und riss Sean Black brutal aus dem – zugegebenermaßen leicht betrunkenen – Schlaf. Er drehte sich auf die andere Seite, um nach dem Hörer zu greifen.

Während er umhertastete, stieß seine Hand auf Fleisch. Die Frau neben ihm brummelte etwas und schmiegte sich mit dem Hintern an ihn. Er starrte auf die weiblichen Rundungen neben sich unter der Decke. Dass sie noch bei ihm war, überraschte ihn. Er versuchte, die Ereignisse der vergangenen Nacht zu rekonstruieren. So viel hatte er schon lange nicht mehr getrunken, und dass er richtig betrunken gewesen war, war Jahre her.

Was daran lag, dass er in seine Heimatstadt zurückgekehrt war.

» Hallo?«, sagte er, ohne die Kurven der Frau, die sich unter der Decke abzeichneten, aus dem Auge zu lassen. Wie hieß sie noch mal? Maggie, Molly, jedenfalls irgendwas mit M. Eine hübsche Frau um die dreißig, mit glattem dunklem, kurz geschnittenem Haar, ansehnlichem Körper, attraktivem Gesicht und wunderbaren Lippen, die sie aufs Talentierteste einzusetzen verstand. Sie war freiberufliche Journalistin, schrieb Reiseartikel für verschiedene Zeitungen und machte Interviews für ein lokales literarisches Magazin. Molly, Maggie oder wie immer ihr Name lauten mochte, war amüsant und unterhaltsam gewesen und gehörte zu den Frauen, die sich nicht lange zierten, die Sex mochten, Sex wollten und beim Sex gut waren. Ja, doch … er mochte sie. Er konnte sich bloß nicht daran erinnern, dass er sie aufgefordert hatte, die ganze Nacht zu bleiben. Da sie zum Dinner nicht hatte ausgehen wollen, hatte er vom Zimmerservice etwas zu essen bringen lassen. Verflucht noch mal, wie viele Flaschen Wein hatten sie eigentlich getrunken? Es war wohl besser, bei Jack Daniel’s oder Bier zu bleiben, wenn er trank, überlegte er, während er sich mit den Fingern durchs Haar fuhr. Wein in kleinen Kristallgläsern war der reinste Killer. In seinem Schädel pochte und hämmerte es.

» Hallo?«, wiederholte er mit gepresster Stimme.

» Hey, Sean, hier ist Ricky. Hoffentlich habe ich dich jetzt nicht geweckt.«

Sean verzog das Gesicht. Vor ein paar Tagen war er Ricky Garcia wiederbegegnet, den er dreizehn Jahre lang nicht gesehen hatte. Offenbar versuchte Ricky jetzt, die verlorene Zeit nachzuholen. Trotzdem unterließ es Sean, seinem alten Freund mitzuteilen, dass er ihn, verdammt noch mal, in der Tat geweckt hatte. Ricky war bei der Mordkommission von Miami. Eigentlich hatte er wie sein Vater Anwalt werden sollen, doch irgendwie hatte es dafür nicht gereicht. Was ihn möglicherweise zu einem besseren Menschen gemacht hatte. Jedenfalls mochte Sean ihn heute mehr als damals, als Ricky ein Junge aus reichem Elternhaus gewesen war. Andererseits hatte er, als er vor Jahren die Stadt verlassen hatte, hier eigentlich kaum jemanden gemocht.

» Ist schon okay«, sagte er.

» Oje, ich hab dich also doch geweckt. Wie hat dir der Club gefallen?«

» Gut.«

» Hattest du einen schönen Abend?«

» Klar.«

» Jemand kennen gelernt?«

Sean warf einen Blick auf seine Bettgenossin. »Nein«, log er.

» Na gut. Ich hol dich in zwanzig Minuten ab.«

» Was? Wieso denn das?«

» Letzte Nacht ist hier ein Mord passiert.«

» Wenn man die Zeitungen liest, hat man den Eindruck, dass bei euch pro Woche ein halbes Dutzend Morde begangen werden«, murmelte Sean sarkastisch.

» In der letzten Zeit sind etliche Leute erschossen worden«, gab Ricky zu. »Und erstochen«, fügte er zögernd hinzu. »Gangs, Drogen, halt Sachen, wie sie in bestimmten Stadtteilen vorkommen. Na schön, häusliche Gewalt gibt es hier und da auch, und manchmal wird jemand von einer verirrten Kugel getroffen. Trotzdem ist diese Bemerkung von jemandem, der in L. A. wohnt, ein ziemlicher Schlag unter die Gürtellinie. Aber dieser Mord hier ist was anderes. Da geht es nicht um Bandenkriege oder darum, dass ein Typ ausgeflippt ist, weil seine Frau den Sportsender ausgestellt hat …«

» Sondern?«

» Um eine hübsche junge Frau, die nach einer heißen Nacht in genau dem Club, den ich dir empfohlen habe, ermordet wurde.«

Na großartig, dachte Sean. Würde wahrscheinlich nicht lange dauern, bis sie ihm die Sache anzuhängen versuchten. Wie erstarrt saß er da, von einem eisigen Gefühl befallen.

Nein. Heute würde das wohl nicht mehr passieren. Heute gehörte er selbst zu den »reichen Leuten«.

Nie würde er vergessen, wie das damals gewesen war – wie die Bullen gekommen waren, ihn an den Haaren aus dem Haus gezerrt und ihn gegen den Streifenwagen geknallt hatten, um ihm Handschellen anzulegen. Sein weinender Vater, sein protestierender Bruder Michael, den die Bullen zurückgeschubst hatten. Er erinnerte sich noch, wie er zu seinem Vater gesagt hatte, dass er unschuldig sei, dass er und nichts verbrochen habe. Sein Vater hatte ihm geglaubt, doch das hatte letzten Endes keine Rolle gespielt. An jenem Tag hatte sein Dad angefangen zu sterben …

» Sie ist nicht im Club getötet worden, aus dem sie in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend verschwand. Gefunden wurde sie erst am heutigen Montag, in den frühen Morgenstunden. Laut Bericht um zwei Uhr dreiundzwanzig. Nach den ersten Schätzungen des Polizeiarztes war sie schon mindestens vierundzwanzig Stunden tot. Sie wurde also nicht letzte Nacht getötet«, sagte Ricky. »Ich dachte, bei den Sachen, die du schreibst … na ja, du hast mich ja neulich gefragt, ob du mal mitkommen könntest, wenn was Wichtiges passiert. Jedenfalls bearbeite ich den Fall und werde bei der Autopsie dabei sein. Irgendwas an der Sache bereitet mir im Augenblick ziemliches Kopfzerbrechen, obwohl ich nicht weiß, was es ist. Als ob ich sie gekannt hätte oder so. Als ob das Ganze irgendeinen vertrauten Aspekt hätte, den ich wiedererkennen müsste.«

Tief durchatmen, ermahnte sich Sean, entkrampf dich.

» Wie hieß sie denn?«, fragte er.

» Metz. Eleanor Metz.«

» Sagt mir nichts.«

» Ihr Gesicht konnte ich mir noch nicht genauer ansehen. Es war ziemlich zerschlagen und blutverkrustet. Und du weißt ja … in unserer Gegend setzt die Verwesung schnell ein. Jetzt ist sie jedenfalls im Leichenschauhaus. Die für den Fall zuständige Gerichtsmedizinerin ist eine Freundin von mir und ein großer Fan von dir. Beziehungsweise von Michael Shayne. Was hat dich eigentlich veranlasst, unter Pseudonym zu schreiben?«, fragte Ricky.

Ob es wohl die Tatsache gewesen war, dass er selbst mal unter Mordverdacht gestanden hatte, überlegte er.

» Als ich anfing zu schreiben, habe ich an der Universität unterrichtet«, teilte er Ricky mit. »Und was ich schreibe, ist Unterhaltungsliteratur – so was kommt bei Akademikern nicht immer gut an.«

» Ah, verstehe. Trotzdem, ich an deiner Stelle hätte Wert darauf gelegt, dass mein richtiger Name auf den Umschlägen steht. Wie dem auch sei, bring meiner Freundin – Dr. Kate Gillespie – einfach ein signiertes Buch mit, dann hat sie sicher nichts dagegen, dass du dabei bist.«

Sean schwieg eine Minute lang und kämpfte mit zusammengebissenen Zähnen gegen das schon wieder in ihm aufsteigende Kältegefühl an. Ein Polizist wollte ihn zu einer Autopsie mitnehmen. Das Leben war doch verdammt seltsam. In Südflorida der Autopsie einer schönen jungen Frau beizuwohnen – darauf konnte er nun weiß Gott verzichten. Die ganze verdammte Angelegenheit war ebenso lächerlich wie paradox.

Im ersten Augenblick wollte er ablehnen, tat es dann aber doch nicht.

Teufel noch mal, zurzeit fehlten ihm einfach die Ideen für ein neues Buch. Vor fünf Jahren hatte er seine Stelle an der Universität aufgegeben, weil ihm klar geworden war, dass er lieber schreiben wollte. Wahrscheinlich hätte er sich irgendeiner interessanten Exkursion anschließen können, doch dazu war er einfach zu ruhelos gewesen.

Und als er sich bereit erklärt hatte, zu einer Publicitytour herzukommen, hatte er ausgehandelt, dass Coconut Grove die letzte Station sein sollte. Dann hatte er sein Haus in Malibu Beach verriegelt und verrammelt, um ein paar zusätzliche Wochen in Florida zu verbringen. Mindestens einen Monat wollte er hier bleiben und arbeiten. Schon seit einiger Zeit hatte er vor, in seine Heimatstadt zurückzukehren, lange genug, um ein paar Gespenster aus der Vergangenheit zu bannen. Und jetzt war er hier. Um zu arbeiten.

Aus diesem Grund empfahl es sich auch, die Möglichkeit, der Autopsie eines Mordopfers beizuwohnen, zu nutzen. Wenn er es nicht täte, wäre er schön blöd. Oder ein verflucht schlechter Schriftsteller.

Bloß … ausgerechnet hier?

Miami war dazu fähig, jemandem zu vergeben. Offenbar konnte jedem vergeben werden. Trotzdem war es bitter. Verdammt bitter.

» Sean?«

Vielleicht war das endlich so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit. Vielleicht hatte er immer nur aus Rache als großes Tier in seine Heimatstadt zurückkehren wollen. Um ein paar Dinge aufs Normalmaß zurechtzustutzen, ein paar Leuten klar zu machen, dass es so vieles im Leben gab, das man kaufen konnte, und dass auch er sich auf dieses Spielchen verstand.

Andererseits: Vielleicht wollte er einfach nur innerlich zur Ruhe kommen. Er hatte seinen Weg gemacht, war ein erfolgreicher Schriftsteller geworden. Darauf konnte er stolz sein. Doch das, was damals geschehen war, lag ihm nach wir vor auf der Seele.

Er warf einen Blick auf Molly oder Maggie. Zahlreiche Affären lagen hinter ihm, bei denen er seinen Spaß gehabt hatte. Doch es gab Zeiten, da hatte er das Gefühl, wie ein batteriebetriebenes Karnickel zu kopulieren, Zeiten, da er sich hinterher leer und hohl vorkam. Leere war besser als Schmerz, rief er sich in Erinnerung. Feste Beziehungen kamen für ihn nicht infrage. Die Mollys oder Maggies dieser Welt waren genau das, was er in seinem Leben brauchte.

» Sean?«

Ihm fiel ein, dass Ricky am anderen Ende der Leitung war. Ricky hatte ihm einen Ölzweig hingehalten. Gewiss, er hatte ihn einem Autor hingehalten, der auf der New York Times-Bestsellerliste stand, und nicht einem Jungen aus ärmlichen Verhältnissen.

Zynisch. Gott, war er zynisch.

» Ja«, sagte er zu Ricky. »Danke. Bis gleich.«

Er legte auf. Molly oder Maggie hatte sich die Bettdecke vom Gesicht gezogen und starrte zu ihm hoch. »Musst du los? Schon wieder ein Interview?«

» Ja, etwas in der Art.« Er zuckte bedauernd die Achseln. »Tut mir Leid, dass wir nicht zusammen frühstücken können. Oder …«

Molly oder Maggie war wirklich hübsch. Während er sich entschuldigte, merkte er, wie er steif wurde. »Schade, dass wir nicht mehr Zeit haben«, sagte er heiser.

Sie schüttelte ihre hübschen braunen Locken aus. »Ich brauch nicht lange, Schätzchen«, stellte sie mit schelmischem Grinsen fest, um dann schnurrend wie eine Katze hinzuzufügen: » Und Protein zum Frühstück reicht mir völlig!«

Dann warf sie ihm die Decke über den Kopf, glitt nach unten und machte sich mit Mund und Händen über seinen Schwanz her. Sein Herzschlag beschleunigte sich … verdammt, war die gut. Nach wenigen Minuten saß sie auf ihm und ritt ihn wie ein Jockey.

Obwohl ihm nur fünf Minuten zum Duschen blieben, wartete er bereits unten, als ihn Ricky mit seinem Streifenwagen abholen kam. Als Sean in den Wagen stieg, fluchte er leise vor sich hin.

Er hatte vergessen, sie zu fragen, ob sie Molly oder Maggie hieß.

Lori Kelly Corcoran parkte ihren Jeep auf der Auffahrt und betrachtete das alte Haus, das vor ihr aufragte. Das prächtige alte Gebäude gehörte zu den Häusern, die der Gründer der Stadt für seine Familie errichtet hatte. Es hatte Balkons, offene Kamine, eine geschwungene Treppe, zwei Stockwerke, drei Schlafzimmer und war um einen Hof herum gebaut.

Was es nicht hatte, waren anständige sanitäre und elektrische Anlagen. Doch wenn es über diese simplen Wunder des modernen Lebens verfügt hätte, hätte sie sich das Haus nicht leisten können. Sie liebte das alte Gebäude wirklich und hoffte, dass Brendan es im Laufe der Zeit ebenfalls lieben würde. Wahrscheinlich würde es für einen vierzehnjährigen Jungen nicht ganz einfach sein, sich hier einzuleben. Er hatte das Haus vorher noch nie gesehen, und auch sie selbst war erst einmal drinnen gewesen. Früher hatte sie stets angenommen, nie nach Miami zurückzukehren, jedenfalls nicht für immer. Doch dann war ihr Großvater, der hier fest verwurzelt und nicht aus Miami wegzubringen war, krank geworden. Auch ihre Mutter, ihr Vater und ihr Bruder lebten hier. Sie hatte ihren Großvater gebeten, zu ihr nach New York überzusiedeln, doch er war nicht bereit gewesen, seine anderen Lieben zu verlassen, auch wenn er immer eine besondere Schwäche für sie gehabt hatte.

Sagten die Leute nicht immer, es führe kein Weg zurück? Doch jetzt war sie wieder da, trotz aller Entschlossenheit, nicht wiederzukommen. Und in gewisser Weise war das ganz wunderbar. All die Orte und Plätze von früher hatten ihr gefehlt. Sie liebte die Bäume und Sträucher ringsum, liebte die alten Häuser im mediterranen und Art-déco-Stil, die Bougainvilleas, die überall wuchsen und sich an Hausfassaden und Mauern emporrankten, liebte das ganze Aussehen und die Atmosphäre der Gegend. Die Wärme, der Sonnenschein, der leichte Zugang zum Wasser gefielen ihr ebenso wie der Umstand, in der Nähe ihrer Eltern und ihres Bruders zu wohnen. Und natürlich in der ihres Großvaters.

Selbstverständlich würde sie New York vermissen, obwohl sie sich sehr über ihren neuen Job als Aushilfslehrerin an einer hoch angesehenen alternativen Grundschule freute. Ihre Vorgängerin Mrs. Linitz würde in zwei Wochen niederkommen, sodass Lori vom Donnerstag nächster Woche an täglich siebenundzwanzig kleine Lieblinge zu unterrichten hätte. Ihre Übersiedelung hatte ihr nicht nur eine neue Einkommensquelle, sondern auch neue Möglichkeiten der Kreativität erschlossen. Schon in New York hatte sie in ihrer Freizeit Designs für die aufstrebende Firma Yoelle Designs entworfen. Als die beiden Besitzerinnen Yolanda Peters und Elizabeth Woodly von ihrem Umzug nach Miami gehört hatten, hatte sie sie beauftragt, eine ganze Kollektion elegant-lässiger Freizeitkleidung für Gegenden mit tropischem und subtropischem Klima zu kreieren. Alles fügte sich aufs Schönste. Sie liebte es, Kleidung zu entwerfen, und sie liebte es, zu unterrichten. Und hier würde sie das Beste von beidem haben. Yolanda und Elizabeth hatten sie autorisiert, zusammen mit einigen der führenden Einzelhändlern der Gegend Modenschauen zu veranstalten. Und da Bal Harbour, Coconut Grove und Palm Beach von hier aus leicht zu erreichen waren, würde es mehr als genug Gelegenheiten für solche Veranstaltungen geben.

Natürlich war sie aufgeregt.

Aber auch von einem gewissen Unbehagen erfüllt, wie sie zugeben musste. Und immer noch verbittert. Was geschehen war, gehörte der Vergangenheit an. Das Leben ging weiter. Trotzdem war eine wunde Stelle zurückgeblieben, die nie ganz verheilt war.

Denk nicht mehr daran zurück, konzentrier dich auf die Gegenwart!, ermahnte sie sich. Sie hatte einen ganzen Landstrich für die Ereignisse verantwortlich gemacht, die vor langer Zeit geschehen waren, und das war töricht. Trotzdem …

Sie war kein Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau, die ihr eigenes Leben und einen wunderbaren Sohn hatte. Ihr Großvater, einer der großartigsten Menschen, die ihr je begegnet waren, brauchte sie. Und außerdem hatte sie ihre ganze Familie überglücklich gemacht. Sie hätte schon längst zurückkehren und jedem gegenüber, der die Unhöflichkeit besaß, sie mit der Vergangenheit zu quälen, eine dezidierte Leck-mich-am-Arsch-Haltung an den Tag legen sollen. Doch das war im Grunde lächerlich. Sicher hatten doch alle die Vergangenheit vergessen. Was an jenem Tag in der Kiesgrube passiert war, war jetzt nur noch vergilbtes Zeitungspapier, das in staubigen Archiven lagerte.

Außer natürlich für Mandy Olins Familie.

Und für die Blacks.

» Mom! Erde an Mom!«

Sie drehte sich zur Seite. Brendan starrte sie mit der Geduld und Resignation eines heranreifenden jungen Mannes an.

» Mom, wir sind da. Normalerweise bedeutet das, dass man aus dem Auto steigt.«

Sie lächelte und nickte. »Ja, klar. Wie findest du es?«, fragte sie ihren Sohn, der das Haus jetzt mit ernster Miene in Augenschein nahm. Sie merkte, wie sich mütterlicher Stolz in ihr regte. Er war ein großartig aussehender Junge. Die hellbraunen Augen hatte er von ihr geerbt, sein Haar war jedoch dunkel, während das ihre eine rötlichblonde Färbung hatte. Mit vierzehn war er bereits zwei Inch größer als sie mit ihren fünf Fuß neun. Er liebte Sport, war schlank und geschmeidig und außerdem ein recht guter Schüler. Wenn sie ihn ansah, kam er ihr immer wie ein kleines Wunder vor. Am Anfang ihrer Reise nach England – vor all den Jahren – hatte ein Trauma gestanden, der verzweifelte Wunsch zu fliehen. Brendan hatte alle traumatischen Erlebnisse, die sie gehabt hatte, mehr als wettgemacht.

» Brendan«, fragte sie nervös, »was hältst du von dem Haus?«

Er zuckte die Achseln. »Es ist … gut. Sieht irgendwie wie ’ne Burg aus. Bloß dass es keine Türme hat. Hey, hat’s ja doch. Ist das da ein Turm?«

Sie nickte lächelnd. »Ja, das ist ein Turm, mit einem kleinen Turmzimmer oben, zu dem eine Wendeltreppe hochführt. Ich weiß zwar nicht, wozu es früher gedient hat, aber von dort hat man einen tollen Ausblick. Ich hatte gehofft, dass dir das Haus gefallen würde. Wahrscheinlich werden wir ein paar Probleme damit haben, aber …«

Aber dank Jan hatte sie ein Haus gefunden, das sie sich leisten konnte, in einer Gegend, die sie mochte, nahe dem Haus ihrer Eltern – wenn auch nicht zu nahe – und in der Nähe des Krankenhauses, wo ihr Großvater seine Behandlungen bekam.

» Komm, wir bringen die Sachen rein. Dann strengen wir uns ein paar Stunden an, zumindest so lange, bis wir den Eindruck haben, dass uns die Decke auf den Kopf fällt. Anschließend machen wir eine Spritztour durch die Gegend, essen irgendwo zu Abend und gehen ins Kino.«

Er grinste. »Zeigst du mir auch all deine alten Treffs aus der Highschoolzeit?«, fragte er.

» Mal sehen«, murmelte sie und senkte den Blick.

Zum Beispiel die alte Kiesgrube?, provozierte sie sich selbst. Nein. Ganz bestimmt nicht.

» Na, dann mal los!« Brendan öffnete die Wagentür. »Mom, um aus dem Auto zu kommen, muss man Folgendes machen: Man öffnet die Tür, man steigt aus. Du siehst aus, als hättest du Angst, gleich in Treibsand zu versinken oder so.«

» Hey, hier gibt es wirklich Treibsand, draußen in den Glades. Treibsand, Alligatoren, Mokassinschlangen, Klapperschlangen, Korallenschlangen, Skorpione …«

» Und das alles in diesem Haus?«, stichelte er. »Hey, ist ja noch cooler, als ich dachte.«

» Die Everglades sind eine der ungewöhnlichsten und schönsten Naturlandschaften, die wir haben«, informierte sie ihn von oben herab. »Wart’s nur ab, bis du es selbst siehst. Nächstes Wochenende fahren wir raus.«

Er nickte, vermied es aber, sie anzusehen. Ihr fiel ein, dass er gerade all seine Freunde hatte verlassen müssen. Der Ausflug würde ihm sicher Spaß machen, denn es hatte ihm immer gefallen, mit ihr irgendwo hinzufahren. Trotzdem war es wahrscheinlich traurig für ihn, in den kommenden Wochen keine eigenen Pläne schmieden zu können.

Er sah sie an und grinste, ohne sich anmerken zu lassen, dass der Umzug für ihn möglicherweise auf irgendeine Weise verstörend gewesen war.

» Nächste Woche, Mom. Jetzt müssen wir es erst mal schaffen, aus dem Jeep zu steigen.«

» Ha, ha, ha!«, erwiderte sie fröhlich.

Als sie beide ausstiegen, fiel ihr ein, wie sehr sie sich den Kopf über diesen Umzug zerbrochen, was sie für Schuldgefühle gehabt hatte. Sie hatte hier immerhin Freunde, Brendan hingegen nicht. Aber das würde sich hoffentlich bald ändern.

Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als er ihr den Arm um die Taille legte und sie an sich drückte. »Wird schon alles klappen, Mom.«

» Ja, klar. Danke, dass du so verständnisvoll bist«, sagte sie leise. »Na, dann wollen wir mal loslegen, was?«

Doch er war bereits dabei, seine Inlineskates aus dem Jeep zu holen. »An mir soll’s nicht liegen, Mom. Und wann legst du los?«

Kate Gillespie war um die fünfundfünfzig, rank und schlank, eine elegante Erscheinung mit silbergrauen Haaren. Sie nahm Michael Shaynes neuesten Thriller mit Dank entgegen, doch wie er herausfand, war es sein akademischer Grad in forensischer Anthropologie, der sie veranlasste, ihn an der Autopsie teilnehmen zu lassen.

Sie war durch und durch Profi und vermerkte sowohl seine Anwesenheit wie auch die Rickys auf dem kleinen Aufnahmegerät, das an ihrem weißen Kittel befestigt war. Dann ging sie um den Seziertisch herum, auf dem die Tote lag, und beschrieb das Opfer: junge Frau Ende zwanzig, Anfang dreißig, Größe fünf Fuß, sechs Inch, Gewicht etwa hundertfünfundzwanzig Pfund. Todesursache offenbar Strangulation, sichtbare Quetschungen am Hals, die dem Opfer vor dem Tod zugefügt worden sein mussten. Dr. Gillespie beschrieb die Prellungen und Abschürfungen am Körper, einschließlich des Kopfes. Schädeldecke und Gesichtsknochen waren verletzt worden. Sie entnahm dem Opfer Blut und andere Körperflüssigkeiten, nahm Proben vom Schamhaar und vom Schmutz unter den Fingernägeln. Während sie damit beschäftigt war, kratzte ihr Assistent Schmutzproben vom Gesicht, um anschließend das Gesicht sorgfältig von Blut und Dreck zu säubern.

Mitten in dieser Prozedur, während das Gesicht gewaschen wurde und noch bevor Dr. Gillespie dazu kam, die Leiche mit ihrem Skalpell aufzuschneiden, keuchte Ricky plötzlich laut auf, während Sean merkte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

» Was ist?«, fragte Dr. Gillespie in scharfem Ton und starrte Ricky an.

Ricky räusperte sich und sah Sean an. »Ich kenne die Frau. Kannte sie. Wir …« Er verstummte, ohne den Blick von Sean zu wenden.

» Wir beide kannten sie«, sagte dieser.

Unheilvolle Schönheit

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