Читать книгу Unheilvolle Schönheit - Heather Graham - Страница 9

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Sean. Na großartig. Der hatte ihr gerade noch gefehlt.

Sie zitterte am ganzen Leib! Als läge das alles nicht schon fünfzehn Jahre zurück. Als hätte sie sich inzwischen nicht ihr eigenes Leben aufgebaut.

Reiß dich zusammen!, ermahnte sie sich.

Doch sie stand immer noch wie angewurzelt da. Und blieb auch stehen, als eine Welle von Erinnerungen, so frisch wie die nächtliche Brise, über ihr zusammenschlug.

Kennen gelernt hatte sie ihn auf der Highschool. Als er in ihr Leben getreten war, war sie gerade dreizehn gewesen, und seitdem hatte sie ihn nie mehr vergessen können. Ein Jahr jünger als Brendan war sie damals gewesen, ein heikles Alter. Sie war schon fünf Fuß acht Inch groß gewesen, von schlanker, allmählich heranreifender Gestalt. Sie hatte schon Brüste gehabt. Die meisten Jungen in ihrem Alter waren linkische, verpickelte Burschen im Stimmbruch gewesen, die sich vergeblich bemühten, reif zu erscheinen. An ihrem ersten Tag in der achten Klasse hatte eine Gruppe von Jungen sie gepeinigt. Ricky Garcia und Ted Neeson waren am schlimmsten gewesen.

» Hey, du Neue, möchtest du zu einem Treffen von unserm Vier-F-Club kommen?«

» Vier F? Was heißt denn das?«, hatte sie naiv gefragt.

Ricky hatte Ted angesehen und war näher an sie herangetreten. » Sie finden, sie fühlen, sie ficken, sie fortjagen!«, hatte er ihr erklärt und war in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Seine Verwendung des Worts ficken war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Sie war knallrot geworden und hatte sich gedemütigt gefühlt.

» Na komm schon, wollen wir nicht ein bisschen rummachen? «, hatte Ted sie aufgefordert.

Die beiden drängten sie immer mehr gegen die Schränke des Umkleideraums. Sie wollte sich keine Angst einjagen, wollte sich von diesen blöden Kerlen nicht aus der Fassung bringen lassen. In der zweiten Stunde hatte Jan Hunt ihr erzählt, dass Ricky und Ted sehr beliebt waren, zur »richtigen« Clique gehörten. Wenn sie jetzt ausflippte, würde sie für den Rest ihres Lebens zum Gespött der ganzen Schule werden. Sie versuchte, etwas Witziges und Pointiertes zu sagen, aber ihr viel nichts ein. In diesem Augenblick kam Sean dazu.

Er war groß und schlank und hatte dunkle, leicht strubbelige Haare, die ihm in die Stirn fielen. Er trat zu Ricky, packte ihn bei der Schulter und zog ihn von Lori weg. »Lasst das Mädchen zufrieden, ihr Ärsche. Sie ist neu hier. Sie muss ja denken, wir sind alle so ungehobelt wie ihr.«

» Ach, nun komm, Sean, wir wollten doch nur rausfinden, ob sie Sinn für Humor hat.«

» Klar hat sie den. Merkst du nicht, dass sie innerlich lacht? Und jetzt lasst sie in Ruhe und verschwindet.«

Was die beiden auch taten. Sie drehten sich wie zwei gescholtene Hündchen um und schlichen davon. »In Wirklichkeit sind sie gar nicht so schlimm. Aber manchmal benehmen sie sich wie die letzten Blödmänner«, sagte Sean und lächelte verlegen. Und in den Moment, genau in dem Moment, hatte sie sich bereits verliebt. Er hatte ein kleines Grübchen am Kinn. Seine Augen waren von verheerendstem, tiefstem Blau.

Den Stimmbruch hatte er schon hinter sich, sodass er ohne Kiekser sprach.

» Danke«, sagte sie zu ihm.

Er begleitete sie nach Hause.

Und er hatte sie zum Lachen gebracht. In den Augen eines dreizehnjährigen Mädchens hatte er hinreißend gut ausgesehen, doch abgesehen davon hatte sie ihn einfach gemocht, seine lässige, natürliche Fähigkeit, anständig, freundlich, witzig … innerlich stark zu sein.

Ihre Eltern hatten ihn gehasst. Natürlich nicht ihn persönlich. Doch sie hatten sofort gesagt, dass er nicht der richtige Umgang für sie sei. Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen, und ihre Eltern hatten ihn schon vor jenem schrecklichen Tag in der Kiesgrube abgelehnt, weil er angeblich nichts taugte.

Vielleicht waren sie an jenem Tag alle irgendwie kaputtgegangen, ganz gleich, was für ein Leben sie jetzt führten.

Leben und Tod. Und jetzt war Ellie auch tot.

Doch Sean war da. Und obwohl so viele Jahre vergangen waren, hatte sie ihn nie wirklich aus ihrem Herzen verdrängen können. Aus ihrer Seele. Nein, aus ihren Gedanken. Gott, nein, aus ihrem Gewissen. Er war immer da gewesen, im hintersten Winkel ihres Gewissens, an der Stelle, wo ihr klar war, dass sie sich falsch und feige verhalten hatte, nicht genug getan, nicht genug protestiert hatte …

Nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte …

» Mom?«

Lori fuhr zusammen. Ihr kam zu Bewusstsein, dass sie wie ein Zombie auf dem Bürgersteig gestanden hatte. Völlig reglos. Aufs Peinlichste vor sich hin starrend. Wie lange wohl?

Lange genug. Brendan – das kostbare Kind, das sie fast vergessen hatte – stand vor ihr auf dem Bürgersteig, neben ihm Tina. Die beiden hatten die Buchhandlung verlassen, um nach ihr zu suchen. Sie riss sich zusammen.

» Bist du okay, Mom? Du siehst aus, als wäre dir gerade ein Gespenst begegnet oder so«, sagte Brendan.

Sie schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln, was ihr jedoch nicht recht gelang. Ein Gespenst. Ja, ein Gespenst aus der Vergangenheit. Das sie heimgesucht hatte.

» Nein, nein …« stammelte sie. »Tut mir Leid, Kinder. Der Black-out hat mich erschreckt. Seid ihr okay?«

» Natürlich«, beruhigte sie Tina mit nachsichtigem Lächeln.

» Gut … gut. Habt ihr eure Bücher bekommen?«

» Mom, dieser Black-out war doch keine große Sache. Die Leute vom Buchladen hatten die Situation sofort im Griff. Die müssen eine Art Notbeleuchtung haben, weil es nämlich nur eine halbe Sekunde dunkel war. Und unsere Bücher haben wir auch bekommen«, sagte Brendan begeistert. »Tina hat einen Freund, der signierte Michal Shaynes für uns zurückgelegt hatte, erste Auflage. Sieh mal, ist das nicht toll!«

Da sie eine gute Mutter war und Interesse für etwas, das ihrem Sohn so wichtig war, bekunden wollte, sah sie hin, nahm jedoch weder das Cover noch den Titel richtig wahr. Trotzdem nickte sie, immer noch verkrampft lächelnd, und versuchte, sich mit Brendan über seine Neuerwerbung zu freuen. Doch als Brendan das Buch umdrehte, bekam Lori von neuem einen Schock. Auf der Rückseite war ein Foto des Autors.

Es war Sean. Sean.

Michael Shayne war Sean Black. Oder Sean Black war Michael Shayne. O Gott.

» Mom?«, fragte Brendan besorgt.

» Sie sind furchtbar bleich, Mrs. Corcoran«, murmelte Tina. » Ist Ihnen nicht gut? Ich könnte meine Mom anrufen …«

» Nein, nein, mir geht’s bestens«, sagte Lori. »Bestens!«, wiederholte sie munter. »Jetzt fahren wir nach Hause. Es ist schon spät. Und du hast morgen einen anstrengenden Tag vor dir, nicht wahr, Tina? Cheerleaden … Schule, all die Sachen. Also kommt.«

Sie drehte sich um und steuerte auf das Parkhaus zu, wobei ihr nicht entging, dass die Kinder einander anstarrten. Wahrscheinlich fragten sie sich, ob sie noch ganz bei Troste sei.

Sie war froh, dass sie nicht weit zu fahren brauchte. Jans Haus lag ebenfalls in den Gables, sodass sie Tina unterwegs absetzen konnten. Lori war immer noch so zumute, als hätte ihr jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet. Wie benommen sah sie zu, als ihr Sohn Tina bis zur Tür brachte. Tina ging ins Haus, winkte und schloss hinter sich ab.

Lori merkte, dass Brendan sie beobachtete, während sie weiterfuhren. Und als sie zu Hause waren, schlich Brendan um sie herum, weil er spürte, dass irgendetwas nicht stimmte, obwohl sie immer wieder das Gegenteil beteuerte. Schließlich konnte sie ihn davon überzeugen, dass sie lediglich übermüdet sei und dass auch er jetzt Schlaf brauche.

Sie kannte ihren Sohn. Wirklich überzeugt war er nicht. Er ging zwar zu Bett, doch er machte sich Sorgen.

Nun, was sollte sie denn erwarten? Als sie das neue Buch von Michael Shayne gesehen und begriffen hatte, dass der Lieblingsautor ihres Sohns in Wirklichkeit Sean Black war, war sie beinah in Ohnmacht gefallen.

Lori begab sich in die geflieste Küche, wo es angenehm kühl war. Nachdem sie einen Augenblick innegehalten hatte, ging sie zum Kühlschrank. Milch, Orangensaft, Limonade. Und Gott sei Dank eine Flasche Chablis. Jans Willkommensgeschenk.

Sie holte ein Wasserglas aus dem Schrank, goss es mit Weißwein voll, knallte die Kühlschranktür zu und ging ins Wohnzimmer zurück. Sie presste sich das kalte Glas gegen die Stirn.

Eigentlich hätte sie sich freuen müssen. Er war verleumdet, misshandelt, fast ans Kreuz geschlagen worden. Er verdiente es, erfolgreich zu sein.

Aber er war hier. Wer in Gottes Namen hätte erwartet, dass er je zurückkommen würde?

Wer in Gottes Namen hätte gedacht, dass er ein Schriftsteller werden würde, der unter dem Pseudonym Michael Shayne veröffentlichte? Oder dass die Stadt Miami ihn mit solcher Liebe und Begeisterung aufnehmen würde. Aber andererseits war Miami schon oft als Hure bezeichnet worden, die auf jeden Entertainer, jeden prominenten Sportler, jede Persönlichkeit, die zufällig durch die Stadt kam, abfuhr.

Sean Black.

Fast fünfzehn Jahre lang hatte sie ihn nicht gesehen. Fünfzehn Jahre! Warum sollte irgendetwas von alldem jetzt für sie von Belang sein?

Es war von Belang, weil sie es nie geschafft hatte, zu vergessen. Weil das Leben von ihnen allen sich damals für immer verändert hatte.

An jenem Tag war sie siebzehn gewesen …

Sie konnte sich noch so deutlich daran erinnern, als sei es erst gestern gewesen.

Sie stand auf und trank ihr Glas aus. Dann ging sie in die Küche zurück, schenkte sich ein weiteres Glas ein und leerte es, als sei es Wasser. Der Wein würde ihr helfen, gut zu schlafen.

Hör auf, an ihn zu denken, befahl sie sich. Hör auf, hör auf, hör auf …

Entschlossen stieg sie die Treppe hoch. Doch dann fiel ihr ein, dass Ellie ermordet worden war und ein Psychopath die Stadt unsicher machte.

Wahrscheinlich gab es Unmengen von Psychopathen in Miami. Schließlich war es eine große Stadt.

Jedenfalls musste sie Sean vergessen und sich wie eine verantwortungsbewusste Erwachsene benehmen. Sich vergewissern, ob in ihrem neuen Zuhause alles in Ordnung war. Nachdem sie Türen und Fenster resolut überprüft hatte, ging sie ins Schlafzimmer, zog sich aus, schlüpfte in ein baumwollenes Nachthemd und legte sich hin.

Die arme Ellie.

Sean …

Sie erinnerte sich an Ellies Gesichtsausdruck an jenem Tag in der Kiesgrube, als Mandy …

… als Mandy gestorben war.

… als Mandy ermordet worden war.

Jetzt war Ellie auch tot. Ermordet.

Und Sean war wieder in der Stadt …

Großer Gott, was dachte sie denn da?

Nein, Sean war nicht dafür verantwortlich.

Schlaf endlich!, ermahnte sie sich wütend. Vergiss das Ganze. Denk nicht nach. Träum nicht davon.

Und um Himmels willen …

… erinner dich nicht daran.

Sean saß in seinem Hotelzimmer und starrte mit leerem Blick auf den Fernseher. Die Nachrichtensprecherin kaute gerade noch mal den Fall Eleanor Metz wieder.

Verflucht noch mal. Ellie war tot. Obwohl die Darstellung der hübschen jungen Nachrichtensprecherin wesentlich dramatischer war, als ein solcher Bericht hätte sein sollen, war ihre Schilderung von Ellies Tod nichts im Vergleich zu dem Entsetzen, das er beim Anblick der Leiche empfunden hatte. Er hatte Ellie zwar fünfzehn Jahre lang nicht gesehen, doch als er ihren nackten, kalten, misshandelten Körper erblickt hatte, war es ihm so vorgekommen, als sei seit damals gar keine Zeit vergangen. Er erschauderte, starrte das Glas in seiner Hand an und trank einen großen Schluck Scotch. Ein Angstgefühl beschlich ihn, und ihm fiel ein, warum er sich überhaupt einen Drink eingegossen hatte. Wegen der Erinnerungen. Die Sache mit Ellie ließ ihn an Mandy denken.

Und an Lori Kelly. Corcoran. Sie hatte geheiratet. Das hatte ihr Bruder ihm schon vor Jahren erzählt, doch ihr Mann war ebenfalls schon vor Jahren gestorben, und sie hatte mit ihrem kleinen Jungen in New York gelebt. Gott segne sie, hatte er damals gedacht. Es gab so viele Arschlöcher auf der Welt, aber glücklicherweise auch ein paar Menschen vom Schlage Lori Kellys. Er war ihr immer sehr zugetan gewesen.

Bloß dass seine Verbitterung ihr gegenüber nach jenem Tag in der Kiesgrube aus irgendeinem Grund größer gewesen war als gegenüber den anderen. Arschlöcher waren eben Arschlöcher. Lori hätte …

Hätte was?

Sie hatte bei seinem Prozess ausgesagt. Mit leiser, entschlossener Stimme. Sie war loyal gewesen und hatte versucht, ihm ein gutes Zeugnis auszustellen. Doch der Staatsanwalt hatte sie in die Mangel genommen, als wäre sie die Angeklagte, und im Zeugenstand hatte sie nicht lügen können. Sie hatte zugegeben, dass Mandy es ziemlich toll getrieben hatte und dass es ganz natürlich gewesen wäre, wenn er vor Eifersucht ausgerastet wäre. Als alles vorüber gewesen war, hatten ihre Eltern ihr jeden Kontakt mit ihm untersagt, als sei er aussätzig oder als befürchteten sie, er würde sich wegen ihrer Aussage an ihr rächen. Seitdem hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen.

Wie lange das her war. Wie verdammt lange.

Sie sah noch genauso aus wie damals. War immer noch groß und schlank und von klassischer Schönheit mit ihren großen haselnussbraunen Augen und den langen, gewellten, rötlich blonden Haaren. Sie war immer seine Freundin gewesen, vom ersten Tag an, selbst als sie mit einem Typ aus dem Jachtclub gegangen war, während sich Sean bei Mandy die Hörner abgestoßen hatte. Mandy war gar nicht so übel gewesen. Sie hatte nur zu viel auf einmal gewollt. Er hatte sie gemocht, aber auf die Dauer hätte es nicht mit ihnen geklappt. Und er war nicht wütend auf sie gewesen – zwischen ihnen war es schon lange vor Mandys Tod aus gewesen.

Mandy hatte eine Leiter gebraucht, einen Typ, an dem sie hochklettern konnte. Sie wollte alles, was die Welt zu bieten hatte, und um es zu bekommen, war sie bereit, sich jedem an dem Hals zu werfen, mit jedem zu schlafen.

Lori war immer da gewesen – ein Freundin, ein Lichtstrahl, eine Verheißung. Er hatte nie etwas forcieren wollen, weil er meinte, ihre Beziehung sei etwas ganz Besonderes. Weil er den richtigen Zeitpunkt abwarten wollte.

Der nicht gekommen war.

Andererseits war Lori bei ihm gewesen, als er gelitten hatte. Sie hatte ihm die schlimmste Nacht seines Lebens erträglicher gemacht, trotz Brad, trotz ihrer Familie, allem, was dagegen gesprochen hätte, zum Trotz.

Doch sie war nicht lange genug bei ihm geblieben und hatte nicht hart genug gekämpft. Er hatte die Stadt verlassen, doch sie hätte ihn ausfindig machen, ihm schreiben, ihn anrufen können. Stattdessen war sie ebenfalls geflohen, und ihre Wege hatten sich getrennt.

» Auf dich, Lori Kelly!«, sagte er leise und hob sein Glas. Wie lange das her war. Und wie viele Frauen es seitdem in seinem Leben gegeben hatte! Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, ob das vielleicht an Lori lag und vielleicht auch an Mandy, ob seine Entschlossenheit, sich nicht auf eine feste Beziehung einzulassen, möglicherweise darauf zurückzuführen war.

Er trank einen weiteren Schluck Scotch. Großartig. Miami würde ihn noch zum Alkoholiker machen.

Doch die Situation hier war wirklich seltsam. Nein, das ganze Leben war verdammt seltsam. Mandy war schon seit langem tot. Jetzt war Ellie ebenfalls tot, und er war plötzlich wieder auf Lori gestoßen – buchstäblich.

Ein Kältegefühl überkam ihn, von einer Eisigkeit, wie er sie noch nie gespürt hatte. Er trank seinen Scotch aus. Blödsinn. Solche schlimmen Dinge passierten eben. In einer Stadt von dieser Größe passierten viele schlimme Dinge.

Nun werd nicht paranoid. Es gibt nichts, was du tun könntest, und niemand hat sich gegen dich verschworen, niemand. Ellie hat ein wildes Leben geführt, ist in Nachtclubs gegangen, war ständig auf Männersuche …

Genau. Und warum sollte Lori jetzt, da sie zurück war, nicht dasselbe tun? Nichts sprach dagegen, dass eine Witwe ab und zu ausging, um zu tanzen, mit Freunden etwas zu trinken, Musik zu hören.

Er fluchte ungehalten, stand auf und schenkte sich einen weiteren Scotch ein. Was zum Teufel war bloß mit ihm los? Ellie war ermordet worden, und vor fast fünfzehn Jahren war Mandy ermordet worden, angeblich von ihm. Wo war denn da der gemeinsame Nenner?

Er wusste natürlich, dass er überhaupt nicht in Mandys Nähe gewesen war, bis Andrew sie aus dem Wasser gezogen hatte.

Er hätte nicht in seine Heimatstadt zurückkehren sollen. Es führt kein Weg zurück. Jeder kannte diesen alten Spruch.

Trotzdem ging er zum Telefon auf dem Schreibtisch und wählte Rickys Privatnummer.

» Hallo?«, antwortete Ricky.

» Hier ist Sean. Lori Kelly ist in der Stadt.«

» Ach ja, hab ich schon gehört. Ihr Bruder Andrew sagte, dass sie zurückkommen wolle. Ihrem Großvater geht es nicht sonderlich gut.«

» Hast du ihre Telefonnummer?«

» Nein, aber die kann ich dir besorgen. Jan hat Brad geheiratet, weißt du. Sie sind zwar geschieden, aber immer noch befreundet, und Jan ist mit Lori in Kontakt geblieben, hat ihr hier ein Haus beschafft und so. Ich ruf dich zurück.«

» Gut.«

Sean legte den Hörer auf. Die Nachrichtensprecherin hatte sich inzwischen anderen Neuigkeiten zugewandt, die ähnlich dramatisch referiert wurden. Am Wochenende waren auch noch zwei weitere Menschen erschossen worden, außerdem hatte es einen tödlichen Verkehrsunfall gegeben.

Tragödien gehörten zum Leben. Jeden Tag hörte er entsetzliche Geschichten. Doch Ellie hatte er gekannt. Hatte sie als Kind gekannt, sie lachen, flirten, spielen, arbeiten sehen. Hatte es erlebt, wenn sie verletzt, verwirrt oder traurig gewesen war, hatte sie lächeln sehen. Und wenn man jemanden kannte und diesen Jemand dann tot und nackt auf einem Seziertisch aus rostfreiem Stahl liegen sah …

Und Lori Kelly war wieder in der Stadt.

Sie waren wieder alle zusammen. Schien es. Die Überlebenden.

Ricky Garcia behielt den Telefonhörer noch lange in der Hand. Ellie war tot. Lori Kelly war wieder in der Stadt und Sean Black war ebenfalls hier. Was für eine Heimkehr!

Er schüttelte den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Nachrichtensprecherin im Fernsehen zu. Hübsche Frau, aber melodramatisch bis zum Gehtnichtmehr. Wo war die simple, auf Tatsachen beschränkte Berichterstattung geblieben?

Nach kurzem Zögern stellte er den Ton an. Was sie wohl über den Mord zu sagen hatten? Die lokalen Medien neigten dazu, die Polizei unter Druck zu setzen. Als ob es in der Stadt nicht schon übel genug zuging. Überall Spinner, Dealer, Junkies, Banden, Mafiosi aus aller Herren Länder … und die Hälfte der Bevölkerung klagte ständig darüber, dass die Polizei ebenfalls nichts tauge. Korrupt sei. Quatsch. Die wussten überhaupt nicht, wovon sie redeten.

Er starrte die Nachrichtensprecherin an, die die entsetzlichen Geschehnisse zum zigsten Mal aufwärmte, um sich selbst einen Namen zu machen.

Die arme Ellie. Na schön, dann war sie eben ein ziemlich lockeres Frauenzimmer gewesen. Trotzdem …

Wie seltsam. Verdammt seltsam sogar. Wenn Ellie noch am Leben wäre, würden sie jetzt alle wieder da sein. Alle, die an jenem Tag dabei gewesen waren.

Ihm fiel ein, dass ihn Sean gebeten hatte, ihm Lori Kellys Telefonnummer zu besorgen. Er rief Brad Jackson an.

Was sie wohl in den Nachrichten sagen würden?

Der Mörder sah fern. Freude stieg in ihm auf, die fast so intensiv war wie die, die er bei der Jagd empfand …

Oder beim eigentlichen Akt.

Die Medien. Was für Idioten! Alles gaben sie preis. Absolut alles.

Jetzt würde sich ein halbes Dutzend Psychopathen zu dem Verbrechen bekennen, bis die beschränkten Bullen nicht mehr wussten, wo ihnen der Kopf stand.

Endlich verschwand die Nachrichtensprecherin vom Bildschirm, und ein weißhaariger Mann erschien, irgendein pensionierter Fatzke-Typ vom FBI. Er bezeichnete den Mord als typisches Sexualverbrechen und schärfte der weiblichen Bevölkerung ein, bei allem äußerst vorsichtig zu sein. Wenn solch ein Mord passierte, würden die Leute zu der Annahme neigen, er sei von einem Monster, einem Teufel mit sichtbaren Hörnern begangen worden.

Sexualverbrechen würden normalerweise von Männern begangen, die der gleichen Rasse angehörten wie ihre Opfer, Männern, die in der Regel zwischen Mitte zwanzig und Ende dreißig waren. Jüngere Männer verfügten gewöhnlich noch nicht über dieses Ausmaß an offener Brutalität, während ältere Männer sich normalerweise irgendwie selbst ein Bein stellten.

Darauf trink ich einen!, dachte er bei sich. Was er allerdings nicht tun würde.

Der Mann auf dem Bildschirm fuhr fort.

Solche Mörder seien oft Männer, denen Frauen auf Anhieb vertrauten.

Durchschnittliche Typen.

Durchschnittlich!

Er lächelte verkrampft.

Von wegen durchschnittlich!

Er hob sein Glas.

Und trank wieder auf sich selbst, rundum mit sich zufrieden. Bald würden sie erkennen, dass nichts Durchschnittliches an ihm war.

Er hörte, wie es an der Tür klopfte und sein Name gerufen wurde. Er lächelte. Sie war da. Er verstand es durchaus, sich durchschnittlich zu geben.

Doch nur ein Mann, der weit über dem Durchschnitt stand, konnte das so überzeugend wie er.

Jan Hunt stand auf Brads Türschwelle und blickte sich um, während sie wartete. Ringsum war es dunkel. Trotz der Laternen draußen auf der Straße war alles dunkel. In den Wohnvierteln von Coconut Grove konnte es nachts so dunkel sein wie in einem schwarzen Loch. Eine der Hauptattraktionen der Region war der üppige Pflanzenwuchs, für den sie normalerweise sehr viel übrig hatte. Bäume, Kletterpflanzen, Büsche, Blumen – obwohl sie ihr ganzes Leben in der Gegend verbracht hatte, kannte sie noch nicht einmal die Hälfte der Pflanzen- und Baumnamen. Trotzdem liebte sie das alles. Bloß nicht heute Nacht. Ellies Tod hatte sie zutiefst verstört. Als sie bei ihrem Kunden gewesen war, war in den Nachrichten gerade über den Mord berichtet worden. Beunruhigt hatte sie zu Hause angerufen, um festzustellen, dass Tina sicher angekommen, die Haustür abgeschlossen und die Alarmanlage eingeschaltet war. Dann hatte sie sich zu Brad aufgemacht.

Ohne vorher anzurufen, was dumm von ihr war. Sie hatten abgemacht, vorher immer beim anderen anzurufen. Es konnte sein, dass er gerade Besuch hatte. Und jetzt stand sie vor seiner Tür, mit einer Gänsehaut, weil sie sich vor der Dunkelheit ringsum fürchtete. Eine leichte Brise ging, und immer wenn ein Blatt raschelte, war sie davon überzeugt, dass ein mörderischer Irrer durchs Gebüsch schlich, sie beobachtete und im nächsten Augenblick über sie herfallen würde.

Die Haustür öffnete sich.

» Jan!«

» Hey!«, sagte sie nervös.

Brad war angezogen, konnte also nicht gerade mit jemandem im Bett gelegen haben. Er war leger mit Jeans und T-Shirt bekleidet, barfuß, das blonde Haar ordentlich gekämmt.

» Darf ich reinkommen?«, fragte sie.

» Ja, klar.« Er wich von der Tür zurück, und sie trat ins Haus.

Seine Wohnung war hübsch, aber schlicht eingerichtet. Das Haus war neueren Datums, nicht älter als fünfzehn Jahre alt. An den Wänden hingen ein paar moderne Gemälde, die Möbel bestanden aus Leder, Chrom und Glas. Die Fußböden waren gefliest, die Küche aufs Modernste ausgestattet, mit mehr Utensilien und Apparaturen, als Brad je benutzen würde. An sein riesiges Schlafzimmer schloss sich ein großes Bad mit Whirlpool an, umgeben von Glaswänden, die den Blick auf den üppig bewachsenen Garten hinter dem Haus freigaben. Es war die ideale Wohnung für einen geschiedenen, aufstrebenden Rechtsanwalt in den besten Jahren. Gut geeignet, für Frauenbesuche.

Was ziemlich absurd war, da sie ihm das Haus verkauft hatte.

» Ich hätte vorher anrufen sollen …«, begann sie.

» Ist schon okay«, erwiderte er und zuckte grinsend die Achseln. » Eigentlich freu ich mich, dich zu sehen. Im Augenblick gibt es in meinem Leben niemanden von Belang … ich nehme an, du hast auch schon gehört, was mit Ellie passiert ist. Seit ich es erfahren habe, habe ich einiges getrunken.«

Jan zog eine Augenbraue hoch. »Hattest du sie denn in der letzten Zeit gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein … Ich bin ihr in den vergangenen Jahren ab und zu mal begegnet. Vor etwa fünf Jahren hatte sie ein Techtelmechtel mit einem Typ aus meinem Büro. Es ist nur … besonders schrecklich, finde ich, wenn etwas so Entsetzliches jemandem passiert, den man gekannt hat …«

» Ich weiß. Richtig gruselig ist das. Ich denke ständig darüber nach, was geschehen ist, wie sie den Kerl kennen gelernt hat und so …« Sie erschauderte.

» Deshalb bist du zu mir gekommen?«

» Ja.«

» Weil du Angst hast?«

» Schon möglich.«

» Ah. Dir steht also der Sinn nach einem Mann, aber es wäre dir zu gefährlich, einen aufregenden neuen Typ kennen zu lernen. Deshalb greifst du auf den altbewährten Langweiler zurück, weil das sicher ist, ja?«

Jan stemmte die Hände in die Hüften. »Leck mich doch.«

Er grinste. »Wenn du möchtest.«

Sie wollte aufbrausen, begnügte sich aber damit, die Hände aufgebracht in die Höhe zu werfen. Sie senkte betrübt den Blick, um anschließend wieder Brad anzustarren. »Ich habe nie gesagt, dass du ein Langweiler bist. Ganz im Gegenteil. Eher fand ich dich immer zu quirlig.«

Er sah sie einen Moment lang an.

Dann nickte er und lächelte. »Ich freu mich, dich zu sehen«, gab er zu. »Obwohl du mir letzte Woche eine Szene gemacht hast.«

» Weil du dich geweigert hast, Geld für Tinas Exkursion rauszurücken. Und diese Sache, die sie im Rahmen des Kunstunterrichts machen wollen, kostet fast hundert Dollar!«

» Ich war mir nicht sicher, ob ich möchte, dass meine dreizehnjährige Tochter an einer Wochenendexkursion teilnimmt! «, erwiderte er. »Wo ist sie überhaupt?«

» Zu Hause, hinter fest verschlossenen Türen. Ich sollte eigentlich bei ihr sein. Also kann ich nicht lange bleiben …«

» Sehr wohl, gnädige Frau, Sie werden sofort bestiegen. Wenn Sie wünschen, in aller Eile.«

Sie ging ins Schlafzimmer und zog sich aus. Der Raum war dunkel, doch sie war mit der Anordnung der Möbel vertraut. Brad schaltete kein Licht an. Nackt umschlang er sie von hinten, und als sie zusammen aufs Bett fielen, spürte sie, dass er schon erregt war.

Sie war froh über die Dunkelheit, da die Gefühle, die während ihres Liebesspiels auf sie einstürmten, sie verwirrten. Es war merkwürdig, dass die schreckliche Mordgeschichte das Bedürfnis in ihr geweckt hatte, Brad zu sehen, nicht nur um mit ihm zu reden, sondern um sexuell mit ihm zusammen zu sein. Und irgendwie noch beunruhigender war es heute Abend, von neuem demonstriert zu bekommen, was für ein ausgezeichneter Liebhaber er war. Als sie kam, traten ihr Tränen in die Augen, weil sie an die Träume denken musste, die sie früher einmal, in jungen Jahren gehabt hatte. Doch diese Träume hatten sich nicht erfüllt. Manchmal schaffte sie es immerhin, so zu tun, als ob …

Er setzte sein Liebesspiel fort. Bei ihm war es noch nicht ganz so weit.

» Erzähl mir was«, flüsterte er.

Sie wusste, was er wollte. Seine Lieblingsfantasie war, mit zwei Frauen zusammen zu sein. Er liebte es, zu hören, was sie mit einer anderen Frau machen würde, während er bestimmte Dinge mit ihr machte …

Manchmal war sie imstande, sich auf dieses Spielchen einzulassen, manchmal auch nicht.

Plötzlich wünschte sie, ihre Armbanduhr zu sehen. Er war zwar ein guter Liebhaber, doch auf einmal machte sie sich Sorgen. Sie sollte eigentlich zu Hause sein. Aber sie konnte nicht so unhöflich sein, das einfach zu sagen. Sie hatte bekommen, weswegen sie hergekommen war, während er bisher leer ausgegangen war. Deshalb fing sie an zu erzählen, auszumalen, was er hören wollte.

Und es klappte bestens. Seine zunehmende Erregung törnte sie mehr an, als sie für möglich gehalten hätte, sodass sie schließlich geradezu explosiv gemeinsam zum Höhepunkt kamen. Danach legte er sich neben sie und streichelte ihr das Haar.

» Zu schade, dass du nie bereit warst, das Ganze in die Tat umzusetzen. Wenigstens einmal«, sagte er. »Auf diese Weise hätten sich vielleicht ein paar schlimme Dinge vermeiden lassen.«

Einen Moment lang verspürte sie eine seltsame kalte Angst in sich.

» Zum Beispiel?«, flüsterte sie.

» Unsere Scheidung.«

Er drehte sich ihr zu und versuchte, wie sie merkte, ihr Gesicht besser zu erkennen. »Natürlich könnten wir es immer noch tun.«

» Was?«, entgegnete sie verärgert. »Brad, wir sind geschieden. Du kannst machen, wonach dir der Sinn steht. Außerdem verdienst du jede Menge Kies. Wenn du wolltest, könntest du fünf Frauen auf einmal anheuern.«

Undeutlich sah sie, wie er den Kopf schüttelte. »Ich will aber dich und eine andere Frau.«

» Du bist ja pervers.«

» Nicht mehr als jeder andere heißblütige amerikanische Mann.«

» Du bist grausam zu mir.«

» Ich mache dir ein Kompliment! Ich will dich und eine andere Frau.«

Sie schüttelte ungehalten den Kopf, als habe sie es mit einem Kind zu tun. Dann strich sie ihm über sein schönes blondes Haar. »Ich muss gehen.«

» Denk noch mal drüber nach. Nur ich und du und eine andere tolle Frau. Nur einmal. Demnächst habe ich Geburtstag.«

Sie gab ihm einen Klaps auf die Wange. »Perversling!«

» Hey, meine frühere Freundin ist ja wieder in der Stadt. Du und Lori Kelly. Das wär doch was.«

» Lori Kelly war offenbar schon auf der Highschool klug genug, zu bemerken, was du für ein Perversling bist. Und verkneif dir solche Fantasien über meine Freundinnen. Da wird mir ganz unbehaglich.«

» Das ist eine ganz tolle Fantasie.«

» Brad …«

» Okay, okay. Aber ich behalt sie im Hinterkopf.«

» Na großartig. Jetzt werde ich mich immer, wenn wir zusammen sind, unbehaglich fühlen.«

» Hey, das ist doch Unsinn. Und weißt du, warum?«, sagte er leise.

» Na?«

» Weil ich dich nämlich liebe.«

Sie lächelte. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Das war schön. »Ich muss los«, sagte sie betrübt.

» Ich ruf Tina an, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Dann kannst du ein bisschen länger bleiben. Hinterher folge ich dir mit dem Auto, bis du zu Hause bist. Was hältst du davon?«

» Viel. Danke, Brad.«

Sie sah zu, wie er ihre Tochter anrief, mit ihr redete und sie schwören ließ, dass die Tür richtig verschlossen und die Alarmanlage eingeschaltet war. Dann legte er auf, stellte den Fernseher an und ging aus dem Zimmer, um für Jan und sich einen Drink zu holen.

Sie starrte auf den Bildschirm. Gerade wurden in den Spätnachrichten die Neuigkeiten des Tages wieder aufgewärmt. Über Ellie.

» Stell bitte einen anderen Sender an«, sagte sie, als Brad zurückkam und ihr einen Drink reichte.

Rasch schaltete er auf den Playboy-Kanal um. Genervt stöhnte Jan auf, als eine Sexszene mit zwei Frauen und einem Mann auf dem Bildschirm erschien.

» Ich bin also ein Perversling, wie?«

» Ja«, sagte sie steif.

» Ach, nun komm, sieh einfach zu«, erwiderte er.

Ein paar Minuten später liebte er sie von neuem. Als es vorüber war, flüsterte er: »Wir Perverslinge brauchen unsere Kicks. Nur einmal, Jan. Zu meinem Geburtstag.«

Sie drehte sich von ihm weg und zog sich die Bettdecke über den Kopf. »Du willst, dass ich losziehe und irgendein Mädchen aufgabele?«

» Klar. Ich kann sie aber auch für dich aufgabeln. Oder dich in die Lokale mitnehmen, wo du von einer Frau angemacht werden würdest.«

» Perversling!«, sagte sie. »Überleg doch mal! Was würdest du tun, wenn eine Frau deine Tochter anmachen würde?«

Er schwieg.

» Na?«

» Die Frau umbringen.«

» Du könntest niemanden umbringen.«

» Doch, ich glaube, das könnte ich.«

Unheilvolle Schönheit

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