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Ingeborg I.

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Als mein Vater den Hof in Martfeld verlassen musste, bekam er eine Anstellung bei der Regierung von Niedersachsen. Damals sollten die Flüchtlinge, die aus der ehemaligen DDR kamen, in der Lüneburger Heide angesiedelt werden. Öde Gebiete der Lüneburger Heide sollten urbar gemacht werden. Hier konnten sich die aus der DDR geflüchteten Bauern ein neues Leben aufbauen.

Mein Vater stand ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Finanzamt, Steuern, Abrechnungen, Buchführung, Banken, Darlehen, staatliche Unterstützungen, Einkauf technischer Hilfsmittel, Urbanisierung, Anbau von landwirtschaftlichen Produkten, Absatzmärkte, alles das waren seine Fachbereiche. Er war mit Herz und Seele Bauer. Er hatte eine landwirtschaftliche Fachschule besucht. Er hatte eine jahrzehntelange Berufserfahrung und ein glühendes Engagement.

Als mein Vater den Hof in Martfeld verlassen musste, wohnte er zuerst in einem möblierten Zimmer. Das war zu primitiv für einen alleinstehenden Mann über Fünfzig. Er zog in ein Hotel um. Hier bezahlte er für eine Vollpension.

Er aß jeden Tag in der Gaststube. Das Essen war gut und reichlich. Seine Bekannten und Freunde traf er in der Gaststube. Seine schriftlichen Arbeiten erledigte er in der Gaststube. Seine geschäftlichen Besprechungen hatte er in der Gaststube. Dabei wurde gegessen und getrunken, gedankenlos, aus reiner Gewohnheit oder als gesellschaftliche Verpflichtung und Höflichkeit. Mein Vater wurde dick und dicker. Er kränkelte. Mal hatte er dies, mal hatte er jenes. Er sah aufgeblasen, blass und ungesund aus.

Sein Leben lang hatte er auf dem Hof körperlich schwer gearbeitet. Jetzt hatte er nur noch Papierarbeit. Sport als Freizeitbeschäftigung hatte er nie gekannt. Mit so etwas beschäftigte sich früher kein Bauer. Mein Vater musste lernen umzudenken, er musste seinen neuen Lebensstil intellektuell aufarbeiten. Im Hotel und in der Gaststube hatte er kein langes Leben vor sich. Welche Alternative hatte er? Er hatte in seinem ganzen Leben niemals einen eigenen Haushalt geführt. Er hatte niemals sein eigenes Essen gekocht. Das war für ihn Frauenarbeit. Also musste er heiraten. Nur so konnte er sich ein neues Zuhause aufbauen.

In all den Jahren, wo ich von meiner Mutter weggelaufen und zu meinem Vater gefahren bin, hatte ich ein gutes Verhältnis zu meinem Vater bekommen. Als mein Vater wieder heiraten wollte, bat er mich um Rat und Hilfe.

Über eine Heiratsvermittlung wurde ihm der Kontakt mit Frauen vermittelt. Auf dem ersten Treffen mit diesen Frauen hat er mich mitgenommen. Ich sollte meine Meinung äußern.

Alle Frauen, die ich kennen lernte, waren reizend. Ich habe mich großartig mit ihnen verstanden. Von einigen wurde ich wie eine Tochter behandelt.

Meine Lobreden über diese Frauen haben meinen Vater nicht beeinflussen können. Mein Vater hatte seine eigenen Vorstellungen und Wünsche.

Bei der einen Frau wohnten die ehemaligen Schwiegereltern im Haus nebenan. Das war zu nahe, das konnte nicht gut gehen.

Eine Frau war Rechtsanwältin. Mein Vater hatte Angst, sie könnte schlauer sein als er, sie könnte ihn übers Ohr hauen.

Eine Frau hatte zwei Söhne. Mein Vater war so hässlich von den Kindern seiner zweiten Frau behandelt worden, dass er keine Frau mit Kindern haben wollte.

Andere Frauen waren zu fromm oder spleenig oder kindisch oder sonst was.

Dann hörte ich lange Zeit nichts von ihm, bis der Bescheid kam, er wäre wieder verheiratet. Nach der Hochzeit wurde ich nach Bremen eingeladen. Ich wurde nicht um meine Meinung gefragt. Ich bekam keine Erklärung.

Die Frau war vierundfünfzig Jahre alt. Sie war nie verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Sie arbeitete bei Siemens in Bremen. Sie war frigide, besser gesagt, eiskalt und kurz angebunden. Ich wurde schnell wieder rausgeschmissen. Ich sollte alleine einen Bus finden und zum Bahnhof fahren.

Mein Vater war verändert. Früher war er mir gegenüber offen und führsorglich. Jetzt existierte ich nicht mehr. Das schmerzte. Mein Vater war der letzte Halt, den ich in meinem Leben hatte.

Warum er diese Frau geheiratet hat, habe ich erst viel später begreifen können.

Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens

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